DENKEN
UND
WIRKLICHKEIT.
VERSUCH EINER ERNEUERUNG DER KRITISCHEN PHILOSOPHIE,
AFRIKAN SPI R.
ERSTER BAND.
DAS UNBEDINGTE.
ZWEITE, UMGEARBEITETE AUFLAGE .
LEIPZIG.
J.G.FINDEL
1877. 


1

EINLEITUNG.

Seit Kant ist die Unterscheidung der dogmatischen und
der kritischen Richtung in der Philosophie Allen geläufig geworden.
Der Dogmatiker will über die Gegenstände der Er
kenntniss entscheiden, ohne vorher das Erkenntnissvermögen
selbst, dessen Natur, dessen Gesetze und Grenzen untersucht
und festgestellt zu haben. Dagegen macht sich der kritische
Philosoph gerade diese letztere Untersuchung zur ersten und
hauptsächlichsten Aufgabe. Man muss freilich bemerken,
dass der Dogmatismus eigentlich nur in denjenigen Lehren
angetroffen wird, welche über die Grenzen der Erfahrung
hinausgehen wollen. Denn es konnte weder Kant noch irgend
einem anderen vernünftigen Menschen je einfallen, zu fordern,
dass auch die erfahrungsmässige Forschung so lange nicht in
Angriff genommen werden solle, als bis die Lehre vondem
Erkennen selbst ihrer definitiven Constituirung entgegengeführt
sei ; sonst würden wir bis jetzt noch gar keine Wissenschaft
haben, da die Erkenntnisstheorie von ihrer definitiven Feststellung
und Gestaltung immer noch weit entfernt ist. Einen
Dogmatismus gibt es also nur in der Metaphysik. *) Der
_______
*) Ich verstehe hier die Metaphysik bloss im deutschen Sinne dieses
Wortes. In England nennt man Metaphysics auch die Erkenntnisstheorie
oder einen Zweig derselben. Ich bemerke ausdrücklich, dass ich mit dem
Worte "metaphysisch" ausschliesslich nur dasjenige bezeichne, was sich
au i das Unbedingte bezieht.


2
Einleitung.

Metaphysiker will das jenseit aller Erfahrung Liegende ergründen,
ohne sich zuvor vergewissert zu haben, dass ein
solches Wissen überhaupt möglich sei und welche Beglaubigung
dasselbe haben könne. Der Unterschied der kritischen und
der metaphysischen Philosophie kann, wie ich glaube, in Kürze
so angegeben werden : Die Metaphysik will die Lehre von dem .
Unbedingten selbst sein ; dagegen kann die kritische Philosophie,
soweit sich dieselbe auch über die Erfahrung erhebt,
nichts Anderes sein, als die Lehre von dem des U
Begriffe n-bedingten,vondemUrsprung,derBedeutungundderobjectiven
Gültigkeit dieses Begriffs.
Die Metaphysiker haben über das Absolute, das jenseit
aller Erfahrung Liegende Behauptungen mit anerkennenswerther
Zuversicht aufgestellt und »Definitionen mit grosser Kraft ge
geben« ; aber man hat jetzt schon ziemlich allgemein eingesehen
, dass die Lehren der Metaphysiker sämmtlich blosse
Hypothesen sind. Obgleich die Kritik der metaphysischen Lehren .,
welche Kant gegeben hat, nicht genügend ist, weil die positiven
Grundlagen, auf welchen dieselbe beruht, noch selbst zu wenig
ausgearbeitet und festgestellt waren, so kann man doch das
negative Resultat, zu welchem Kant in Hinsicht der metaphysischen
Lehren gelangt war , als feststehend betrachten. Alle
Metaphysik besteht thatsächlich aus Hypothesen, aus blossen
Vermuthungen, was schon aus ihrer Verschiedenheit und ihrem
gegenseitigen Widerspruch erhellt. Man will nun schlechterdings
nicht begreifen, dass das Aufstellen von Hypothesen über
dasjenige, was jenseit aller Erfahrung liegt, ein vollkommen
müssiges Geschäft ist. Und doch ist es klar, dass solche
Hypothesen keine Verification zulassen, also von vornherein
dazu verurtheilt sind, ewig und immer im Zustande blosser
Hypothesen zu bleiben, ohne je einen Grund auftreiben zu
können, welcher denselben auch nur den schwächsten Anstrich
von Wahrscheinlichkeit zu verleihen im Stande wäre. Gegen
den Gebrauch von Hypothesen in der Metaphysik hat sich
daher Kant mit Entschiedenheit und klarer Einsicht ausge-



3
Einleitung.

sprochen. Ich führe nur die folgenden Stellen aus seinen
Schriften an : »Die Behauptung der Metaphysiker muss Wissenschaft
sein, oder sie ist überall gar nichts.« »Eine transcendentale
Hypothese, bei der eine blosse Idee der Vernunft zur Erklärung
der Naturdinge gebraucht würde, würde gar keine
Erklärung sein, indem das , was man aus bekannten empirischen
Principien nicht hinreichend versteht, durch etwas er
klärt werden würde, davon man gar nichts versteht.« »Ausser
diesem Felde (d. h. dem der Erfahrung] ist meinen so viel,
als mit Gedanken spielen« . »Meinen findet in Urtheilen a
priori gar nicht statt, sondern man erkennt durch sie entweder
etwas als ganz gewiss, oder gar nichts. Wenn aber
auch die gegebenen Beweisgründe, von denen wir ausgehen,
empirisch sind, so kann man mit diesen doch über die Sinnenwelt
hinaus nichts meinen, und solchen gewagten Urtheilen
den mindesten Anspruch auf Wahrscheinlichkeit zugestehen .
Denn Wahrscheinlichkeit ist ein Theil einer, in einer gewissen
Reihe der Gründe möglichen Gewissheit u. s . w.«
Wenn ein Astronom über die Mars- und Jupiterbewohner,
über deren Sitten, Lebensgewohnheiten, sociale und politische
Einrichtungen Hypothesen aufstellen wollte, so würden Alle
dieses für einen blossen Scherz und einen müssigen Zeitvertreib
halten ; dagegen wird die Metaphysik noch immer von
Vielen für eine wirkliche und erhabene Wissenschaft gehalten .
Allein wer hat denn günstigere Bedingungen und bessere
Gründe für sich, der muthmassende Astronom oder der muthmassende
Metaphysiker? Die Mars- und Jupiterbewohner
können zwar nie in den Bereich unserer Erfahrung kommen,
aber sie liegen doch wenigstens - falls sie existiren - in
dem Gebiete der Erfahrung überhaupt; so hat der muthmassende
Astronom wenigstens den entfernten Schein der Berechtigung,
von den Zuständen bei uns auf die dort befindlichen
Zustände zu schliessen und seiner Phantasie einigen
Spielraum zu gönnen. Welche Anhaltepunkte hat aber der
Metaphysiker, der die Erfahrung ganz und gar überflügeln 



4
Einleitung.

will, also auch alle Analogien der Erfahrung hinter sich zurücklassen
soll? Der ganze Kunstgriff der Metaphysiker besteht
indessen gerade darin, die gemeine Erfahrung in die Regionen
des Absoluten zu versetzen. Ich muss gestehen, dass ich die
metaphysische Richtung in der Philosophie für eine Art geistiger
Krankheit halte, welche nicht durch Argumente zu beseitigen
ist. Denn was können rgumente bei Menschen ausrichten,
welche sehr gut sehen, wie in allen Zweigen der
Wissenschaft wirkliche Erkenntnisse erworben werden und
trotzdem im Ernste glauben, dass auf dem von den Metaphysikern
eingeschlagenen Wege auch nur ein Atom wirklichen
Wissens gewonnen werden könne? Wegen dieser fundamentalen
Grundlosigkeit und Unwissenschaftlichkeit des metaphysischen
Philosophirens werde ich mich nicht mit der ausführlichen
Kritik aller der Systeme befassen, deren es bekanntlich
eine so grosse Menge gibt . Ich werde mich damit begnügen,
einige derselben zu prüfen und die Unmöglichkeit einer Metaphysik
im Allgemeinen darzuthun. In dem vorliegenden Bande
hoffe ich nachzuweisen, dass wir einen Begriff von dem Unbedingten
haben, dessen objective Gültigkeit durch die Thatsachen
selbst verbürgt ist ; dass aber auf diesem Begriffe sich
keine Wissenschaft des Unbedingten, keine Metaphysik errichten
lässt, sondern dass derselbe nur dazu dienen kann, für
die Betrachtung der erfahrungsmässigen Wirklichkeit selbst
einen höheren Standpunkt zu gewinnen.
Die kritische Richtung ist in der Philosophie die einzige
berechtigte und wissenschaftliche ; ich werde daher nur die
Werke und Lehren der kritischen Philosophen in Betracht
ziehen. Aber auch die Denker, welche dem Kriticismus huldigen,
zerfallen, wie man weiss , in zwei grosse Lager oder
Parteien, nämlich in diejenigen, welche keine andere Quelle
der Erkenntniss als die Erfahrung zugeben und anerkennen,
und in diejenigen, welche glauben, dass es Erkenntnissgründe,
Erkenntnissgesetze oder Erkenntnisselemente gebe, die nicht
der Erfahrung entstammen und die man als Erkenntnissele-



5
Einleitung.

mente a priori bezeichnet. Die Ersteren leiten alle Erkenntniss
von den erkannten Gegenständen ab ; die Letzteren behaupten,
dass es Einsichten gebe, welche sich durch einen
eigenthümlichen Charakter unterscheiden , der keiner aus der
Erfahrung entstandenen Erkenntniss eigen sein kann. Sie
erinnern daran, dass keine Erkenntniss ohne Mitwirkung des
erkennenden Subjects zu Stande kommen kann und dass das
Subject von Hause aus zu dieser seinen erkennenden Function
wenigstens ebenso weit eingerichtet sein muss, wie eine
Mühle zu ihrer Verrichtung des Mahlens oder wie der Magen
zu seiner Verrichtung des Verdauens.
Die ersteren Denker nennt man gewöhnlich Empiristen ;
für die anderen aber, für die Anhänger des Apriori, hat man
bis jetzt noch eigentlich keine passende Bezeichnung gefunden.
In England nennt man sie Transcendentalisten ; allein dieser
Ausdruck hat, ausser seiner Schwerfälligkeit, noch den Nachtheil,
dass »transcendental« leicht mit »transcendent« verwechselt
werden kann, was zu Missverständnissen führt.*)
Kant hat zur Bezeichnung derjenigen, welche Erkenntnisselemente
a priori annehmen, das Wort Noologisten gebraucht,
dessen ich mich auch, in Ermangelung eines besseren, nöthigenfalls
bedienen werde.
In Deutschland hat es nun, so viel ich weiss, wenigstens
unter den Philosophen, noch nie einen klaren und mit sich
consistenten Empiristen gegeben. Wer hier die Erfahrung als
die einzige Quelle der Erkenntniss proclamirt, der stürzt sich
sofort in eine-Metaphysik, gewöhnlich in die materialistische
Metaphysik. Ausser den Materialisten hat noch Herbart eine
Metaphysik auf die Erfahrung zu begründen versucht. Unter
ausdrücklicher Verwerfung aller und jeder nichtempirischen
_______
*) Die in Deutschland manchmal gebrauchte Bezeichnung Rationalisten
ist noch weniger passend, denn unter Rationalismus versteht man
hauptsächlich eine gewisse Richtung in der Theologie, welche mit jener
Richtung in der Philosophie nichts Gemeinsames hat.



6
Einleitung.

Erkenntnissquelle hat er einen Begriff von »einfachen Realen«
aufgestellt, welcher indessen nach ihm mit den Ergebnissen der
Erfahrung durchweg im Widerspruche steht. Daher machte
es Herbart zur ersten und hauptsächlichen Aufgabe der Philosophie,
die Ergebnisse der Erfahrung so lange zu berichtigen,
bis sie mit jenem Begriffe in Einklang gebracht waren . Es
ist ihm niemals eingefallen, sich zu fragen, aus welcher Erfahrung
er jenen Begriff des »einfachen Realen« selbst geschöpft
haben konnte, da ja nach seiner Ansicht die
sämmt-iche ErfahrungmitjenemBegriffenichtübereinstimmtund
gerade wegen dieser Nichtübereinstimmung einer Berichtigung
bedarf. Es ist nun einmal das Gebrechen einiger Philosophen,
dass sie zwar mit der grössten Feinheit mikroskopische Infusionsthierchen
verfolgen können, aber zugleich einen daneben
stehenden Elephanten ganz übersehen. - In neuerer Zeit gibt
es auch einige, nicht geradezu materialistische oder herbartianische
Schriftsteller, welche dem Empirismus zu huldigen
vorgeben ; aber es herrscht leider bei denselben eine solche
Unklarheit des Denkens, dass man kaum glauben kann, dass
sie selber wissen, was sie eigentlich denken und wollen. Nein,
Deutschland ist gewiss nicht das Land des philosophischen
Empirismus. Dagegen hat es in England schon seit langer
Zeit eine Reihe ausgezeichneter Denker gegeben, welche sich
zu dem Empirismus oder dem Sensualismus -- denn der consequente
Empirismus besteht eben darin, Alles aus dem Gegebenen,
also vor allen Dingen aus den Empfindungen, den
Sensationen abzuleiten und zu erklären - bekannt und dessen
Grundsätze mit einer Vorsicht, einem Scharfsinn und einem
wissenschaftlichen Ernst entwickelt und verfochten haben,
welche die höchste Anerkennung verdienen .
Ich muss zwar gleich hier schon sagen, dass nach meiner
Ansicht der Empirismus auf einseitigen und irrthümlichen
Voraussetzungen beruht . Durch die Irrthümlichkeit ihrer
Vor-aussetzungenwerdendieEmpiristennothwendigzumanchen
gezwungenen Erklärungen der Thatsachen und zu Wider-



7
Einleitung.

sprüchen mit sich selbst geführt, wie ich es in dem gegenwärtigen
Werke zur Genüge hoffe nachweisen zu können . Aber
es ist nicht zu leugnen, dass der Empirismus eine irrthümliche
Anschauungsweise von der Art ist, dass in dieselbe ganz
gewissenhafte und scharfsinnige Denker naturgemäss verfallen
können. Ja, man darf sagen, dass so lange die Lehre von
den apriorischen Elementen und Bedingungen des Erkennens
nicht auf wissenschaftlicher Grundlage festgesetzt ist, der
Empirismus eigentlich die einzige berechtigte Voraussetzung
ist. Man müsste denn sein Urtheil in diesen Sachen ganz
suspendiren, indem man zwar einsieht, wo das Richtige nicht
ist, aber nicht, wo dasselbe ist und wie es bewiesen werden
kann . Allein obgleich dieser Standpunkt der Unentschiedenheit
an und für sich eine höhere Stufe des Bewusstseins, als
jede entschiedene Einseitigkeit bilden würde, so könnte er
doch für die Förderung der Wissenschaft nicht gerade günstig
sein ,3 ausser insofern man dadurch veranlasst wäre, nach positiven
Ergebnissen zu suchen. Praktisch gestaltet sich die
Sache indessen gewöhnlich so, dass die verschiedenen Denker
schon im Voraus, ehe noch der fragliche Punkt festgestellt
ist ; ihren Entschluss pro oder contra fassen ; und man kann
nicht leugnen, dass das Verfahren der Empiristen dabei einen
mehr wissenschaftlichen Charakter trägt, als dasjenige ihrer
Gegner. Da der Empirismus natürlich auch eine vollkommen
richtige Seite hat, indem alle Erkenntniss einerseits eben auch
aus Erfahrung geschöpft wird, so haben die Bemühungen der
Empiristen einen wirklichen, positiven Gewinn für die Wissenschaft,
namentlich für die empirische Psychologie und Erkennt
nisslehre errungen . Hier erinnere ich nur an den sehr sinnreichen
Gebrauch, welchen die neueren englischen Psychologen
von der Association der Vorstellungen zur Erklärung
mancher Thatsachen des Erkennens oder des Bewusstseins
machen. Auch der entgegenstehenden Lehre des Noologismus
oder des Apriori haben dieselben einen grossen Dienst geleistet,
indem sie zeigen , wie unberechtigt und unkritisch das



8
Einleitung.

Verfahren sei, Begriffe und Erkenntnisselemente a priori aus
keinem besseren Grunde anzunehmen, als weil man ohne dieselben
gewisse Thatsachen des Erkennens nicht glaubt erklären
zu können, oder wie dies gewöhnlich ausgedrückt:
wird, »weil Erfahrung ohne dieselben nicht möglich gewesen
wäre «. Es wird gezeigt, dass das Kriterium der Nothwendigkeit,
nach welchem man die Einsichten a priori von den erfahrungsmässigen
unterscheiden zu können meint, ein gar
trügliches Kriterium, dass die Association der Vorstellungen
oder die Gewohnheit des Denkens vollkommen im Stande ist,
uns Manches als nothwendig erscheinen zu lassen, was gleich
den nichtnothwendigen Erkenntnissen aus Erfahrung genommen
ist. - Es gibt zwar wirklich Erkenntnisselemente apriori,
welche aus der Erfahrung nicht abgeleitet werden können ;
und indem die Empiristen dennoch auf dieser Ableitung beharren,
gerathen sie in Widersprüche, - allein dieses benimmt
keineswegs ihrer Kritik des Verfahrens der Noologisten
Kraft und Berechtigung. Diese letztere Lehre muss eben
auf ganz anderen Grundlagen, als welche bisher gebräuchlich
gewesen, errichtet werden .*)
Ihrer Vorzüge wegen werde ich die Lehren und Schriften
_______
*) Wie schwach und ungenügend die bisherige Auffassung des Apriori
war, zeigt wohl am besten die gegenwärtig immer weiter gehende Ausbreitung
der zuerst von Herbert Spencer aufgestellten Ansicht, dass wir
zwar wirklich Erkenntnisselemente a priori besitzen, dass aber dieselben
ihren Ursprung in den Erfahrungen unserer Vorfahren haben, die wir
von diesen mit unserer leiblichen Organisation geerbt haben. Diese Ansicht
ist bedingt durch ein völliges Missverstehen des Wesens selbst von
Erkenntnisselementen a priori, welche nur dann mit Recht angenommen
werden dürfen, wenn sie schlechterdings nicht in dem Inhalte der Erfahrung
angetroffen, mithin aus keiner Erfahrung abgeleitet werden können.
Dies wird im Verlaufe des vorliegenden Werkes sich ganz klar herausstellen.
Ueberhaupt ist die gegenwärtig mit grosser Vorliebe gehegte
Ansicht, das Apriorische des Erkennens sei eine Folge unserer leiblichen,
oder genauer cerebralen Organisation, sehr sonderbar. Denn die leibliche
Organisation kann wohl die physischen Antecedentien (die Ursachen), nicht



9
Einleitung.

der Empiristen, und besonders diejenigen von Stuart Mill,
den ich für den bedeutendsten Repräsentanten des Empirismus
in unserer Zeit halte, sorgfältig in Betracht ziehen, Ton
den Noologisten aber oder den Anhängern des Apriori werde
ich hauptsächlich oder fast ausschliesslich Kant berücksichtigen.
Denn diese Lehre hat seit Kant keinen Fortschritt,
wohl aber manchen Rückschritt gemacht.
Ein entschiedener Rückschritt ist es z. B., wenn man
nach Erkenntnisselementen a priori aufs Gerathewohl sucht,
indem man das vermeintliche Kriterium dazu gebraucht, dass
dasjenige, was nothwendig gedacht werden muss, dessen Gegentheil
nicht denkbar ist, eine in der Natur des Subjects begründete,
apriorische Einsicht sei. Was für ein schwaches
Kriterium diese Nothwendigkeit ist, das haben, wie schon
erwähnt, die Empiristen sehr gut dargethan. Man kommt
auf diesem Wege dahin, die Gewohnheiten seines Denkens
für constitutive Gesetze desselben und für Einsichten a priori
zu halten. Allein selbst eine wirkliche Einsicht a priori würde,
wenn auf solche Weise aufgefunden, vollkommen nutzlos sein.
Denn aus dem Zusammenhange des Denkens herausgerissen,
kann dieselbe nicht als ein Princip der Erkenntniss gebraucht
werden , weil ihr alsdann sowohl die nöthige Beglaubigung
mangelt, als auch die nöthige Lage, um sich in Ansehung
anderer Erkenntnisse, deren Zusammenhang mit derselben man
dann eben nicht kennt, fruchtbar zu erweisen.
Einen entschiedenen Rückschritt bedeutet auch die neuerdings
so oft ausgesprochene Behauptung, dass wir a priori
die Dinge gerade so erkennen, wie sie in Wirklichkeit sind.
»Obgleich die Erkenntniss der äusseren Dinge im Raume «,
_______
aber die logischen Antecedentien (die Principien) des Erkennens enthalten.
Ein Princip oder ein Gesetz des Erkennens ist die innere Disposition, etwas
von Gegenständen zu glauben, und eine solche kann nie ein Erzeugniss
physischer Ursachen sein, mit denen sie ihrer Natur nach nichts Gemeinsames
hat. Den radicalen Unterschied des Logischen von dem Physischen
werde ich bald unten ausführlich zu beleuchten suchen.



10
Einleitung.

sagt man, »auf apriorischen, subjectiven Bedingungen beruht,
so folgt daraus doch nicht, dass dieselbe nur subjectiv sei.
Sie ist vielmehr zugleich subjectiv und objectiv. Die aus subjectiven
Gründen in uns entstehende Anschauung der Dinge
im Raume kann genau der wirklichen Beschaffenheit derselben
ausser uns entsprechen.« Man beruft sich dabei auf den Umstand,
dass Kant zwar überall die Unmöglichkeit einer solchen
Uebereinstimmung zwischen den subjectiven Bedingungen
und den äusseren Dingen vorausgesetzt und behauptet, aber
nirgends bewiesen habe . Kant hat dieselbe in der That nicht
bewiesen, weil er sie für selbstverständlich hielt.*) Man sollte
denn doch bedenken, dass wir die äusseren Dinge als Gegenstände
erkennen, welche ganz unabhängig von uns und unserer
Erkenntniss, an sich ausserhalb aller Beziehung zu unserer
Erfahrung existiren. Ständen nun die erkannten Dinge ihrer
Natur nach wirklich ausser aller Beziehung zu uns, wie könnte
es dann kommen, dass wir trotzdem von Hause aus auf die
Erkenntniss derselben eingerichtet wären? Man müsste dann,
wie Descartes und Leibniz, einen Gott voraussetzen, welcher
unser Erkenntnissvermögen und die äusseren Gegenstände aneinanderpasst,
die einander an sich fremden und ganz gleichgültigen
Dinge äusserlich in eine vorherbestimmte Beziehung
zu einander setzt. Wenn nun irgend etwas unwissenschaftlich
ist, so ist es unstreitig dieses Verfahren, über welches hinweggekommen
zu sein Kant's grosses Verdienst war.
Wenn unser Erkenntnissvermögen und die Gesetze desselben
an sich, a priori zur Auffassung der Gegenstände eingerichtet
sind, so bedeutet dieses, dass zwischen uns und den
von uns erkannten Gegenständen ein ursprünglicher Zusammenhang
besteht. Allein wenn die erkannten Gegenstände in
_______
*) Die Beweise gegen die Realität der Dinge im Raume überhaupt
sind etwas Anderes und sind sowohl von Kant selbst wie auch schon
vor ihm mit mehr oder weniger Gründlichkeit und Geschicklichkeit geführt
worden .



11
Einleitung.

ursprünglicher Beziehung zu uns stehen, so sind sie also in
Wahrheit nicht so beschaffen, wie wir sie erkennen, denn sie
existiren dann nicht unabhängig von uns ; und wenn sie so
beschaffen sind, wie wir sie erkennen, so stehen sie in keinem
ursprünglichen Zusammenhang mit den Gesetzen unseres
Erkennens. Zwischen dem Erkennen und dessen empirischen,
gegebenen Objecten besteht, wie wir weiter unten sehen werden
, in der That eine gegenseitige Anpassung, eine Art prästabilirter
Harmonie, und es hat keine Schwierigkeit, dieselbe
anzuerkennen, da das Erkennen und dessen gegebene Objecte
ursprünglich, ihrem Wesen nach unter einander zusammenhängen.
Die Annahme einer prästabilirten Harmonie zwischen
diesen ist auch keine Hypothese, sondern einfach die Constatirung
einer Thatsache, welche selbst zur Erfahrung, nicht
zur Metaphysik gehört. Dagegen ist die Annahme einer gegenseitigen
Anpassung, einer prästabilirten Harmonie zwischen
dem Erkennen und Gegenständen , welche , wie die Körper,
unabhängig von demselben existiren, eine metaphysische Hypothese
von der unzulässigsten Art.
Noch einmal muss ich bemerken, dass man unter der
gegenseitigen Anpassung des Erkennens und dessen Objecte
nicht eine logische Uebereinstimmung beider verstehen
darf. Infolge dieser Anpassung erkennen wir die gegebenen
Objecte nicht etwa als das, was sie wirklich sind , - dazu
würde es überhaupt keiner besonderen Anpassung bedürfen -
sondern umgekehrt als etwas, das sie in der That gar nicht
sind, nämlich als eine Welt von Substanzen (Körpern) . Wie
dieses zugeht, werde ich in dem vorliegenden Werke zu zeigen
suchen . Vor allen Dingen ist es nöthig zu begreifen,
dass zwischen den apriorischen und den empirischen Elementen
unseres Erkennens überhaupt keine vollkommene Uebereinstimmung
besteht, weil man sie sonst von einander gar
nicht würde unterscheiden können . Darin liegt eben das Kriterium
einer Einsicht a priori, dass dieselbe nicht allein nothwendig
sei, sondern dass die Erfahrung auch mit ihr nicht



12
Einleitung.

übereinstimme und daher keine Elemente enthalte, aus welchen
jene auf empirischem Wege gebildet werden könnte. Ohne
diese Nichtübereinstimmung würde keine vermeintliche Nothwendigkeit
einer Einsicht beweisen können, dass dieselbe
nicht eine Generalisation aus Erfahrung sei. Die Annahme
apriorischer Erkenntnisselemente hat offenbar nur dann einen
Sinn , wenn das Erkennen zu der Erfahrung etwas hinzubringt,
was in dieser letzteren selbst nicht anzutreffen, mithin auch
aus derselben nicht abzuleiten ist.
Die Annahme einer Uebereinstimmung zwischen den subjectiven,
apriorischen Bedingungen des Erkennens und der
Beschaffenheit der äusseren Dinge zeugt von, einer bedauer
lichen Verflachung des philosophischen Bewusstseins . Mit
dieser Annahme kehrt man auf den Standpunkt der alten
schottischen Schule zurück, welche den common sense zum
höchsten Organ und Kriterium der philosophischen Forschung
machte. -Reid glaubte auch, dass wir von Natur darauf eingerichtet
seien, die Dinge gerade wie sie an sich sind, zu erkennen*)
. Allein seit Kant hat doch schon jeder einigermassen
klar Denkende begriffen, dass wir die Dinge nicht wie
sie an sich, unabhängig von uns sein können, erkennen, eben
weil die Erkenntniss nothwendig eine Beziehung der Dinge zu
uns implicirt. Kant's Lehre von den apriorischen Elementen
des Erkennens hat den Vorzug, dass er diese letzteren in
einem systematischen Zusammenhange fasst und darstellt und
auch die Relativität aller Erkenntniss mit dem ganzen nöthigen
Nachdruck ins Licht setzt ; aber sie hat auch grosse
Mängel . Da ich die einzelnen Punkte der Lehre Kant's in
dem Werke selbst ausführlicher prüfen werde, so begnüge ich
mich in dieser Einleitung damit, den Kern derselben kurz an-
_______
*) Damit soll übrigens nicht etwa eine Geringschätzung Reid's ausgesprochen
werden. Im Gegentheil, es wäre sehr zu wünschen, dass man
gegenwärtig über manche Gegenstände so klare und verständige Ansich
ten hätte, wie Reid ; nur war er freilich als philosophischer Denker etwas
beschränkt.



13
Einleitung.

zudeuten. Man wird dieses vielleicht für überflüssig halten,
weil die Lehre Kant's schon genug commentirt worden und
allgemein bekannt ist. Allein ich glaube nicht, dass Viele
eine richtige Vorstellung von derselben haben:
In dem Vorwort zu der ersten Auflage der Kritik der
reinen Vernunft erklärte Kant, dass in der Lehre von der
apriorischen Natur des Erkennens es »auf keine Weise erlaubt
sei zu meinen, und dass Alles, was darin einer Hypothese nur
ähnlich sieht, eine verbotene Waare sei, die auch nicht für
den geringsten Preis feilstehen darf« . Diese Forderung ist
vollkommen gerechtfertigt*) ; wie aber Kant dieselbe erfüllt
hat, das ist jetzt näher nachzusehen. Schon in demselben
Vorwort stiegen bei ihm selbst einige Bedenken auf, ob er
denn nicht mitunter auch etwas Hypothetisches vorbringe ;
allein er beschwichtigte sich und den Leser durch den Hinweis
auf die in dem Werke angegebenen Gründe. In der That
steht aber. die Sache so : Kant's Lehre war nicht nur eine
blosse Hypothese, sondern sie ist so beschaffen, dass sie gar
nichts Anderes, als eine Hypothese sein konnte ; sie lässt keinen
wirklichen Beweis zu.
Die Kritik der reinen Vernunft zerfällt bekanntlich in
drei Theile, in die sog. »transcendentale Aesthetik«, die »transcendentale
Analytik« und die transcendentale Dialektik« . In
der ersteren wird die Lehre aufgestellt, dass Raum und Zeit
apriorische Formen der Anschauung oder der Sinnlichkeit seien.
Diese Lehre wurde oft sehr gepriesen als eine epochemachende
That in der Philosophie*) . Dieselbe kann auch wirklich einen
_______
*) Man hat nicht immer ein klares Bewusstsein davon, wie unrechtmässig
das Verfahren ist, Sätze von apodictischer Gewissheit anzunehmen und
den Ursprung derselben durch eine blosse Hypothese zu erklären, und
doch ist eine bloss wahrscheinliche oder gar auf blosser Vermuthung beruhende
Gewissheit der augenscheinlichste Widerspruch.
*) In seiner Abhandlung über die Fortschritte der Metaphysik seit
Leibniz und Wolff" sagt Kant selbst, dass seine Vernunftkritik sich um
zwei Angeln dreht, erstens die Lehre von der Idealität des Raumes und



14
Einleitung.

Umschwung in der Denkweise hervorgebracht haben ; nichtsdestoweniger
ist sie nur zum kleinen Theil richtig und zeigt
nicht viel kritischen Sinn . Nur vorübergehend mache ich
darauf aufmerksam, welchen Widerspruch die Annahme enthält,
dass sowohl Raum wie Zeit Formen der unmittelbaren
Anschauung seien Denn darin liegt genau genommen, die
Behauptung, dass wir die Gegenstände der Wahrnehmung zugleich
als successiv und als zugleichseiend unmittelbar anschauen
.- Dieses wird indessen später zur Frage kommen ;
hier will ich besonders die Lehren der transcendentalen Analytik
hervorheben, welche von der Natur und der Function
des Verstandes handelt.
Kant hat bekanntlich zwölf ursprüngliche Stammbegriffe
des Verstandes angenommen, welche er Kategorien nannte.
Aber man würde sich sehr irren, wenn man unter diesen Ka
tegorien Begriffe im gewöhnlichen Sinne des Wortes d . h. irgend
welcher Art allgemeine Vorstellungen von der Wirklichkeit
verstehen wollte. Kant's Kategorien haben mit der Wirklichkeit
und deren Erkenntniss nichts zu schaffen ; sie sind nur
dazu da, um (las Mannigfaltige, welches in der- Anschauung
_______
der Zeit, und zweitens die Lehre von der Realität düs Freiheitsbegriffs ;
doch ist es Thatsache, dass ant der Lehre seiner transcendentalen
Aesthetik über Raum und Zeit nicht treu blieb. In einer Anmerkung
zu dem ersten Kapitel düs dritten Buches düs gegenwärtigen Bandes habe
ich einige Stellen aus der Ei-. d. r. Vft. angeführt, aus welchen erhellt,
dass Kant die Erkenntniss der Succession für eine vermittelte hielt.
Und was den Raum betrifft, so braucht man sich nur an die dritte der
sog. Analogien der Erfahrung" zu erinnern, . nach welcher die Erkenntniss
des Zugleichseins im Raume durch die Erkenntniss einer Wechselwirkung
der zugleichseienden Dinge vermittelt sein soll. L übrigens hat j a
Kant gelehrt, dass alle Wahrnehmung an sich successiv sei ; . es durfte
also bei ihm gar nicht von einer Raumanschauung als Form der Re=
ceptivitüt oder Sinnlichkeit die Rede sein, sondern nur von einer Disposition
des Subjects, den successiv gegebenen Inhalt ins Räumliche zu übersetzen
oder im Raume anzuschauen, was kein blosser Sinn", keine Receptivität"
auszuführen vermag.



15
Einleitung.

gegeben ist, in ein Bewusstsein a priori zu vereinigen. Es
ist nämlich die Grundlehre Kant's in der transcendentalen
Analytik, dass wir überhaupt gar keine wirklichen Gegenstände
erkennen, dass die Objecte, welche wir zu erkennen
glauben, selbst blosse Vorstellungen oder in der Vorstellung
enthalten seien. Das Object ist nach ihm bloss dasjenige,
was eine gewisse Regel zur Verbindung des Verschiedenen
der Wahrnehmung nöthig macht. Diese Eigenthümlichkeit
der Auffassung Kant's war maassgebend für zwei fundamentale
Punkte seiner Lehre, nämlich für seine Deduction der
Begriffe a priori und für seine Lehre von dem Zusammenhange
derselben unter einander.
Kant's Deduction der Kategorien besteht in dem Nachweis,
dass eine Beziehung des gegebenen Inhalts auf Objecte
und eine zusammenhängende Auffassung desselben, kurz eine
Erfahrung nicht möglich sein würde ohne die Kategorien,
welche eben die allgemeinen Regeln bedeuten, das Gegebene
unter einander zu verbinden. Der Grund dieser Nothwendig-
- keit liegt nach Kant in der sog. »transcendentalen Einheit
der Apperception« , unter welcher er die Einheit des Selbstbewusstseins
verstanden hat, d. i. das Bewusstsein seines Selbst
oder seines Ich als eines beharrlichen und einheitlichen Phänomens,
im Gegensatze zu dem Bewusstsein der vorübergehenden
wechselnden Zustände und Empfindungen, welches Kant das
»empirische Bewusstsein« nannte. Die transcendentale Einheit
der Apperception fordert, dass die verschiedenen Vorstellungen
in ein Bewusstsein vereinigt werden, weil ich mich sonst derselben
nicht als meiner Vorstellungen bewusst sein könnte
und dieselben also in mein Ich nicht passen würden. Und
dieses geschieht nach Kant nur dadurch, dass wir die verschiedenen
Vorstellungen, kraft der Kategorien, zu Begriffen
von Objecten verbinden . Daher nannte Kant jene transcendentale
Einheit auch eine »synthetische Einheit der Apperception
.« Es war nämlich seine ernstliche Meinung, dass der
gegebene Inhalt der Wahrnehmung, d. i. die einzelnen Em-



16
Einleitung .

pfindungen selbst in keinem Zusammenbange unter einander
stehen, dass ihr Auftreten in dem Subjecte ein rein zufälliges
sei, dass der Verstand einen Zusammenhang unter denselben
durch seine Function erst schaffe, so dass alle Gesetzmässigkeit
der erkannten Objecte von den Gesetzen des Verstandes
komme, welche eben die Kategorien sind . Auf dieser vollkommen
unhaltbaren, den Thatsachen so offenbar widersprechenden
Ansicht beruht die ganze Lehre der Kant'schen »transcendentalen
Analytik.« Sobald man einsieht, dass die Empfindungen
selbst unter einander nach umwandelbaren Gesetzen
zusammenhängen, welche von dem erkennenden Subjecte unabhängig
sind ; bricht diese ganze Lehre zusammen, wie
es sich im Verlaufe des vorliegenden Werkes zur Genüge
zeigen wird.
Da nun nach Kant die Begriffe a priori nicht die Natur
wirklicher Vorstellungen haben, so konnte er auch keinen logischen
Zusammenhang derselben annehmen, weil ein solcher
nur bei wirklichen Vorstellungen möglich ist. Die Erkenntnisselemente
a priori waren nach seiner Lehre blosse Räder
in einem zur Verbindung der Wahrnehmungen dienenden
Mechanismus ; daher musste auch der Zusammenhang dieser
Elemente selbst als ein bloss äusseriicher, mechanischer dargestellt
werden . In diesem Sinne hat denn auch Kant die
von ihm aufgeworfene Frage :Wie sind synthetische Urtheile
a priori möglich? oder mit andern Worten : Wie ist ein Zusammenhang
der Begriffe a priori möglich? beantwortet.
lohnt der Mühe, diesen merkwürdigen Theil seiner Lehre
etwas näher ins Auge zu fassen.
Jeder Kategorie entspricht nach Kant ein sogenanntes
Schema, welches »ein Product der Einbildungskraft« ist und
mittels dessen allein die Kategorie auf den gegebenen Inhalt
bezogen werden kann. So ist z . B. das Schema der Substanz
»die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit«, das Schema der
Ursache und der Causalität »die Succession des Verschiedenen,
insofern sie einer Regel unterworfen ist« u . s . w. Kant lehrt



17
Einleitung.

nun ausdrücklich, dass zwischen der Kategorie und dem entsprechenden
Schema nicht der geringste logische Zusammenhang
bestehe. Aus dem Begriffe der Substanz könne niemals
ersehen werden, dass die Substanz in der Zeit als etwas Beharrliches
gedacht werden muss. Aus dem Begriffe dessen,
was geschieht, könne ebensowenig ersehen werden, dass dasselbe
unveränderliche Antecedentien oder Ursachen haben muss
u. s. w. Diese Begriffe sollen unter einander keine innigere
Verbindung haben, als welche z. B . zwischen den Tasten und
den Saiten eines Klaviers besteht. Nur durch eine äusserliche
Vorrichtung ist es möglich gemacht, dass das Anschlagen der
Tasten die Saiten zum Tönen bringt. Ebenso ist es nach
Kant der zum Behuf einer möglichen Erfahrung geschaffene
Mechanismus des Erkennens allein, der das Zusammenfallen
von Kategorie und Schema vermittelt. Nur durch diese äusserliche
Vermittlung entstehen die synthetischen Sätze a priori,
welche Kant »Grundsätze des reinen Verstandes« genannt und
unter vier Titel : Axiomen der Anschauung, Antecipationen der
Wahrnehmung, Analogien der Erfahrung und Postulate des
empirischen Denkens, gebracht hat. Sein Beweis dieser Grundsätze
besteht allemal in der Behauptung, dass ohne dieselben
eine Erfahrung nicht möglich gewesen wäre .*)
Wenn nun Begriffe a priori bloss aus derr Grunde angenommen
werden, weil man ohne dieselben die Thatsachen des
Erkennens nicht glaubt erklären zu können, so ist diese An
nahme offenbar eine blosse Hypothese und als solche ohne
allen Werth.**) Dadurch aber, dass Kant den apriorischen
_______
*) Belege aus der Kritik der reinen Vernunft für das Gesagte sind
in einer besonderen Note am Ende dieser Einleitung angeführt.
**) Dieser Ausdruck kann missverstanden werden, daher füge ich die
folgende Bemerkung hinzu : Eine Lehre, welche als Theorie, ihrem objectiven
Gehalte nach ohne Werth ist, kann sehr wohl in subjectiver
Hinsicht, als Hebel der Bewegung und Fortentwicklung des philosophischen
Bewusstseins von sehr grossem Werth sein, was namentlich be
Kant's Lehre auch wirklich der Fall war. 



18
Einleitung.

Denkgesetzen jede Beziehung auf wirkliche Gegenstände und
mithin jede objective Gültigkeit von vornherein abgesprochen,
hat er sich sogar die Möglichkeit und selbst die Veranlassung
benommen, einen wirklichen Beweis für die Wahrheit derselben
zu führen. Daher will er auch keinen »objectiven
Beweis« der Grundsätze geben , sondern nur einen »aus den
subjectiven Quellen der Möglichkeit einer Erkenntniss des
Gegenstandes überhaupt«, welcher aber keine wissenschaftliche
Bedeutung haben kann.
So gross auch die Förderung war, welche der Philosophie
aus der Lehre Kant's erwachsen ist und so hoch wir auch
das Verdienst dieser . Lehre deshalb anschlagen müssen, so
kann doch von einer Aufrechterhaltung derselben nicht mehr
die Rede sein. Die Lehre von der apriorischen Seite des Erkennens
muss auf eine ganz andere Basis gestellt werden.
Es liegt uns die Verpflichtung ob, nicht allein das Vorhandensein
apriorischer Denkgesetze nachzuweisen, sondern auch
deren objective Gültigkeit darzuthun . Ein Denkgesetz , ein
ursprünglicher Begriff a priori muss nicht allein unmittelbar
gewiss, selbstverständlich sein, sondern es muss sich auch
zeigen lassen , dass derselbe nicht aus Erfahrung geschöpft
sein konnte, dass aber die Thatsachen der Erfahrung dennoch
dessen objective Gültigkeit bezeugen oder verbürgen. Erst
durch diesen zweifachen Beweis wird ein apriorisches Gesetz
des Denkens als solches genügend legitimirt .
Um einen ursprünglichen Begriff a priori festzustellen,
sind also Bedingungen nöthig, welche auf den ersten Blick so -
gar unvereinbar zu sein scheinen. Denn ein solcher Begriff
darf mit den Thatsachen oder den Daten der Erfahrung nicht
vollständig übereinstimmen, weil es sonst unmöglich gewesen
wäre, zu beweisen, dass derselbe nicht aus Erfahrung gewonnen
ist. Aber diese Nichtübereinstimmung muss zugleich von der
Art sein , dass die Thatsachen gerade auf Grund derselben
für die objective Gültigkeit des Begriffs Zeugniss ablegen,
weil der Begriff sonst wohl noch als ein Gesetz des Denkens,



19
Einleitung.

aber von nur subjectiver Bedeutung sich erweisen würde.
Wenn es aber möglich ist, diese beiden Bedingungen zu erfüllen,
so wird dadurch die Lehre von der apriorischen Natur
des Erkennens und mit dieser auch die Philosophie überhaupt
auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt.
Dann bleiben nur noch die folgenden zwei Regeln zu befolgen
: 1) Es darf aus den festgestellten Principien keine
Folgerung gezogen werden, welche aus denselben nicht mit
logischer Nothwendigkeit sich ergibt ; aber auch umgekehrt;
2) darf man keine Folgerung unterlassen, geschweige denn
unterdrücken, welche aus den festgestellten Principien mit
Nothwendigkeit sich ergibt.*)
Unter diesen Folgen des Begriffs a priori müssen nun
auch diejenigen sich befinden, durch welche derselbe sich als
einen bestimmenden Factor der Erfahrung selbst erweist. Wenn
es ein Denkgesetz a priori gibt, so muss dasselbe in einem
obersten unmittelbar gewissen Grundsatze seinen Ausdruck
finden, aus welchem mit logischer Nothwendigkeit - und
_______
*) Die Nichtbefolgung namentlich der letzteren Regel hat viele Trugschlüsse
veranlasst. Gewöhnlich neigt man sich zu gewissen Folgerungen,
ehe man noch untersucht hat, ob dieselben aus den angenommenen Prin
cipien sich ergeben oder nicht. Man will von vornherein weder die
Principien noch die vorgefassten Folgerungen fallen lassen und ist daher
bemüht, anstatt sich . das Verhältniss beider klar zu machen, dasselbe
umgekehrt nach seinem Wunsche sich zurechtzulegen, was natürlich nur
durch Trugschlüsse bewerkstelligt werden kann. Auch die Gewohnheiten
des Denkens thun der Schärfe und Richtigkeit desselben starken Abbruch .
Gewisse habituell und geläufig gewordene Erklärungen der Thatsachen
Ohne diese Analyse der Gedanken
z. B . sind meistens in dem Bewusstsein der Menschen so sehr mit diesen
Thatsachen selbst verschmolzen, dass man auf den Gedanken gar nicht
verfällt, beides könnte von einander trennbar sein. Daher ist es das erste
Erforderniss eines methodischen Denkens , die Thatsachen rein für sich
abzusondern, zuerst mit Beiseitesetzung aller und jeder Erklärung derselben
darzustellen, wie der Chemiker die einfachen Stoffe aus ihren gewöhnlichen
Verbindungen ausscheidet. Ohne diese Analyse der Gedanken
giebt es keine Wissenschaft, sondern nur den Schein einer solchen. 



20
Einleitung.

nicht wie Kant es wollte, vermittelst eines hypothetischen
Mechanismus des Erkennens - gewisse allgemeine Thatsachen
des erfahrungsmässigen Wissens sich ergeben, welche ihren
Ursprung nachweisbar weder in dem Stoffe der Erfahrung
selbst noch in den Combinationen dieses Stoffes haben können.
Den Nachweis des Antheils, welchen der Begriff a priori an
dem Zustandekommen der erfahrungsmässigen Erkenntniss
selbst hat, kann man den subjectiven Beweis (nach Kant's
Ausdrucksweise heisst er die »transcendentale« Deduction oder
Erörterung) dieses Begriffs nennen, im Unterschiede von dem
objektiven Beweis, welcher, wie oben erwähnt worden, darin
besteht, dass die Data der Erfahrung trotz ihrer Nichtübereinstimmung
mit dem Begriffe a priori die objective Gültigkeit
desselben bezeugen . Es kann indessen Fälle geben, wo der
objective Beweis mit dem subjectiven zusammenfällt, nämlich
wenn ein allgemeines Gesetz der Welt der Erfahrung sich als
eine logische Folge des Denkgesetzes erweist. Einen solchen
Fall werden wir in dem Satze der Causalität kennen lernen .



21
Note.
Belege aus Ka n t's Kritik der reinen Vernunft.
(Herausgegeben von J. H. v. Kirchmann, Berlin, 1868.)
S. 110. Der Inbegriff seiner (des Verstandes) Erkenntniss wird ein
unter einer Idee zu befassendes und zu bestimmendes System ausmachen,
dessen Vollständigkeit und Articulation zugleich einen Probirstein der
Richtigkeit und Aechtheit aller hineinpassenden Erkenntnisstücke abgeben
kann ."
S. 135. Die transcendentale Deduction aller Begriffe a priori hat
ein Principium . . . . . . nämlich dieses : dass sie als Bedingungen a priori
der Möglichkeit der Erfahrungen erkannt werden müssen."
S . 142-3 . Verstand ist das Vermögen der Erkenntnisse. Diese
bestehen in der bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein
Object. Object aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer
gegebenen Anschauung vereinigt ist. Nun erfordert aber alle Vereinigung
der Vorstellungen Einheit des Bewusstseins in der Synthesis derselben .
Folglich ist die Einheit des Bewusstseins dasjenige, was allein die Beziehung
der Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objective
Gültigkeit, folglich, dass sie Erkenntnisse werden, ausmacht, und worauf
also selbst die Möglichkeit des Verstandes beruht."
S. 148 . Die Kategorien sind nur Regeln für einen Verstand, dessen
ganzes Vermögen im Denken besteht, d . i. in der Handlung, die Synthesis
des Mannigfaltigen, welches ihm anderweitig in der Anschauung ge
geben worden, zur Einheit der Apperception zu bringen, der aber für
sich gar nichts erkennt, sondern nur den Stoff zur Erkenntniss, die Anschauung,
die ihm durch's Object gegeben werden muss, verbindet und
ordnet." Der Verstand ist indessen nach Kant eben dasjenige, was Objecte
denkt und den gegebenen Stoff auf Objecte bezieht.
S. 175-6. ,,Die Kategorien, ohne Schemate, sind nur Functionen,
des Verstandes zu Begriffen, stellen aber keinen Gegenstand vor."
S . 182. Das oberste Principium aller synthetischen Urtheile a priori
ist : ein jeder Gegenstand steht unter den nothwendigen Bedingungen der

22
Einleitung.

synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen
Erfahrung."
S . 198. Nun kommen in der Erfahrung die Wahrnehmungen nur
zufälligerweise zu einander, so dass keine Nothwendigkeit ihrer Verknüpfung
aus den Wahrnehmungen selbst erhellt, noch erhellen kann."
S. 210 . Was verstehe ich unter der Frage : wie das Mannigfaltige
in der Erscheinung selbst (die noch nichts an sich selbst ist,) verbunden
sein möge? Hier wird das, was in der successiven Apprehension (näm
lich der Gegenstände. Ref.) liegt, als Vorstellung, die Erscheinung aber,
die mir gegeben ist, ohnerachtet sie nichts weiter, als ein Inbegriff dieser
Vorstellungen ist, als der Gegenstand derselben betrachtet, mit welchem
mein Begriff, den ich aus den Vorstellungen der Apprehension ziehe, zusammenstimmen
soll. Man sieht bald, dass, weil Uebereinstimmung mit
dem Object Wahrheit ist, hier nur nach den formalen Bedingungen der
empirischen Wahrheit gefragt werden kann, und Erscheinung, im Gegenverhältniss
mit den Vorstellungen der Apprehension, nur dadurch als das
davon unterschiedene Object derselben könne vorgestellt werden, wenn
sie unter einer Regel steht, welche sie von jeder anderen Apprehension
unterscheidet und eine Art der Verbindung des Mannigfaltigen nothwendig
macht. Dasjenige an der Erscheinung, was die Bedingung . dieser
nothwendigen Regel der Apprehension enthält, ist das Object."
S. 245 . So lange es an Anschauung fehlt, weiss man nicht, ob man
durch die Kategorien ein Object denkt und ob ihnen auch überall gar
irgend ein Object zukommen könne, und so bestätigt sich, dass sie für
sich gar keine Erkenntnisse, sondern blosse Gedankenformen sind, um
aus gegebenen Anschauungen Erkenntnisse zu machen", nämlich durch
deren Vereinigung zu Vorstellungen von Objecten.
S . 258-9. Die Kategorien . . . . sind ihrerseits wiederum nichts
als Gedankenformen, die bloss das logische Vermögen enthalten, das
mannigfaltige in der Anschauung Gegebene in ein Bewusstsein a Priori
zu vereinigen ."
S. 262. Wird behauptet, dass die Kategorien nur in Beziehung auf
die Einheit der Anschauungen in Raum und Zeit Bedeutung haben."
Man könnte noch eine Menge von ähnlichen Belegen anführen, aber
dies würde schon aus dem Grunde überflüssig sein, weil ich auch in dem
Werke selbst Manches citiren werde.