VIERTES BUCH.

VON DER ERKLAERUNG.

 

 


 

ERSTES KAPITEL.

VON DER ERKLÄRUNG ÜBERHAUPT.

 

Irgend etwas erklären heisst, die Gründe desselben angeben, d. h. seinen Zusammenhang mit etwas Anderem, vorher Festgestelltem nachweisen. Da nun der Nachweis eines Zusammenhangs nur durch Schlussfolgerungen geführt werden kann und es zwei Wege der Schlussfolgerung gibt, den deductiven und den inductiven, so ist auch jede Erklärung entweder deductiv oder inductiv. Aber auf welchem Wege auch die Erklärung eines Gegenstandes geführt werden mag, das Ziel aller Erklärung ist immer dasselbe, nämlich das Einzelne und Besondere auf das Allgemeine zurückzuführen.

 

Ob es sich um einzelne Thatsachen oder um Gesetze handelt, immer besteht die Erklärung sowohl der einen wie der anderen darin, dass sie auf allgemeinere Gesetze zurückgeführt werden. Dass dieses in rein deductiven Wissenschaften, welche durch Syllogismen fortschreiten, wie z. B. in der Mathematik, der Fall ist, braucht kaum erwähnt zu werden. Denn in einem Syllogismus ist der Schlusssatz nichts Anderes, als der Ausdruck des logischen Verhältnisses, in welchem die in den Prämissen ausgedrückten Data zu einander stehen. Da nun eine gegebene Anzahl von Daten in vielfache Verhältnisse zu einander gebracht oder mit einander vielfach verglichen werden kann, so ist klar, dass die Zahl der Schluss-

 

 


 

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folgerungen die der Prämissen übertrifft, dass also die letzteren allgemeinerer Natur sind als die ersteren.

 

Bei den deductiven Wissenschaften hat es auch keine Schwierigkeit, zu verstehen, warum das Allgemeine den Erklärungsgrund des Besonderen und. Einzelnen abgibt. Denn dort ist gerade das Allgemeinste unmittelbar gewiss und alles Uebrige kann nur durch dessen Vermittlung gewiss d. h. in seiner Gültigkeit begriffen werden. Aber wie kommt es, dass wir auf dem Gebiete der reinen Erfahrung, wo nur individuelle Thatsachen gegeben sind, uns bei diesen nicht beruhigen können, sondern dieselben nicht eher begriffen zu haben glauben, als bis wir die allgemeinsten Gesetze ihres Zusammenhangs erkannt haben, welche selbst doch nur aus den einzelnen Thatsachen abgeleitet werden können? Wie kann das Abgeleitete den Erklärungsgrund dessen abgeben, woraus es abgeleitet ist? Als Antwort darauf diene Folgendes:

 

Wenn jedes einzelne gegebene Element in keiner wesentlichen Verbindung mit anderen stünde, so würde eine Erklärung desselben weder nöthig noch möglich sein. Das Denken würde dann schlechterdings keinen Antrieb haben, über dieses Element hinhus zu irgend etwas Anderem zu gehen, um dasselbe aus diesem Anderen zu begreifen. Denn Alles, was von dem betreffenden Elemente in diesem Fall erkannt werden könnte, wäre eben in ihm selber concentrirt. Aber ein so in seinem Wesen isolirtes Element ist uns niemals und nirgends gegeben. Die gleichsam constitutive Flüchtigkeit, Vergänglichkeit aller gegebenen Erscheinungen ist, wie wir wissen, schon aus einem Grunde a priori ein Merkmal ihrer Abhängigkeit von Bedingungen, ihres Zusammenhangs unter einander. Aber der Zusammenhang eines Datums mit einem anderen kann auf empirischem Wege nur inductiv erkannt, nämlich nur aus dem steten Zusammenvorkommen beider in der Wahrnehmung gefolgert werden. Da wir nun nie gewiss sein können, dass ein Datum von heute individuell identisch sei mit einem ähnlichen Datum von gestern,

 

 


 

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so kommt es uns dabei auch nicht auf die numerische Identität des Einzelnen, sondern bloss auf die Identität in dem Wesen mehrerer Erscheinungen an. Diese letztere allein ist unseren Inductionen dienlich. Die Möglichkeit, einen Zusammenhang des Einzelnen zu erkennen, beruht also darauf, dass es in der Natur eine Identität, eine Uebereinstimmung in dem Wesen vieler Erscheinungen, also ein allgemeines Element gibt, welches zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten dasselbe ist und somit auch dasselbe erwarten lässt. Daher ist jede Erklärung des Einzelnen ein Zurückführen desselben auf das Allgemeine.

 

Die Erfahrung zeigt uns nun, dass es Fälle gibt, wo der Zusammenhang zweier Facta ein vermittelter ist und dass diese Vermittlung zweifacher Art sein kann.

 

Ein Factum kann nämlich erstens das Product des Zusammenwirkens mehrere Ursachen sein. Das einfachste Beispiel davon ist das sogenannte Parallelogramm der Kräfte. Wenn zwei Kräfte auf einen Körper in verschiedenen Richtungen wirken, so bewegt sich der Körper in der Richtung der Diagonale des Parallelogramms, welches auf den Wirkungsrichtungen der beiden Kräfte, als Seiten construirt wird, wenn die Länge dieser Seiten nach der respectiven Stärke der beiden Kräfte bestimmt ist. Hier wird die resultirende Bewegung des Körpers dadurch erklärt, dass man sie in die beiden Bewegungen zerlegt, welche der Körper ausgeführt haben würde, wenn er zuerst durch die eine Kraft allein und dann durch die andere Kraft allein bewegt worden wäre.

 

Eine andere Art der Vermittlung besteht darin, dass ein Antecedens mit einem Consequens nicht direct, sondern durch ein Drittes verbunden ist. Die Erläuterung dieser beiden Arten findet man in dem Kapitel von St. Mill’s Logik über die »Erklärung der Naturgesetze«, aus welchem ich hier nur die folgende Stelle anführe: »A schien die Ursache von C zu sein, es ergab sich aber in der Folge, dass A nur die Ursache von B war, und dass die Ursache von C ist.

 

 


 

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Man wusste z. B., dass durch die Berührung eines äusseren Gegenstandes eine Empfindung hervorgerufen wird; es wurde indessen zuletzt entdeckt, dass nach unserer Berührung des Gegenstandes, und bevor wir die Sensation erfahren, eine Veränderung in einer Art, von Strang, der Nerv genannt wird und sich von unseren äusseren Organen bis zum Gehirn erstreckt, stattfindet. Die Berührung des Gegenstandes ist also nur die entferntere Ursache unserer Empfindung, d. h. nicht die eigentlich sogenannte Ursache, sondern die Ursache der Ursache; die wirkliche Ursache der Empfindung ist die Veränderung in dem Zustande der Nerven« (M.’s Log. I, S. 546 – 7 [p.519 – 20]).

 

Die Erklärung eines solchen vermittelten Zusammenhangs besteht also darin, dass man das vermittelnde Glied, welches sich zuerst der Beobachtung entzog, aufdeckt und nachweist. Der Unterschied der beiden erwähnten Arten liegt, wie man sieht, darin, dass in dem ersteren Fall die Vermittelung eine zugleichseiende, in dem letzteren eine successive ist. Die zusammenwirkenden Ursachen vermitteln sich ihre gemeinsame Wirkung zugleich; dagegen steht das ein Antecedens mit einem Consequens vermittelnde Element in der Succession zwischen den beiden.

 

Alle Erklärung besteht mithin überhaupt in dem Zurückführen des Einzelnen und Besonderen auf das Allgemeine, des Zusammengesetzten auf das Einfache, des Veränderlichen auf das Beständige. Man will zuerst den Zusammenhang einer einzelnen Thatsache mit ihren realen Gründen oder Bedingungen wissen. Aber dieses kann nur inductiv, durch Constatirung eines Gesetzes des Zusammenhangs erreicht werden; und ein vermitteltes, abgeleitetes Gesetz fordert wiederum zu seiner Erklärung und Begründung die Erkenntniss der ursprünglichen, allgemeinsten Gesetze des unmittelbaren Zusammenhangs, aus deren Interferenz es hervorgeht und welche selbst, als unmittelbare und ursprüngliche, auch unveränderlich sind.

 

 


 

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Es ist nachgewiesen worden, dass die Welt, in welcher das Verschiedene nach Gesetzen zusammenhängt, durchweg ein blosses Geschehen ist, sowie auch umgekehrt Alles im Geschehen in nothwendiger Beziehung zu bestimmten Antecedentien steht. Einer Erklärung bedarf also bloss dasjenige, was zum Geschehen gehört, was seinem innersten Wesen nach ein Ereigniss, ein Vorgang, nicht aber ein seiendes Ding ist. Beim Erkennen dessen, was geschieht, kommen aber, wie schon früher erwähnt worden, zwei Dinge in Betracht: 1) Die Beschaffenheit desselben, dass es gerade ein solches und kein anderes ist, und 2) das Factum seines Entstehens oder Zustandekommens. Demgemäss muss alle wissenschaftliche Erklärung eines Vorgangs zwei Momente enthalten, erstens, die Ableitung des Vorgangs aus der Natur der Elemente, welche es bedingen, und zweitens, die Ableitung desselben aus einem bestimmten vorhergehenden Zustande dieser Elemente, den man zum Ausgangspunkte nimmt. So, um das klarste und einfachste Beispiel anzuführen, erklärt das Newton’sche Gesetz der Gravitation die Bewegungen der Himmelskörper in unserem Planetensystem unter der Voraussetzung, dass diese Körper in bestimmten Abständen von einander eine Bewegung mit bestimmter Geschwindigkeit in der Tangente zu ihren Bahnen schon erhalten haben. Diese Erklärung nimmt also zu Grunde nicht bloss die in dem Wesen der Körper liegende gegenseitige Anziehung nach einem bestimmten Gesetze und ihre respectiven Massen an, sondern auch ihre thatsächlichen Abstände von einander und ihre Einzelbewegungen. Die Kant-Laplace’sche Hypothese über die Entstehung unseres Sonnensystems greift weiter zurück und leitet die jetzt bestehenden Zustände desselben aus einem früheren verschiedenen ab, wo das ganze System eine einzige, höchst verdünnte und weit ausgedehnte kugelförmige Masse mit, einer rotirenden Bewegung gewesen ist, Auch diese nimmt also zum Erklärungsgrund nicht allein die Eigenschaften und Gesetze der Körper, sondern auch einen bestimm-

 

 


 

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ten Zustand derselben an. Wir müssen nun sehen, wie weit eine Erklärung in diesen beiden Richtungen gehen und welche Befriedigung dieselbe dem Denken endgültig gewähren kann.

 

Es ist klar, dass die empirische wissenschaftliche Erklärung der gegebenen Wirklichkeit ihr letztes und äusserstes Ziel erreicht haben wird, wenn es ihr gelingt, die ursprünglichen Elemente alles Daseienden zu entdecken, die unmittelbaren allgemeinsten Gesetze ihrer Wirksamkeit oder ihres gegenseitigen Zusammenhangs zu erforschen und dadurch in den Stand gesetzt zu werden, die gegebenen Zustände der Dinge aus diesen beiden deductiv abzuleiten unter der Voraussetzung eines bestimmten vorhergegangenen Zustandes, gerade so wie die Newton’sche Lehre es für die Bewegungen der Himmelskörper thut. Nicht mehr kann die Naturwissenschaft im Allgemeinen erreichen, als für die Gesammtheit der Dinge und Facta dasselbe zu leisten, was Newton’s Lehre für ein besonderes Gebiet derselben leistet. Was also die Wissenschaft nie leisten kann, ist: 1) Die ursprüngliche Beschaffenheit der Elemente und die unmittelbaren allgemeinsten Gesetze ihrer Wirksamkeit erklären und 2) einen schlechthin ersten Zustand derselben nachweisen, in welchem die sämmtlichen nachfolgenden Zustände ihren absoluten Ursprung hätten.

 

Aber, fragt es sich hier, warum soll und darf man auch dieses fordern? Wo liegt das Recht und der Anlass, in der Erklärung des Gegebenen so weit zu dringen?

 

Was einen schlechthin ersten Zustand der Dinge betrifft, so liegt das Recht und der Anlass, nach einem solchen zu fragen, klar am Tage. Denn keine Ableitung ist definitiv, wenn der Grund, aus welchem sie geführt wird, selbst ein abgeleiteter ist. Setzt der Zustand der Dinge, von welchen wir ausgehen, andere, vorhergegangene Zustände voraus, so führt uns eben das Bedürfniss, welches uns getrieben hat, die nachfolgenden Zustände im Zusammenhange mit diesem

 

 


 

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zu erkennen oder aus ihm abzuleiten, zu der Frage nach seinem Zusammenhange mit den vorhergegangenen Zuständen. Aber nicht allein können wir thatsächlich keinen schlechthin ersten Zustand der Dinge erreichen, sondern das Causalitätsgesetz selbst, welches uns nöthigt, einen Zusammenhang der successiven Zustände anzunehmen, das Nachfolgende auf das Vorhergehende zurückzuführen oder aus diesem abzuleiten, verbietet von vornherein, die Möglichkeit eines schlechthin ersten Zustandes auch nur abstract vorauszusetzen. Denn dieses Gesetz bedeutet eben, dass keine Veränderung ohne eine andere, vorhergehende zu Stande kommen kann, dass also eine erste Veränderung schlechterdings nicht möglich ist. Hier liegt eine wirkliche Antinomie vor, welche in einem Späteren Kapitel noch zur Sprache kommen wird.

 

Der Grund aber, warum sich das Denken selbst bei der Erkenntniss der ursprünglichen Gesetze des Daseienden nicht beruhigt, ist zuerst der, dass diese Gesetze etwas manifestiren, das nie selbst in der Wahrnehmung gegeben werden kann, nämlich den Zusammenhang der Erscheinungen, welcher ihrem Wesen innewohnt.*) Die Gesetze sind nicht selbst dasjenige,

 

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*) „Was man eine Erklärung eines Naturgesetzes durch ein anderes nennt,“ sagt Mill, „ist nur die Vertretung eines Räthsels (mystery) durch ein anderes, und macht den allgemeinen Gang der Natur nicht weniger geheimnissvoll; wir können für die allgemeineren Gesetze nicht mehr als für die partiellen ein Warum angeben. Die Erklärung kann ein Räthsel, an das man sich gewöhnt hat, und das daher nicht mehr räthselhaft zu sein scheint, an die Stelle eines anderen noch ungewohnten setzen“. (Log. I, S. 555 [p. 527]). Aber es ist ein Missverständniss, wenn H. Spencer meint, dass „weil die allgemeinste Einsicht, zu welcher wir gelangen, nicht auf eine noch allgemeinere zurückgeführt werden kann, dieselbe auch nicht verstanden werden kann.“ (First Pr. p. 73). Die allgemeinste Einsicht könnte auch selbstverständlich sein. Ein ähnliches Missverständniss ist es, wenn es in Platon’s „Theätetos“ heisst, dass die ersten Urbestandtheile, welche keine Erklärung aus weiteren Gründen zulassen, deshalb unerklärbar und unerkennbar, obgleich wahrnehmbar seien. Etwas kann sehr wohl keiner Erklärung fähig und zugleich keiner

 

 



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was das Verschiedene unter einander verbindet, sondern sie stellen bloss die Art, wie die innere, uns unzugängliche Verbindung der Erscheinungen in deren wahrnehmbaren Verhältnissen zu Tage tritt, dar. Man nennt dieses unbekannte Band der Dinge Vermögen, Kraft, Potenz u. s. w., ohne doch wissen zu können, wie dasselbe beschaffen ist. Denn obgleich dasjenige, was die Erscheinungen innerlich zusammenhält, selbst ein empirischer Gegenstand, ein integrirender Bestandtheil der Welt der Erscheinungen ist und durch Induction mit Gewissheit aus diesen erschlossen wird, so kann doch kein Schluss aus dem Wahrnehmbaren uns eine anschauliche Vorstellung von der Natur dieses der Wahrnehmung ewig unzugänglichen Objects verschaffen.

 

Indessen ist es gewiss, dass selbst wenn wir den inneren Zusammenhang der Dinge unmittelbar schauen könnten, dieses doch unserem Denken keine endgültige Befriedigung gewähren würde. Der Zusammenhang des Verschiedenen ist uns nicht allein aus dem Grunde unbegreiflich, weil wir ihn nie an sich, bloss in seinen Manifestationen erkennen können, sondern auch noch aus dem tieferen Grunde, weil er dem fundamentalen Gesetze unseres Denkens widerstreitet, wie ich das schon früher gezeigt habe. Aus diesem Grunde gibt es gar keinen synthetischen Satz, d. h. kein Urtheil, das die

 

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bedürftig sein. Wenn wir z. B. die Urbestandtheile des Wirklichen wahrnehmen könnten, so würden wir zwar dadurch nicht beruhigt werden, aber nicht deshalb, weil diese Elemente selbst auf keine weiteren zurückgeführt werden können, sondern weil wir in denselben etwas Geheimnissvolles, der Wahrnehmung sich Entziehendes würden voraussetzen müssen, nämlich ihren inneren Zusammenhang unter einander. Denkt man sich dagegen die Urbestandtheile als ganz getrennte Elemente, welche keine geheimnissvollen Beziehungen zu einander bergen, so würde die Wahrnehmung derselben dem Denken eino vollkommene Erkenntniss und Befriedigung geben. Denn in der Wahrnehmung wäre dann eben Alles gegeben, was die Natur dieser Elemente enthält, ohne jeden undurchsichtigen und unfassbaren Rest.

 

 


 

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Verbindung zweier Daten ausdrückt, bei welchem sich das Denken unbedingt beruhigen könnte, ohne nach einem weiteren Warum zu fragen. Daher sucht man sogar nach einem Beweis der einfachen fundamentalen Annahmen, von welchen z. B. die Geometrie ausgeht, trotzdem dass dieselben unmittelbar gewiss sind. Denn die Gesetze des Raumes bedeuten einen Zusammenhang der verschiedenen Eigenschaften oder Bestimmungen desselben, welcher, obgleich a priori gegeben, nie in seinem innersten Wesen dem Denken einleuchtend werden kann, weil er eben ein Zusammenhang des Verschiedenen ist. Warum hat z. B. der Raum nur drei Dimensionon? D. h. warum unter den unzähligen möglichen Richtungen, deren Totalität der Raum einschliesst, gibt es bloss und kann es bloss drei geben, welche zueinander senkrecht stehen? Dieses kann weder unmittelbar eingesehen noch aus irgend einem anderen Grunde einleuchtend gemacht werden. Wir wissen bloss, dass dem nun einmal so ist, und müssen uns dabei beruhigen, obgleich das Denken unbefriedigt bleibt.*)

 

Dasselbe gilt noch mehr von den Gesetzen der Wirklichkeit. Obgleich man z. B. sagen kann, dass das allgemeine Gesetz der Mittheilung der Bewegung in einer gewissen Hinsicht a priori gewiss ist, so folgt doch die Gewissheit desselben nicht etwa aus dem Wesen und dem Begriffe der Körper, sondern bloss aus der Nothwendigkeit eines Maasses für die bewegenden Kräfte, welches weder durch die Masse

 

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*) Ja, einige Denker haben sogar die Ansicht ausgesprochen, dass ein Raum mit vier, fünf und mehreren Dimensionen sehr wohl denkbar und möglich sei. Allein dies beruht, wie ich glaube, auf einem Missverständniss, auf der Verkennung der fundamentalen Eigenschaft des Raumes, welche darin besteht, die Totalität aller möglichen Richtungen in sich zu enthalten. Man kann sich nicht einmal hypothetisch einen Raum denken, welcher mehr Richtungen enthielte, als der uns bekannte. Aber eine Dimension ist doch auch nichts Anderes, als eine Richtung. Es ist also klar, dass wenn eine vierte Dimension vorhanden wäre, dieselbe nothwendig in unserem Raume angetroffen werden müsste.

 

 


 

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allein noch durch die Geschwindigkeit allein, sondern nur durch beide zusammengenommen geliefert werden kann. Aus dem Begriffe eines Körpers dagegen kann man nie ersehen, dass derselbe bei dem Stosse sich bewegen muss, und noch weniger mit welcher Geschwindigkeit im Verhältniss seiner Masse zu der Masse und der Geschwindigkeit des stossenden Körpers. Vielmehr bedeutet dieses Gesetz der Mittheilung der Bewegung eine dem Wesen der Körper innewohnende Relativität, Beziehung auf einander, welche dem Begriffe des Körpers, als einer Substanz, schlechthin widerspricht. Dieses zeigt sich denn auch in der sog. Inertie der Körper, welche eben bedeutet, dass der Grund ihrer Bewegungen nicht in den Körpern selbst liegt, dass denselben vielmehr alle Bewegung an sich fremd ist. Wie könnte sonst die Bewegung eines Körpers von diesem getrennt und auf einen anderen übertragen werden?

 

Aber im Grunde sind die mechanischen Gesetze der Körper gar nicht die wirklichen ursprünglichen Gesetze der Natur, obgleich sie uns auf dem Standpunkte des empirischen Erkennens nothwendig so erscheinen müssen. Denn die Körper sind in Wahrheit eine blosse Vorstellungsart unserer Empfindungen. Ich habe gezeigt, dass unsere Empfindungen dem apriorischen Gesetze des Denkens so angepasst sind, dass die Gruppen derselben als Dinge im Raume, als reale Gegenstände ausser uns vorgestellt werden können. Infolge dieser Anpassung müssen uns die Gesetze und Verhältnisse der Empfindungen als durch die Gesetze und Verhältnisse der Körper vermittelt und bedingt erscheinen. Ausführlicher werde ich diesen Punkt im 2. Bande zu erklären suchen. In der That sind aber die Gesetze der Empfindungen allein die ursprünglichen Gesetze der Natur. Dass gewisse Empfindungen stets zusammen in Gruppen vorkommen und dass wiederum andere unveränderlich aufeinander folgen, diese Gleichförmigkeit der Coexistenz und Succession ist in ihren elementaren Bestimmungen, in ihren ursprünglichen allgemeinsten Gesetzen allein

 

 


 

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dasjenige, worin sich ein realer, unvermittelter Zusammenhang des Verschiedenen kund gibt, für welchen kein weiterer Grund angegeben werden kann, bei welchem sich aber das Denken nicht entschlagen kann, nach dem Grunde, nach dem Warum zu fragen.

 

Denn die einzige, im strengen und eigentlichen Sinne selbstverständliche Einsicht ist diejenige, welche der Satz der Identität ausdrückt, nämlich die, dass ein jeder Gegenstand in seinem wahrhaft eigenen Wesen mit sich selbst identisch ist. Keinem Menschen kann es einfallen, zu fragen: Warum ein Gegenstand mit sich selbst identisch sein soll? Denn dieses leuchtet uns unmittelbar ein, kraft des ursprünglichen Gesetzes, welches das Wesen unseres Denkens selbst constituirt. Wären die Gegenstände der Erfahrung mit diesem Gesetze übereinstimmend, wäre alles Gegebene mit sich selbst wirklich identisch, so würde für ein Warum überhaupt kein Platz und kein Anlass vorhanden sein. Alles würde sich dann von selbst verstehen; ein Uebergehen von Einem zum Anderen wäre weder möglich noch nöthig. Ein Zusammenhang des Verschiedenen implicirt dagegen, dass die unter einander verbundenen Elemente mit sich selbst nicht vollkommen identisch sind. Dies ist der Grund sowohl davon, dass dieselben einer Erklärung bedürfen, als auch davon, dass die physikalische Erklärung der Wirklichkeit dem Denken keine absolute, endgültige Befriedigung geben kann. Denn die empirische Wissenschaft kann nur den Zusammenhang der Erscheinungen aufdecken, oder vielmehr nicht einmal diesen selbst, sondern bloss die Gesetze desselben, d. h. die verschiedenen (unveränderlichen) Weisen seiner Manifestation. Aber ein Zusammenhang des Verschiedenen ist dem Denken an und für sich unbegeiflich, weil er dem ursprünglichen Gesetze des Denkens widerstreitet. Daher das unablässige Bestreben, über die Erfahrung hinauszugehen, in der Absicht, diesen Widerstreit zu schlichten, was sich eben die Metaphysik zur Aufgabe macht. Das Ziel der Metaphysik ist, das Unbedingte, dessen

 

 


 

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Begriff in dem ursprünglichen Gesetze des Denkens sich ausdrückt, mit der Welt des Bedingten, wo Alles unter einander zusamnenhängt, in Verbindung zu bringen, im Verhältnisse von Grund und Folge zu einander zu fassen, kurz, eine Synthese der beiden zu entdecken, welche sie in einer gemeinsamen, mit sich selbst übereinstimmenden Auffassung vereinigte.

 

Wenn dieses gelingen könnte, so würde man die gegebene Wirklichkeit in der That vollkommen begreifen. Dann würde der Grund der Unbegreiflichkeit der Natur selbst beseitigt sein, welcher eben darin liegt, dass die Beschaffenheit der Naturobjecte mit dem Grundgesetze unseres Denkens nicht übereinstimmt. Aber alle Versuche einer solchen metaphysischen Erklärung sind verfehlt und gescheitert, wie man aus Erfahrung weiss. Der Grund, warum sie alle scheitern mussten, liegt ja schon in dem Umstande selbst, welcher sie veranlasst, nämlich in dem Widerstreit, der zwischen dem Gesetze des Denkens und der Beschaffenheit der gegebenen Dinge besteht. Keine Operationen des Denkens vermögen weder die Relativität und Veränderlichkeit der Naturobjecte zu entfernen, noch das Denkgesetz, welchem diese Eigenschaften der Naturobjecte widerstreiten, abzuändern.

 

Wenn wir nun in dem Hinaufsteigen zu den Gründen keine endgültige Befriedigung erreichen können, so gewährt sie uns dagegen im vollen Maasse das Hinabsteigen von den Gründen zu den Folgen. Denn die Prämissen einmal zugegeben, ergeben sich aus denselben die Folgerungen durch Substitution des Gleichen für das Gleiche oder des Identischen für das Identische. Das Grundaxiom aller Syllogismen, dass von identischen Dingen dasselbe prädicirt werden kann, ist ein analytischer, selbstverständlicher Satz, welcher dem Denken gar keine Schwierigkeit darbietet. Obgleich also mittelst Syllogismen manchmal neue, vorher unbekannte, oder wenigstens dem Denken unbewusste Gesetze des Zusammenhangs entdeckt werden können, so bringen sie doch dem Denken

 

 


 

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keine neue Verlegenheit, sondern scheinen im Gegentheil ganz begreiflich und lichtvoll zu sein, weil alles Unbegreifliche, dem Denken Undurchdringliche in den fündamentalen Annahmen und Thatsachen, nicht aber in dem Processe der Ableitung liegt.