VIERTES
KAPITEL.
DAS REALE
IST AN SICH EINS.
Es ist
gezeigt worden, dass alle Vereinigung des Verschiedenen dem unbedingten
Wesen der Dinge fremd ist. Denn eine unbedingte Vereinigung des
Verschiedenen würde einen Widerspruch ausmachen, kann also in der
Wirklichkeit nicht vorkommen und eine bedingte Verbindung desselben
nach Gesetzen, obgleich nicht widersprechend und unmöglich, ist
eben auch nicht unbedingt und kann mithin zum Ansich der Dinge nicht
gehören. Da nun also die gegebene Welt, in welcher das
Verschiedene durchgängig unter einander nach Gesetzen
zusammenhängt, die Erscheinung des Wirklichen in einer diesem an
sich fremden Beschaffenheit ist, so fragt es sich: Was ist dieses
fremde Element in der gegebenen Welt, ob ihre Vielheit oder ihre
Einheit?
Man wird
vielleicht meinen, dass ich die Frage nach der Einheit oder Vielheit
des Unbedingten eher untersuchen sollte, als dessen Verhältniss zu
der gegebenen Wirklichkeit, da die Verhältnisse eines Dinges auch
von dessen Beschaffen-
296 Drittes
Buch. Viertes Kapitel.
heit
abhängen. Allein wir haben bloss zwei Data, auf welche ein Schluss
auf das Wesen des Realen an sich begründet werden kann,
nämlich: Erstens, den apriorischen Begriff eines Realen, eines
Objects, nach welchem dasselbe in seinem eigenen Wesen mit sich selbst
vollkommen identisch ist, und zweitens, die Beschaffenheit der
gegebenen Welt. Da nun diese letztere also die einzige
thatsächliche, factische Prämisse des Schlusses ist, so
müssen wir offenbar das Verhältniss der Welt zum Unbedingten
untersuchen, ehe wir von ihr auf dieses schliessen wollen. Denn nur aus
der Art, wie sich das Gegebene zu dem Unbedingten oder dem Realen an
sich verhält, kann etwas aus ersterem in Hinsicht des letzteren
gefolgert werden. – Verfährt man in umgekehrter Ordnung, so wird
man unvermeidlich zu Trugschlüssen verleitet, welche die ganze
Auffassungsweise des Gegenstandes von vornherein verrücken und
verfälschen. So hat z. B. Herbart eine Mehrheit von
Realen oder Substanzen angenommen, weil er, ohne vorhergehende
Untersuchung, als etwas Selbstverständliches voraussetzte, dass
das Gegebene eine Wirkung des Realen an sich sei und sich aus
diesem nothwendig ableiten lassen müsse. Ihm war es eben
hauptsächlich um eine Erklärung des Gegebenen zu thun, und da
»schon der geringste Versuch der Natureklärung sogleich auf
Vielheit der Realen führt« (All. Met. I, S.
590), so hat er also ganz unbedenklich den Satz aufgestellt: »Wie
viel Schein, so viel Hindeutung aufs Seyn« (Eb. II, 79). Wenn
man aber diesen Satz in der Form eines Syllogismus auseinangerlegt, so
lautet er folgendermassen:
Das Gegebene
ist nicht das Reale an sich (dies besagt sein Prädikat
»Schein«);
Das Gegebene
(der Schein) ist vielfach;
Also ist
auch das Reale an sich vielfach, was ein offenbarer handgreiflicher
Paralogismus ist.*)
_______
*) An diesem
Satze Herbart’s „wie viel Schein, so viel Hindeutung aufs
Seyn“ zeigt sich der Gegensatz der beiden oben erwähnten Wege
Das Reale
ist an sich eins.
297
Uns dagegen
kommt es nicht darauf an, zu erklären, sondern bloss zu erkennen.
Wir wollen nicht wissen, wie das Gegebene aus dem Realen an sich oder
dem Unbedingten hervorgehe, sondern wir wollen bloss wissen, was mit
Recht aus der Beschaffenheit des ersteren auf die des letzteren
gefolgert werden könne und dürfe. Und dann ist es nach den
vorhergehenden Untersuchungen klar, dass wir zu einem dem Herbart’schen
entgegengesetzten Schlusse gelangen müssen. Aus der Beschaffenheit
der gegebenen Welt ergibt sich nicht die Vielheit, sondern die Einheit
des Realen an sich. Die Annahme einer Vielheit von Substanzen,
Noumenen oder Dingen an sich kann eben nur dann einen Sinn haben, wenn
_______
zum
Hinausgehen über das Gegebene und die Unhaltbarkeit des von den
Metaphysikern eingeschlagenen Weges so besonders deutlich, dass ich ihn
nicht ohne einige Bemerkungen lassen will. Der obige Satz sezt offenbar
als nothwendige Prämisse die Annahme voraus, dass das Sein (das
Unbedingte) den zureichenden Grund vom Schein enthalte. Nur unter der
Voraussetzung dieser Prämisse konnte jene Behauptung
überhaupt Jemandem einfallen. Und so sagt auch Herbart in
der That: „Wenn das Reale nicht wirkte, woher käme dann die
Erscheinung?“ (Allg. II. 68). Aber gerade diese Prämisse
ist so augenscheinlich unhaltbar, dass Herbart selbst sagt:
„Sehen wir schon ein, dass die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen,
so wissen wir hiermit, dass wir die Unwahrheit des Scheins fern
halten müssen von der Wahrheit des Seyenden .... Es läge
ja sonst im Seyenden der Keim seines Gegentheils“ (Eb.) „Also“, fügt er hinzu, „sind
Mittelglieder nöthig“. Diese Conclusion ist äusserst
bezeichnend und bemerkenswerth. Trotz der klaren Einsicht, dass der
„Schein“ etwas dem Seienden oder den Dingen an sich Fremdes
enthält, wovon in diesen auch nicht der „Keim“ liegen kann, will Herbart
dennoch den Schein aus dem Sein ableiten und erklären, weil
sich ihm von vornherein, ohne Prüfung der Glaube eingeprägt
hat, dass das Unbedingte, das Seiende der zureichende Grund des
Gegebenen enthalten müsse: „Wenn das Reale nichts wirkte, woher
käme dann die Erscheinung?“ Auf die offenkundige Thatsache, dass
jedes Ereigniss ein anderes vorhergehendes und so weiter ins Unendliche
voraussetzt, dass also die Reihe der Ereignisse keiner definitiven
Begründung, d. h. dass das Gegebene keiner Erklärung oder
Ableitung aus dem Unbedingten fähig ist, hat Herbart keine
Rücksicht genommen.
298 Drittes
Buch. Viertes Kapitel.
das Gegebene
als eine Folge oder als ein Produkt der Einwirkung dieser Dinge auf
einander angesehen werden darf. Allein es ist gezeigt worden, dass
gerade diese Auffassung vollkommen unzulässig, dass die Annahme
einer solchen Einwirkung der Dinge ganz müssig ist, da wir nichts
von derselben in dem ganzen Umfange unserer Erfahrung antreffen und es
ausserdem dem Begriffe eines Dinges an sich direct widerspricht, eine
Ursache zu sein. Die Vielheit der Dinge oder Substanzen (d. i. der
Körper), welche wir in der Erfahrung wahrzunehmen scheinen,
existirt notorisch und nachweisbar nicht in der Wirklichkeit. Hinter
dieser scheinbaren Welt aber noch eine imaginäre Welt von
unerkennbaren Substanzen annehmen heisst offenbar, einen schlechten
Spass mit ernster Miene ausführen. Sagt doch Herbart selbst
ganz richtig: »Hilft es etwas, wenn man die gegebene Sinnenwelt
durch eine andere erdichtete vermehrt? >(All. Met. II, S.
162).
Wenn wir von
dem Gegebenen zu dem Unbedingten nicht durch einen Schluss auf die
Ursache gelangen können, sondern bloss durch das Bewusstsein, dass
das Reale an sich, in Wahrheit nicht so beschaffen ist, wie
wir es in der Erfahrung erkennen, so müssen wir nothwendig die
Vielheit des Realen an sich leugnen. Denn da das Gegebene die
Darstellung des Realen, nicht wie dasselbe an sich ist, sondern in
einer anderen, also diesem fremden Beschaffenheit ist, und da eben die
Beschaffenheit des Gegebenen die Form der Vielheit trägt, so
müssen wir eben die Vielheit als dem Realen an sich fremd
betrachten. So sehen wir denn auch, dass das Gegebene in seiner
Vielfachheit und Mannigfaltigkeit ein blosses Geschehen ist, einem
steten Wechsel unterworfen. Der Wechsel bedeutet aber, wie schon
gezeigt (s. oben S. 215) die sich thatsächlich bewährende Zufälligkeit
der Formen, in welchen das Reale gegeben ist, d. h. die Nichtzugehörigkeit
derselben zu dessen eigenem Wesen. In dem Wechsel des
Mannigfaltigen erweist sich mithin auch die
Das Reale
ist an sich eins.
299
Mannigfaltigkeit
desselben als etwas dem Realen an sich, dem wahren Wesen der
Wirklichkeit Fremdes.
Ist nun aber
das Reale an sich eins, so ist dasselbe auch einfach, nämlich
mit sich selbst vollkommen identisch, also ohne alle Unterschiede in
seinem Wesen. Geben wir das Geringste von der Identität des Realen
mit sich, also auch von seiner Einfachheit auf, so lassen wir damit
eben den Begriff fallen, auf Grund dessen allein wir ein von der
gegebenen Wirklichkeit unterschiedenes Wesen der Dinge nicht bloss
behaupten, sondern auch nur vermuthen können. Allein diesen
Gedanken festzuhalten, scheint fast das menschliche Vermögen zu
übersteigen. Mansel sagt: »The almost unanimous
voice of philosophy in pronouncing that the absolute is both one and
simple, must be accepted as the voice of reason also, so far as reason
has any voice in the matter.« *) Aber ich weiss von diesem
»unanimous voice« der Philosophie nichts. Vielmehr haben
Alle, welche ein einziges Reales oder Unbedingtes annahmen, in dem
Wesen desselben auch Unterschiede und Relationen vorausgesetzt.
Die Eleaten
machen davon allein eine Ausnahme; und dass selbst diese eine
Ausnahme machen, wird bestritten. Ausser den Eleaten kenne ich
aber keinen einzigen Denker, welcher die Einheit und Einfachheit des
Unbedingten consequent festgehalten hätte. Ich habe
1) Die
Neigung, dem Gegenstande das zuzuschreiben, was von seiner Vorstellung
gilt.
2) Die
Neigung, unser eigenes, menschliches Wesen für den Typus des
Höchsten zu halten.
3) Die
Neigung, zu glauben, dass das Unbedingte den zureichenden Grund des
Bedingten enthalte.
_______
*)
Angeführt in dem Werke von H. Spencer „First Principles“,
p. 41.
300 Drittes
Buch. Viertes Kapitel.
Keine von
diesen Neigungen hat die mindeste objective Berechtigung. Wir wollen
dieselben nach einander betrachten.
Die
Disposition, den Gegenstand vorzugsweise für real zu
halten, dessen Vorstellung lebhaft und inhaltreich ist, und umgekehrt,
denjenigen als einen abstracten Schemen und Schatten anzusehen, dessen
Vorstellung abstract, nicht anschaulich und arm an Inhalt ist, hat
ihren Grund offenbar in der Macht, welche die sinnliche Wahrnehmung auf
das Bewusstsein ausübt. Die unmittelbare und unabweisbare Art, wie
sich uns das gegenwärtig Wahrgenommene aufdringt, überwiegt
für den sinnlichen Menschen so sehr an Stärke die
Affirmationskraft des bloss Gedachten und Erschlossenen, dass es uns
gar nicht wundert, wenn die in Reflexion nicht Geübten derselben
ganz unterliegen. Aber auch die Denkenden können sich dieser
Gewalt bei weitem nicht immer entziehen. Von einer Einsicht zu sagen:
»sie ist eine blosse Abstraction«, ist für viele
Menschen gleichbedeutend mit: »sie ist eine blosse Einbildung
oder Erdichtung«. Allein wir haben in dem Kapitel über die
Natur der Vorstellung gesehen, dass die Gewissheit einer Vorstellung,
d. h. die Kraft der ihr innewohnenden Affirmation davon unabhängig
ist, ob die Vorstellung concret oder abstract ist, ob sie ihren
Gegenstand vor sich oder hinter sich hat. Ist es denn noch nöthig,
zu sagen, dass die Wahrheit einer Vorstellung ganz und gar nichts mit
ihrer Lebhaftigkeit oder Schwäche, ihrem Reichthum oder ihrer
Armuth an Inhalt zu schaffen hat? Wir können uns Sphinxe, Gorgonen
und Elfen noch so lebhaft veranschaulichen, so gewinnen cloch diese
Gegenstände nicht die geringste Realität. Und umgekehrt,
obgleich wir uns von den Zuständen unter der Sonnenatmosphäre
oder im Inneren der Nebelflecke keine anschauliche Vorstellung bilden
können, so ist es doch unzweifelhaft, dass diese Zustände
wirklich existiren. »Aber in den angeführten
Beispielen«, wird man sagen, »wissen wir, obgleich wir von
den betreffenden Gegenständen keine anschauliche Vorstellung
haben, doch, dass die-
Das Reale
ist an sich eins.
301
selben einen
reichhaltigen Inhalt besitzen, der unter irgend welchen Umständen
sich auch einem wahrnehmenden Wesen offenbaren könnte.
Während dagegen das schlechthin Einfache schon seinem Begriffe
zufolge gänzlich arm und daher bedeutungslos ist.« Das
Einfache wäre, wie St. Mill sich ausdrückt,
»das Minimum der Existenz« (Examin. etc. p. 62).
Allein hier wird man ebenfalls gerade durch die Neigung beherrscht,
welche sich in jenen Fällen geltend machte, nämtich die, dem
Gegenstande das zuzuschreiben, was von seiner Vorstellung gilt. Unser
Begriff des Einen und Einfachen ist in der That sehr arm und leer;
er bedeutet eben bloss etwas, das keine Unterschiede in sich
enthält. Aber durch diesen Begriff erhalten wir auch keine
Vorstellung von dem positiven Wesen des Einen und Einfachen
selbst. Unsere Erfahrung bietet uns keinen Gegenstand ohne Unterschiede
in ihm, das Einfache ist in der Erfahrung nicht anzutreffen; auf welche
Weise könnten wir also wissen, wie dasselbe beschaffen ist? Doch
finden wir selbst in unserer Erfahrung etwas, das uns wenigstens zur
Warnung dienen kann, unsere Vorstellungen nicht mit dem Gegenstande
derselben zu verwechseln. Das, was ich meine, ist nämlich die intensive
Grösse oder die Intensität der Phänomena. Dass die
intensive Grösse eine Vielheit ist, leuchtet von selbst ein. Denn
dieselbe kann vermehrt oder vermindert werden, sie ist eben eine
Grösse und Grösse ist gleichbedeutend mit Vielheit.
Nichtsdestoweniger sehen wir, dass in der intensiven Grösse z. B.
einer punktähnlichen Lichtempfindung oder eines momentanen Tones
gar keine Vielheit von Einzelheiten und nicht eine Spur von
Unterschieden wahrgenommen oder auch nur vorausgesetzt werden kann,
obgleich die Stärke des Lichts oder des Tons in der Wahrnehmung
selbst wächst und abnimmt.*)
_______
*) Es
versteht sich, dass dieses Einfache der Empfindung durchaus verschieden
ist von dem wahren übersinnlichen Einfachen. Ersteres ist ein
flüchtiges Phänomen, ans dessen Wesen wir gar nichts
über die Natur
302 Drittes
Buch. Viertes Kapitel.
Ich will
nicht etwa behaupten, dass das Unbedingte eine intensive Grösse
sei; ich will nur darauf aufmerksam machen, dass man aus der
Dürftigkeit unseres Begriffs nicht die Dürftigkeit oder gar
die Nichtexistenz seines Gegenstandes folgern darf. Die objective
Wahrheit des Begriffs, welchen wir von dem eignen, unbedingten Wesen
der Dinge haben, ist von uns im 2. Buche durch unzweideutige Zeugnisse
der Erfahrung selbst bewiesen worden; die abstracte Natur dieses
Begriffs hat mithin gar nichts zu thun mit unserer Gewissheit von der
Existenz und der Erhabenheit des entsprechenden Gegenstandes. Dieser
Gegenstand ist das einzige wahrhaft Reale oder Seiende selbst und die
erkennbare, sinnliche Welt hat nur soweit Werth und Realität, als
sie an demselben inneren Antheil besitzt.
Der zweite
Grund, die Neigung, unser menschliches Wesen für den Typus des
Höchsten zu halten, ist ebenso mächtig und ebensowenig
berechtigt, wie die erste. So sagt z. B. der fremde Dialektiker in Platon’s
»Sophist«: »Sollen wir uns leichtlich
überreden lassen, dass in der That Bewegung und Leben und Seele
und Vernunft dem wahrhaft Seienden gar nicht eigne? Dass es weder lebe
noch denke, sondern ohne die hehre und heilige Vernunft zu haben
unbeweglich sei?« Und selbst Herbart, der mit solcher
Entschiedenheit lehrte, dass »die Qualität des Seienden
schlechthin einfach und allen Begriffen der Quantität
unzugänglich sei«, behauptete unbefangen: »Gott darf
man sich nicht als einfaches Wesen denken, weil das Einfache
völlig werthlos ist« (Kl. Schr. III, S.
176).*)
_______
des
letzteren erschliessen können. Ueber den Unterschied des Einfachen
in der Anschauung und des Einfachen ausserhalb derselben hat Kant in
seiner Streitschrift gegen Eberhard (s. Erster Abschnitt, B)
gute Bemerkungen vorgebracht.
*) Daraus
kann man ersehen, dass, wenn Herbart den Begriff des
,,einfachen Realen“ als ein Princip des Wissens aufstellte, nach
welchem alle Ergebnisse desselben aufgesucht und beurtheilt werden
müssen, dies nicht sein ganzer Ernst sein konnte. Denn in der
Annahme eines nicht-
Das Reale
ist an sich eins.
303
Er wollte
also lieber einen nichteinfachen, d. h. doch wohl zusammengesetzten
Gott haben, um nur demselben Menschenähnlichkeit zuschreiben
zu können. Thatsache ist eben, dass die Neigungen der Menschen
stärker sind, als ihre Einsichten. So namentlich in dem
vorliegenden Falle. Weil das uns bekannte physische unbewusste Dasein
niedriger steht, als das bewusste menschliche, glaubt man sofort, dass alles
und jedes unbewusste Dasein überhaupt niedriger stehe. Allein
man hat mit Recht schon früher bemerkt, dass es eine Art des
Daseins geben kann, welche ebensoweit über das selbstbewusste
Leben des Menschen erhaben ist, wie dieses über die dumpfe und
stumme Existenz der Materie. Ueberhaupt ist zu bemerken, dass bei der
Werthschätzung eines Gegenstandes die Quantität gar nicht in
Betracht kommen darf. Das Werthlose bleibt, auch wenn millionenfach
vervielfältigt, werthlos; das Höchste dagegen ist quantitativ
gar nicht zu messen und aufzufassen.
Die dritte
Neigung, vorauszusetzen, dass das Unbedingte den zureichenden Grund der
gegebenen Wirklichkeit enthalte, ist schon besprochen worden und wird
in dem nächsten Buche noch zur Sprache kommen. Auch der
nachlässigste Denker begreift wohl, dass aus dem Einen, welches
zugleich einfach ist, die bunte Mannigfaltigkeit der Erscheinungen
nicht abgeleitet werden kann. Daher ist die Annahme eines Unbedinten,
welches wirklich eins und einfach wäre, von vornherein
verurtheilt. »Die eleatische Lehre«, sagt z. B. Herbart,
»wird von dem Vorwurf niedergedrückt, dass sie das Seyn
von der Erscheinung gänzlich losreisse und diese durch jenes nicht
erkläre« (Lehrb. z. Einl. S. 174). Allein in den
Augen eines
_______
einfachen
Gottes erweist es sich ja, dass jener Begriff für Herbart eine
blosse Hypothese war, die man an der Stelle fallen lassen kann, wo sie
zu gewünschten Erklärungen nicht ausreicht. Und doch wunderte
er sich über die Metaphysiker, welche Gott als etwas Ueberseiendes
fassen wollten. „Wie konnte man je das reine Seyn übersteigen wollen?“
sagt er, „von dem absolut Nothwendigen reden?“ (Kl. Schr. herausg.
von Hartenstein, I, S. 216).
304 Drittes
Buch. Viertes Kapitel.
»Philosophen«,
d. h. eines »Freundes der Weisheit«, ist dieses gar kein
Vorwurf. Denn das Ziel eines echten Weisheitsfreundes ist nicht die
Erklärung, sondern die Erkenntniss, und die unbefangene Forschung
kann möglicherweise zu dem Resultate führen – wie es nach
unseren vorhergehenden Untersuchungen wirklich der Fall ist – dass das
Gegebene aus dem Unbedingten gar nicht abgeleitet und erklärt
werden kann, weil es eben Elemente enthält, welche diesem fremd
sind.
Die Folge
dieser und der anderen besprochenen Neigungen ist, dass selbst
Männer, welche ganz fest behaupten, von dem Nichtsinnlichen uud
Unbedingten gar keine Kenntniss, ja nicht einmal irgend einen Begriff
zu haben, demselben nichtsdestoweniger verschiedene Eigenschaften
zuschreiben, die sie natürlich an empirischen Gegenständen
kennen gelernt haben.