SECHSTES KAPITEL.

DER WAHRE SINN DER RELATIVITÄT ALLES WISSENS.

 

In neuerer Zeit hat man in England die Lehre von der Relativität des Wissens mit besonderer Vorliebe gepflegt und discutirt. Zuerst hat dort mit grossem Nachdruck, so viel ich weiss, W. Hamilton diese Lehre vorgetragen, der jedoch dieselbe nicht consequent festhielt. In dem Werke St. Mill’s über die Philosophie Hamilton’s sind zwei Kapitel (das 2. und 3.) der Erörterung dieser Lehre gewidmet. Besonders interessant ist das zweite Kapitel, weil darin alle die verschiedenen Nuancen der betreffenden Lehre kurz und klar auseinandergesetzt sind. Ich glaube aber, dass dieser ausgezeichnete Denker, trotz seines grossen Scharfsinns, einen wesentlichen Punkt in der Behauptung der Relativität des Wissens übersehen hat. Mill meint nämlich, die Relativität des Wissens bestehe darin, dass wir bloss unsere eigenen Affectionen und inneren Zustände erkennen können. Nach seiner Ansicht vertreten daher diejenigen die Lehre von der Relativität des Wissens in ihrem extremsten Sinne, welche behaupten, dass wir ausser unseren eigenen Zuständen nicht allein nichts erkennen, sondern dass es auch überhaupt weiter gar nichts zu erkennen gebe. (S. Exam. etc. p. 9). Allein das ist ein offenbares Missverständniss. Mit der Relativität des Wissens nimmt man ein Element der Unwahrheit, der unvollkommenen objectiven Gültigkeit desselben an. Die Behauptung der Relativität des Wissens hat nur Sinn unter

 

 


 

Die Relativität alles Wissens.            

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der Voraussetzung, dass die Dinge an sich nicht so sind, wie für uns und dass wir dieselben nur so erkennen können, wie sie für uns sind. Leugnet man diesen Unterschied des Ansich und des Füruns, so ist zwar alles Wissen relativ, aber diese Relativität implicirt dann keine Unwahrheit des Wissens, keine Beschränkung seiner Gültigkeit. Dann wäre das Wissen unbedingt wahr. Mit der Relativität des Wissens dagegen will man eigentlich behaupten, dass unser Wissen nicht unbedingt wahr sei.

 

Die Lehre von der Relativität des Wissens hat sich im Gegensatze zu dem gewöhnlichen Bewusstsein ausgebildet, was man nicht übersehen darf. Der nichtreflectirende Mensch nun glaubt: 1) Dass er die Dinge gerade so erkennt, wie sie an sich sind, und 2) dass diese Dinge, eben wie sie erkannt werden, unabhängig von der Erkenntniss existiren, unbedingte Gegenstände sind. Die Unverträglichkeit dieser beiden Bestimmungen hat die ersten skeptischen Bedenken erweckt, welche sich am Ende zu der hier besprochenen Lehre entwickelt haben. Schon Protagoras hat den Satz aufgestellt, dass der Mensch das Maass aller Dinge sei, der seienden, wie sie sind, der nichtseienden, wie sie nicht sind, was nach der Auslegung des Socrates in Platon’s »Theätetos« bedeutet, »dass wie ein jedes Ding mir erscheint, ein solches ist es auch mir, und wie es dir erscheint, ein solches ist es wiederum dir.« Damit hatte Protagoras anscheinend die Lehre von der Relativität des Wissens in ihrer äussersten Ausdehnung gepredigt. Allein gerade wenn man diese Lehre zu weit ausdehnt, schlägt sie in ihr Gegentheil um und legt unseren Erkenntnissen eine uneingeschränkte Gültigkeit und Wahrheit bei, welche den Thatsachen widerstreitet. Der Satz des Protagoras implicirt nämlich, dass die erkennbaren Objecte von unserer Erkenntniss derselben nicht unterschieden seien, weil sonst natürlich das erkennende Subject nicht das Maass der Dinge sein könnte. Aber wenn die Erkenntniss und ihr Object nicht zwei, sondern eins sind, dann kann es

 

 


 

316 Drittes Buch. Sechstes Kapitel.

 

selbstverständlich keine Unwahrheit und Relativität des Wissens geben. Eine Relation ist doch nicht denkbar ohne zwei Dinge, zwischen denen sie besteht, und ohne Relation ist natürlich auch keine Relativität möglich. Die Unhaltbarkeit dieser Ansicht kommt denn auch überall da zu Tage, wo der Unterschied der Objecte von unseren Erkenntnissen klar hervortritt, und dies ist bei jedem factischen Irrthum der Fall. So hat schon Platon, im »Theätetos« geltend gemacht, dass erstens alle Menschen dieselben Gegenstände zu erkennen glauben, und dass also, wenn diese Gegenstände verschiedenen Menschen verschieden erscheinen, nicht alle diese Erscheinungsweisen gleich wahr sein können. Und zweitens, dass wenn man auch von diesen gemeinsamen äusseren Objecten abstrahirt und bloss die eigenen Zustände und Empfindungen eines Menschen in Betracht zieht, auch dort nicht Alles so ist, wie es diesem erscheint. Treffend bemerkt Platon, dass den künftigen Verlauf seiner eigenen krankhaften Zustände weniger sicher und richtig der Patient selbst voraussehen kann, als der Arzt, der die Natur seiner Krankheit kennt.

 

Die extremen Verfechter der Relativität des Wissens in unserer Zeit nähern sich nun dem Protagoras ganz wesentlich. Denn nach ihrer Ansicht sind die Empfindungen, welche die einzigen Objecte in der Wirklichkeit sein sollen, zugleich nicht unterschieden von unserer Erkenntniss derselben. Darnach wären aber die Empfindungen die wahren Dinge an sich und von einer Unwahrheit in der Auffassung würde gar nicht die Rede sein können. Denn wie könnte Nichtübereinstimmung zwischen der Erkenntniss und ihrem Objecte, d. h. Unwahrheit stattfinden, wenn Erkenntniss und Object beide eins und dasselbe wären? Allein dies widerstreitet der Thatsache, dass wir unsere Empfindungen nicht als das, was sie sind, nicht als Affectionen und Zustände in uns, sondern als reale Gegenstände ausser uns erkennen und erkennen müssen. In der That kann kein Empirismus weder mit den Thatsachen, noch mit der Lehre von der Relativität des Wissens vereinigt

 

 


 

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werden. Diese Lehre hat einen vernünftigen Sinn nur unter der Voraussetzung: 1) Dass die erkennbaren Gegenstände durch die eigene, apriorische Natur des erkennenden Subjects bedingt sind, und 2) dass dieselben gerade wegen dieser ihrer Relativität nicht das wahre, unbedingte Wesen der Wirklichkeit repräsentiren.

 

Was meint man denn mit der Behauptung, dass die erkennbaren Objecte relativ in Bezug auf das Subject sind, in nothwendiger Beziehung zu diesem stehen? Doch wohl, dass in dem Wesen derselben eine Rücksicht auf das Subject, eine ursprüngliche Anpassung an die Gesetze desselben enthalten sei. Aber diese Relativität der Objecte würde noch keine Relativität des Wissens ausmachen, wenn es nämlich zur eigenen, ursprünglichen Natur der Dinge gehörte, sich auf das Subject zu beziehen. Denn dann würde eben der Unterschied des Ansich und des Füruns in den Dingen wegfallen; die Art, wie die Objecte ursprünglich an sich sind, würde eben in diesem Falle identisch sein mit der Art, wie sie für das erkennende Subject sind. Dass dem nicht so ist, erfahren wir

aus der Thatsache, dass wir die empirischen Objecte als Substanzen im Raume erkennen, welche unabhängig von jeder Beziehung auf ein Subject bestehen.

 

Diese Thatsache lehrt uns offenbar zweierlei:

 

l) Dass unserem Begriffe gemäss ein jeder Gegenstand an sich unbedingt und vom Subjecte unabhängig ist. Aber auch 2) dass die empirischen Objecte mit diesem Begriffe logisch nicht übereinstimmen, gerade weil sie factisch demselben angepasst sind, d. h. also in wesentlicher Beziehung zum erkennenden Subjecte stehen.

 

Demgemäss bedeutet die Relativität des Wissens Folgendes:

 

Die scheinbaren Gegenstände unserer Erkenntniss, die Körper sind zwar ihrem Begriffe nach unbedingt, aber diese Erkenntniss hat selbst eine nur bedingte Wahrheit und Gültigkeit. Denn unserer Körpererkenntniss entsprechen, wie wir wissen

 

 


 

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keine wirklichen Dinge, sondern nur eine wirklich vorhandene Natureinrichtung unserer Empfindungen, welche die Auffassung derselben als Dinge im Baume möglich macht.

 

Dagegen existiren die Empfindungen selbst, die gegebenen Objecte der Erfahrung wirklich und es ist von denselben eine absolut wahre, ohne Bedingung und Einschränkung gültige Erkenntniss möglich, nämlich wenn man sie gerade für das nimmt, was sie sind, d. h. für Empfindungen in uns; – aber diese Objecte sind selbst nicht unbedingt, sind keine Substanzen oder Dinge an sich, sondern blosse Erscheinungen, Phänomena, d. h. repräsentiren die Wirklichkeit nicht wie sie an sich, in ihrem ursprünglichen, unbedingten Wesen ist, sondern in der ihr fremden Form der Vielheit des Wechsels und des Gegensatzes oder der Dualität von Subject und Object des Erkennens.