SECHSTES
KAPITEL.
DER WAHRE
SINN DER RELATIVITÄT ALLES WISSENS.
In neuerer
Zeit hat man in
Die
Relativität alles Wissens.
315
der
Voraussetzung, dass die Dinge an sich nicht so sind,
wie für uns und dass wir dieselben nur so erkennen
können, wie sie für uns sind. Leugnet man diesen Unterschied
des Ansich und des Füruns, so ist zwar alles Wissen relativ, aber
diese Relativität implicirt dann keine Unwahrheit des Wissens,
keine Beschränkung seiner Gültigkeit. Dann wäre das
Wissen unbedingt wahr. Mit der Relativität des Wissens dagegen
will man eigentlich behaupten, dass unser Wissen nicht unbedingt wahr
sei.
Die Lehre
von der Relativität des Wissens hat sich im Gegensatze zu dem
gewöhnlichen Bewusstsein ausgebildet, was man nicht übersehen
darf. Der nichtreflectirende Mensch nun glaubt: 1) Dass er die Dinge
gerade so erkennt, wie sie an sich sind, und 2) dass diese Dinge, eben
wie sie erkannt werden, unabhängig von der Erkenntniss existiren,
unbedingte Gegenstände sind. Die Unverträglichkeit dieser
beiden Bestimmungen hat die ersten skeptischen Bedenken erweckt, welche
sich am Ende zu der hier besprochenen Lehre entwickelt haben. Schon Protagoras
hat den Satz aufgestellt, dass der Mensch das Maass aller Dinge
sei, der seienden, wie sie sind, der nichtseienden, wie sie nicht sind,
was nach der Auslegung des Socrates in Platon’s »Theätetos«
bedeutet, »dass wie ein jedes Ding mir erscheint, ein solches ist
es auch mir, und wie es dir erscheint, ein solches ist es wiederum
dir.« Damit hatte Protagoras anscheinend die Lehre von
der Relativität des Wissens in ihrer äussersten Ausdehnung
gepredigt. Allein gerade wenn man diese Lehre zu weit ausdehnt,
schlägt sie in ihr Gegentheil um und legt unseren Erkenntnissen
eine uneingeschränkte Gültigkeit und Wahrheit bei, welche den
Thatsachen widerstreitet. Der Satz des Protagoras implicirt
nämlich, dass die erkennbaren Objecte von unserer Erkenntniss
derselben nicht unterschieden seien, weil sonst natürlich das
erkennende Subject nicht das Maass der Dinge sein könnte. Aber
wenn die Erkenntniss und ihr Object nicht zwei, sondern eins sind, dann
kann es
316 Drittes
Buch. Sechstes Kapitel.
selbstverständlich
keine Unwahrheit und Relativität des Wissens geben. Eine Relation
ist doch nicht denkbar ohne zwei Dinge, zwischen denen sie besteht, und
ohne Relation ist natürlich auch keine Relativität
möglich. Die Unhaltbarkeit dieser Ansicht kommt denn auch
überall da zu Tage, wo der Unterschied der Objecte von
unseren Erkenntnissen klar hervortritt, und dies ist bei jedem
factischen Irrthum der Fall. So hat schon Platon, im
»Theätetos« geltend gemacht, dass erstens alle
Menschen dieselben Gegenstände zu erkennen glauben, und dass also,
wenn diese Gegenstände verschiedenen Menschen verschieden
erscheinen, nicht alle diese Erscheinungsweisen gleich wahr sein
können. Und zweitens, dass wenn man auch von diesen gemeinsamen
äusseren Objecten abstrahirt und bloss die eigenen Zustände
und Empfindungen eines Menschen in Betracht zieht, auch dort nicht
Alles so ist, wie es diesem erscheint. Treffend bemerkt Platon, dass
den künftigen Verlauf seiner eigenen krankhaften Zustände
weniger sicher und richtig der Patient selbst voraussehen kann, als der
Arzt, der die Natur seiner Krankheit kennt.
Die extremen
Verfechter der Relativität des Wissens in unserer Zeit nähern
sich nun dem Protagoras ganz wesentlich. Denn nach ihrer
Ansicht sind die Empfindungen, welche die einzigen Objecte in der
Wirklichkeit sein sollen, zugleich nicht unterschieden von unserer
Erkenntniss derselben. Darnach wären aber die Empfindungen die
wahren Dinge an sich und von einer Unwahrheit in der Auffassung
würde gar nicht die Rede sein können. Denn wie könnte
Nichtübereinstimmung zwischen der Erkenntniss und ihrem Objecte,
d. h. Unwahrheit stattfinden, wenn Erkenntniss und Object beide eins
und dasselbe wären? Allein dies widerstreitet der Thatsache, dass
wir unsere Empfindungen nicht als das, was sie sind, nicht als
Affectionen und Zustände in uns, sondern als reale
Gegenstände ausser uns erkennen und erkennen müssen. In der
That kann kein Empirismus weder mit den Thatsachen, noch mit der Lehre
von der Relativität des Wissens vereinigt
Die
Relativität alles Wissens.
317
werden.
Diese Lehre hat einen vernünftigen Sinn nur unter der
Voraussetzung: 1) Dass die erkennbaren Gegenstände durch die
eigene, apriorische Natur des erkennenden Subjects bedingt sind, und 2)
dass dieselben gerade wegen dieser ihrer Relativität nicht das
wahre, unbedingte Wesen der Wirklichkeit repräsentiren.
Was meint
man denn mit der Behauptung, dass die erkennbaren Objecte relativ in
Bezug auf das Subject sind, in nothwendiger Beziehung zu diesem stehen?
Doch wohl, dass in dem Wesen derselben eine Rücksicht auf das
Subject, eine ursprüngliche Anpassung an die Gesetze desselben
enthalten sei. Aber diese Relativität der Objecte würde
noch keine Relativität des Wissens ausmachen, wenn es
nämlich zur eigenen, ursprünglichen Natur der Dinge
gehörte, sich auf das Subject zu beziehen. Denn dann würde
eben der Unterschied des Ansich und des Füruns in den Dingen
wegfallen; die Art, wie die Objecte ursprünglich an sich sind,
würde eben in diesem Falle identisch sein mit der Art, wie sie
für das erkennende Subject sind. Dass dem nicht so ist, erfahren
wir
aus der
Thatsache, dass wir die empirischen Objecte als Substanzen im Raume
erkennen, welche unabhängig von jeder Beziehung auf ein Subject
bestehen.
Diese
Thatsache lehrt uns offenbar zweierlei:
l) Dass
unserem Begriffe gemäss ein jeder Gegenstand an sich unbedingt und
vom Subjecte unabhängig ist. Aber auch 2) dass die empirischen
Objecte mit diesem Begriffe logisch nicht übereinstimmen, gerade
weil sie factisch demselben angepasst sind, d. h. also in
wesentlicher Beziehung zum erkennenden Subjecte stehen.
Demgemäss
bedeutet die Relativität des Wissens Folgendes:
Die
scheinbaren Gegenstände unserer Erkenntniss, die Körper sind
zwar ihrem Begriffe nach unbedingt, aber diese Erkenntniss hat selbst
eine nur bedingte Wahrheit und Gültigkeit. Denn unserer
Körpererkenntniss entsprechen, wie wir wissen
318 Drittes
Buch. Sechstes Kapitel.
keine
wirklichen Dinge, sondern nur eine wirklich vorhandene Natureinrichtung
unserer Empfindungen, welche die Auffassung derselben als Dinge im
Baume möglich macht.
Dagegen
existiren die Empfindungen selbst, die gegebenen Objecte der Erfahrung
wirklich und es ist von denselben eine absolut wahre, ohne Bedingung
und Einschränkung gültige Erkenntniss möglich,
nämlich wenn man sie gerade für das nimmt, was sie sind, d.
h. für Empfindungen in uns; – aber diese Objecte sind selbst nicht
unbedingt, sind keine Substanzen oder Dinge an sich, sondern blosse
Erscheinungen, Phänomena, d. h. repräsentiren die
Wirklichkeit nicht wie sie an sich, in ihrem ursprünglichen,
unbedingten Wesen ist, sondern in der ihr fremden Form der Vielheit des
Wechsels und des Gegensatzes oder der Dualität von Subject und
Object des Erkennens.