ZWEITES KAPITEL.

VON DEM SATZE DES ZUREICHENDEN GRUNDES.

 

Das in dem vorigen Kapitel erörterte Bedürfniss des Denkens, nach den Gründen des Gegebenen zu fragen, hat man zu einem allgemeinen Gesetze erhoben unter dem Namen des Satzes vom zureichenden Grunde, welcher manchmal in der unbeschränkten Form behauptet wird, dass »von einem Jeglichen der Grund angegeben werden müsse, weshalb es eher sei, als nicht sei«.*) Und dass diese übertriebene Ausdehnung des Satzes vom Grunde nicht ganz einer vergangenen Epoche angehört, dafür gibt es Belege in der Gegenwart.

 

Selbst Schopenhauer hat den Satz vom zureichenden Grunde als eine Grundeinsicht hingestellt, die man gar nicht weiter prüfen darf. »Einen Beweis für den Satz vom Grunde zu suchen«, sagt er, »ist eine specielle Verkehrtheit, welche von Mangel an Besonnenheit zeugt. Jeder Beweis nämlich ist die Darlegung des Grundes zu einem ausgesprochenen Urtheil, welches eben dadurch das Prädikat wahr erhält.

 

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*) Spinoza behauptete sogar (Ethik, S. 16), dass „für jedes Ding es eine Ursache oder einen Grund gebe, sowohl weshalb es existirt, als auch weshalb es nicht existirt“, ohne zu bedenken, dass wenn für die Existenz eines Dinges Gründe nöthig sind, die blosse Abwesenheit derselben für die Nichtexistenz des betreffenden Dinges schon ein hinreichender Grund ist.

 

 


 

Der Satz vom zureichenden Grunde.

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Eben von diesem Erforderniss eines Grunde für jedes Urtheil *) ist der Satz vom Grunde der Ausdruck. Wer nun einen Beweis, d. i. die Darlegung eines Grundes, für ihn fordert, setzt ihn eben hierdurch schon als wahr voraus, ja, stützt seine Forderung eben auf diese Voraussetzung. Er geräth also in den Cirkel, dass er einen Beweis der Berechtigung, einen Beweis zu fordern, fordert « (Die vierfache Wurzel u. s. w. S. 23 – 4.)

 

Es ist merkwürdig, wie Schopenhauer hier Realgrund und Erkenntnissgrund zusammenwirft, trotzdem dass er die Verwechselung der beiden bei anderen Autoren auf das entschiedenste verdammt. Doch selbst bei dieser Verwechselung ist, die angeführte Argumentation nicht haltbar. Wenn Alles einen Grund haben muss, so muss auch der Satz vom Grunde selbst einen Grund haben, und man hat also das Recht und die Pflicht, nach seinem Warum zu fragen. Wenn aber nicht Alles einen Grund haben muss, dann steht sogar eine doppelte Untersuchung bevor. Dann muss man ausmachen: 1) Ob diejenigen Gegenstände, welche von Gründen abhängen, als solche ein gemeinsames Merkmal haben, das den anderen fehlt? Und 2) Wie dieses Merkmal mit der Nothwendigkeit, sich auf Gründe zu beziehen, zusammenhängt? Oder: Welches der Grund ist, dass einige Gegenstände von Gründen abhängen?

 

Allein die erste Alternative hebt sich selber auf. Wenn Alles einen Grund haben muss, so bedeutet dies mit anderen Worten, dass Alles abgeleitet ist. Aber dann fragt es sich: Woraus ist es denn abgeleitet? Wäre der Regressus von den Folgen zu den Gründen in jeder Hinsicht ein unendlicher, so hinge die ganze Wirklichkeit am Nichts und das ganze Denken wäre in einer unauflösbaren Antinomie befangen, welche jede Ausübung desselben von vornherein unmöglich machen würde.

 

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*) Nur ein paar Zeilen vorher sagt Schopenhauer selbst, dass es gewisse Sätze gibt, „deren eigne Gewissheit nicht wieder ans anderen

Sätzen erhellen kann“.

 

 


 

336 Viertes Buch. Zweites Kapitel.

 

Das nimmt denn auch weder Schopenhauer noch irgend ein anderer denkender Mensch an; vielmehr begreifen Alle recht wohl, dass das Bedingte nicht ohne das Unbedingte, das Abgeleitete nicht ohne das Ursprüngliche gedacht werden kann.

 

In der That ist der Satz vom Grunde so weit entfernt selbstverständlich zu sein, dass vielmehr gerade sein Gegentheil selbstverständlich ist. Denn dem ursprünglichen Gesetze des Denkens gemäss ist jeder Gegenstand in seinem wahren Wesen mit sich selbst identisch, also selbstverständlich und von keinen weiteren Gründen abhängig. Eben der Mangel an Selbstverständlichkeit in den Gegenständen, welche wir erkennen, macht ja, dass wir nach einem Warum bei denselben fragen müssen, bildet also die eigentliche Basis des Satzes vom Grunde selbst. Diese Eigenschaft, von Gründen abzuhängen, also auch die Erklärungsbedürftigkeit ist dem wahren, unbedingten Wesen der Dinge fremd. Daher sind wir berechtigt, nicht bloss nach dem Warum eines jeden bedingten Gegenstandes zu fragen, sondern auch darnach, warum überhaupt irgend etwas von Gründen abhängt und einer Erklärung bedarf. Nur kann freilich auf diese letztere Frage keine genügende Antwort gegeben werden. Denn eben weil die Abhängigkeit von Gründen dem eigenen Wesen der Wirklichkeit fremd ist, kann dieselbe auch keinen Grund in der Wirklichkeit haben. Wir sehen also, dass es nicht allein Dinge – oder wenigstens ein Ding, nämlich das Unbedingte – gibt, welche von keinen Gründen abhängen und keiner Erklärung bedürfen; sondern dass auch Manches, was seinem Wesen zufolge einen zureichenden Grund voraussetzt, doch keinen hat, nämlich diejenigen gegebenen Elemente der Wirklichkeit, welche ihrem wahren, unbedingten Wesen fremd sind. Diese Elemente bedürfen der Erklärung und sind doch keiner fähig.

 

Wir müssen nun untersuchen, welches das allgemeine Merkmal des Abgeleiteten und von Gründen Abhängigen ist. Ein solches muss es geben, weil wir sonst nicht würden er-

 

 


 

Der Satz vom zureichenden Grunde.

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kennen können, was seinem Wesen nach abgeleitet ist. Auch ein abgeleitetes Object würden wir offenbar so lange für ein ursprüngliches halten, bis wir in ihm ein Merkmal oder ein Kennzeichen seines abgeleiteten Ursprungs entdeckt hätten. Denn die Abhängigkeit eines Gegenstandes von Gründen ist nie selbst in dessen Wahrnehmung mitgegeben.

 

Wir wissen, dass alles Bedingte ein blosses Geschehen ist und dass alle Ableitung Succession voraussetzt. In einem früheren Kapitel habe ich zu zeigen versucht, dass ausserhalb aller Succession die Abhängigkeit eines Gegenstandes von einem anderen gar nicht denkbar ist. Ueberall ist »abgeleitet« gleichbedeutend mit »nachfolgend« und man kann dem ersteren Ausdruck keinen Sinn unterlegen, welcher sich nicht auf den letzteren bezöge.

 

Da es nun eine Succession sowohl in der Wirklichkeit als im Denken und Erkennen gibt, so gibt es auch zwei Arten von Gründen: Gründe des Werdens oder des Geschehens und Gründe des Erkennens.

 

Wenn eine Erscheinung ihrem Dasein nach von einer anderen dergestalt abhängt, dass sie stets vorkommt, wenu diese gegenwärtig ist, und nicht vorkommt, wenn diese fehlt, so nennt man die letztere Grund oder Ursache jener. Grund oder Ursache eines Dinges nennt man also dasjenige, was den Eintritt desselben ins Dasein vermittelt und somit seine Existenz selbst bedingt.

 

Dagegen ist Grund der Erkenntniss eines Dinges dasjenige, durch dessen Vermittlung das Bewusstsein zu der Vorstellung und der Erkenntniss dieses Dinges gelangt. Das Verhältniss von Grund und Folge im Denken ist also im Allgemeinen dasjenige des Vorgedachten und des Nachgedachten. Ich habe aber schon bemerkt, dass in der Ordnung des empirischen Erkennens das Individuelle vorhergeht und das Allgemeine nur aus demselben und durch dasselbe erkannt werden kann, während in der Ordnung des Begreifens umgekehrt das Allgemeine der Grund ist, durch dessen Vermittlung allein das

 

 


 

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Individuelle, als dessen Folge, begriffen und erklärt werden kann. Man muss also ein Verhältniss von Grund und Folge in dem thatsächlichen Erkennen und ein Verhältniss von Grund und Folge in dem Begreifen und Erklären des Thatsächlichen unterscheiden.

 

In den Wissenschaften, wo der Gang des Erkennens deductiv ist, fällt beides in eins zusammen. So werden z. B. die Gesetze des Zusammenhangs im Raume nicht allein begriffen, sondern auch zuerst erkannt auf Grund der Einsicht in die Eigenschaften der einfachen Bestimmungen desselben, als da sind – gerade Linie, Winkel, Parallelität u. s. w.*) Hier, in diesem letzteren Falle, könnte man meinen, dass eine wirkliche Priorität den Elementen zukomme, aus denen die ganze Fülle der Wissenschaft abgeleitet wird; eine Priorität, welche nicht bloss auf dem Umstande beruht, dass das Bewusstsein nur durch deren Vermittlung zu weiteren Einsichten gelangen kann, sondern welche denselben auch an und für sich eigen ist. Linien und Figuren, wird man vielleicht sagen, sind ihrer Natur nach eher da, als die Verhältnisse derselben, welche durch Schlussfolgerungen aus ihren Eigenschaften erkannt werden. Wenn man aber bedenkt, dass das einfachste geometrische Element, die gerade Linie selbst ein Verhältniss ist einer Vielheit von Punkten unter einander, und ferner, dass im Raume alle Gesetze und geometrischen Eigenschaften desselben von vornherein und ununterscheidbar zugleich sind, so wird man zugeben müssen, dass einem

geometrischen Datum keine weitere Priorität vor den anderen zukommen kann, als welche in dessen Fähigkeit liegt, die Erkenntniss der anderen zu vermitteln, dem Bewusstsein als ein Durchgangspunkt zu denselben zu dienen. Die geometrischen Data stehen also nicht an sich, sondern bloss für das

 

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*) Hat man doch sogar einen neuen Planeten auf deductivem Wege entdeckt, nicht zu sprechen von manchen Gesetzen des Lichts, der Wärme

 

 


 

Der Satz vom zureichenden Grunde.

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Bewusstsein in dem Verhältnisse von Gründen und Folgen zu einander. Schopenhauer’s Annahme von besonderen Seinsgründen im Raume oder in der Geometrie ist daher nicht zulässig; es sind dies Erkenntnissgründe, wie die anderen auch.

 

Die Verwechselung der realen Gründe, d. h. der Ursachen mit den Erkenntnissgründen hat schon manches Missverständniss veranlasst. So ist man nämlich geneigt, unter einem »zureichenden Grunde« etwas zu verstehen, das die Folge erzeugt, aus sich hervorbringt. Dies kommt daher, dass in einem Syllogismus die Prämissen die Conclusion für das Bewusstsein gleichsam erzeugen. Die Conclusion liegt hier schon in den Prämissen und braucht bei deren Zusammenstellung nur herausgehoben zu werden; sie ist eben der blosse Ausdruck des logischen Verhältnisses, in welchem die in den Prämissen ausgedrückten Data zu einander stehen. Das überträgt man nun unwillkürlich auf die Gründe des Geschehens, welche in der Wirklichkeit vorgefunden oder vorausgesetzt werden. Auch hier will man aus der Natur des Grundes ersehen können, warum derselbe gerade solche und keine anderen Folgen oder Wirkungen hervorbringt, wie man in dem Syllogismus aus den Prämissen ersieht, warum dieselben eine solche und keine andere Conclusion begründen. Allein das heisst offenbar, die logische Aufeinanderfolge im Begreifen mit der realen Aufeinanderfolge in der Wirklichkeit verwechseln. Wenn man ein allgemeines Gesetz als den Grund der besonderen Gesetze ansieht, welche nähere Specificationen desselben unter bestimmten Umständen oder Bedingungen sind, so kann man zwar diese letzteren aus ihm begreifen. Dass der Fall der Körper auf der Erde und die Bewegungen der Planeten um die Sonne demselben Gesetze gemäss geschehen, welches auch die Keppler’schen Gesetze dieser Bewegungen begründet, – ist logisch klar. Denn dies geht aus der blossen Subsumption der gegebenen Verhältnisse und Thatsachen unter das Gesetz der Gravitation hervor. Aber das Verhältniss einer Ursache zu ihrer Wirkung ist ganz und gar verschieden von

 

 


 

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dem Verhältnisse eines Gesetzes zu dessen Specificationen und Folgerungen. Die Ursache geht nicht in der logischen Ordnung des Begreifens, sondern in der realen Reihe der Succession der Wirkung stets voran; so wie auch umgekehrt, das allgemeine Gesetz nicht der reale Grund oder die Ursache der besonderen Gesetze und einzelnen Thatsachen ist, welche unter ihm stehen, und diese sind nicht Folgen oder Wirkungen, sondern nur Fälle, Beispiele oder nähere Specificationen desselben. Schon Hume und Th. Brown haben gezeigt, dass in der Natur einer gegebenen Ursache nichts gefunden werden kann, woraus man im Voraus ersehen könnte, von welchen Wirkungen dieselbe begleitet sein wird. Das Verhältniss von Ursache und Wirkung kann daher nur aus Erfahrung, nämlich aus der Thatsache ihres beständigen Aufeinanderfolgens erkannt werden. Es ist aber auch von vornherein unmöglich zu denken, dass irgend ein reales Object ein anderes solches erzeuge. Auch nicht im Entferntesten kann irgend eine Vorstellung von einem solchen Erzeugen gebildet werden. Der reale Grund oder die Ursache einer Wirkung ist nichts Anderes, als das beständige Antecedens derselben im Dasein, und zureichend ist dieser Grund, wenn er stets von der ganzen Wirkung begleitet wird, wenn keine weiteren Antecedentien nöthig sind, um den Eintritt der Wirkung ins Dasein zu vermitteln und zu bedingen.

 

Hier liegt aber die Gefahr nahe, in den entgegengesetzten Irrthum zu verfallen, was auch wirklich sowohl Hume als Brown widerfahren ist. Weil wir den Grund nicht kennen, warum bestimmte Ursachen von bestimmten Wirkungen begleitet werden, haben diese Denker das Vorhandensein eines solchen Grundes überhaupt geleugnet. Aber das heisst offenbar, das Kind mit dem Bade ausschütten. Der Grund davon, dass eine gegebene Ursache nur eine bestimmte Wirkung nach sich zieht, liegt zwar nicht in dieser Ursache allein, ebensowenig wie er in ihrer Wirkung allein liegt; aber er liegt in demjenigen, was Ursache und Wirkung mit einander

 

 



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verbindet. Der Umstand, dass bestimmte Erscheinungen stets aufeinanderfolgen, kann nichts Anderes bedeuten, als dass sie mit einander verbunden sind. Ich habe schon wiederholt darauf hingewiesen und möchte es noch tausendmal wiederholen, dass der Glaube an die Gültigkeit der Induction gleichbedeutend ist mit dem Glauben an einen wirklichen Zusammenhang der Erscheinungen. Denn die Induction ist nichts Anderes, als der Schluss aus dem steten Zusammenvorkommen gleicher Erscheinungen auf eine Verbindung derselben unter einander.

 

Wohl ist es wahr, dass die Annahme in einem individuellen Objecte einer Kraft, eines besonderen Vermögens (power), andere Objecte zu modificiren und überhaupt Wirkungen hervorzubringen, durchaus unhaltbar ist. In der That kann die Kraft, das Vermögen, Veränderungen zu bewirken, niemals die Eigenschaft eines individuellen Dinges als solchen sein, denn sonst wäre dieses Ding eine unbedingte Ursache, und eine solche ist nicht denkbar. Aber daraus folgt nicht, dass die Kraft überhaupt gar nicht existire. Wenn dieselbe einem Gegenstande nicht in seiner Isolirtheit und Individualität zukommt, so kommt sie doch den Gegenständen in ihren Beziehungen unter einander zu, wie es ja die Erfahrung unzweifelhaft zeigt. Die Kraft ist zwar nicht selbst eine individuelle Ursache, die Eigenschaft eines einzelnen Objects, wohl aber die reale Basis aller ursächlichen Verhältnisse zwischen den Objecten der Erfahrung überhaupt.

 

Dieses scheinen jene Denker übersehen zu haben. Spöttisch sagt Th. Brown darüber: »Alles, was wir wirklich von Causalität verstehen, ist blosse Unveränderlichkeit der Succession; aber wir denken immer, es müsse darin noch etwas stecken... etwas sehr Dunkles und Wundervolles,.... welches jede Veränderung bewirkt, die wir wahrnehmen, nur nicht diejenige Veränderung, durch welche es selbst ein Object unserer Wahrnehmung werden könnte,« (Cause and Effect, p. 124). Hier wird übersehen, dass eben die »Unveränderlichkeit der Succession« nichts Anderes bedeuten kann,

 

 



342 Viertes Buch. Zweites Kapitel.

 

als eine Verbindung des Successiven, die man daher nothwendig annehmen muss, trotzdem dass sie nie selbst wahrgenommen werden kann. Verlangen, dass diese Verbindung selbst wahrgenommen würde, heisst verlangen, dass dasjenige, was die Basis aller causalen Verhältnisse bildet, selbst als das Glied eines causalen Verhältnisses auftrete, was ungereimt ist.