ZWEITES
KAPITEL.
SEIN UND
GESCHEHEN.
Es ist
constatirt worden, dass man zwei Seiten oder zwei Gebiete der
Wirklichkeit unterscheiden muss, das eigne, unbedingte Wesen der Dinge
und deren empirische Darstellung, welche nichts Unbedingtes
enthält, deren allgemeine Eigenschaft vielmehr das Bedingtsein
ist. Denn sie enthält Elemente, welche dem Wesen der Dinge an sich
fremd sind, und das Vorhandensein eben solcher Elemente macht das
Bedingtsein aus. Namentlich ist es speciell von der Veränderung,
von dem Geschehen bewiesen worden, dass dasselbe dem Wesen der Dinge an
sich fremd und darum nothwendig stets und überall bedingt ist.
Aber es ist unentbehrlich einzusehen, dass auch umgekehrt alles
Bedingte ein blosses Geschehen, ein blosser Process ist, so dass der
Gegensatz von Unbedingtem und Bedingtem gleichbedeutend ist mit dem
Gegensatz von Sein und Geschehen.
Bedingtsein
ist die Abhängigkeit eines Gegenstandes von einem anderen, aber
nur dann, wenn die beiden Gegenstände einander von Hause aus fremd
sind. Denn sind sie ursprünglich, ihrem eigenen Wesen nach mit
einander verbunden, so bilden sie eben einen einzigen, in sich
unterschiedenen Gegenstand; ihr Verhältniss zu einander ist dann
nicht ihrem Wesen fremd und constituirt also kein Bedingtsein. Man
vergleiche darüber, was ich oben gesagt habe. Nun ist es nicht
schwer einzusehen, dass ausserhalb und unabhängig von der
274 Drittes
Buch. Zweites Kapitel.
Succession
kein Verhältniss der Subordination und der Abhängigkeit
möglich ist. Denn man denke sich zwei Dinge, welche von aller
Ewigkeit her zusammenhängen, so kann erstens nicht gesagt werden,
dass das eine derselben die Bedingung und das andere das durch sie
Bedingte sei, weil in ihrem gegenseitigen Verhältnisse dann gar
kein begrifflicher Unterschied vorhanden ist. Will man dieses
Verhältniss als Abhängigkeit bezeichnen, so ist es dann eine
wechselseitige Abhängigkeit der beiden Dinge von einander.
Zweitens, wenn irgend etwas einem Dinge von aller Ewigkeit her
inhärirt, so gehört es schon eo ipso zu dem eigenen
Wesen desselben. Es ist widersprechend und unmöglich zu denken,
dass in der Natur eines Dinges ein fremdes Element angetroffen werden
könnte, welches nicht irgend wann in dasselbe von Aussen gekommen
wäre. Denn »fremd sein« und »von Aussen gekommen
sein« bedeutet dasselbe. Also wenn zwei Dinge ursprünglich
zusammenhängen, so ist das gegenseitige Verhältniss derselben
zu einander ihrem Wesen nicht fremd, folglich sind die Dinge durch
dasselbe nicht bedingt. Auch glaube ich bewiesen zu haben, dass wenn
Verschiedenes ursprünglich, seinem eigenen Wesen nach eins
wäre, es dann nothwendig eine unmittelbare Einheit bilden
würde, eine von sich selbst unterschiedene Einheit, was
widersprechend ist. Wenn man also von aller Succession abstrahirt, so
kann von Bedingtsein, Abhängigkeit und Subordination gar keine
Rede sein.
Dagegen kann
in der Succession, in der Aufeinanderfolge das Bedingtsein, die
Abhängigkeit einer Erscheinung von anderen sich sehr wohl geltend
machen. Erstens, dürfen die begrifflichen Forderungen, welche an
eine unbedingte Vereinigung des Verschiedenen gestellt werden, auf den
Zusammenhang des Verschiedenen in der Succession gar nicht angewendet
werden. Denn die Succession gehört eben nicht zu dem eigenen,
unbedingten Wesen der Dinge, bei welchem jene Forderungen gelten. Ein
Zusammenhang des Verschiedenen nach Gesetzen im Geschehen
verstösst nicht gegen den
Sein und
Geschehen.
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Satz des
Widerspruchs. Nun kann gerade hier die Abhängigkeit einer
Erscheinung von einer anderen sich dadurch bekunden, dass die erste
unveränderlich auf die zweite folgt.
Doch auch
ein Zusammenhang zugleichseiender Erscheinungen würde ohne die
Succession wenigstens nie erkannt werden können. Denn unmittelbar,
in der Wahrnehmung kann eine Verbindung des Verschiedenen nie gegeben
sein und wenn Alles ohne Veränderung neben einander zugleich
bestände, so wäre auch keine Möglichkeit vorhanden,
dieselbe mittelbar zu erkennen, d. h. zu erschliessen. Wenn aber
mehrere Erscheinungen in dem Wechsel der übrigen stets zusammen
angetroffen werden, so bietet uns dadurch die Natur selbst gleichsam
ein experimentum crucis dar, um das untereinander Verbundene
von dem Nichtverbundenen zu unterscheiden, obgleich die
Unveränderlichkeit dieser Verbindung aus den Daten der Erfahrung
allein, wie schon erwähnt, nie mit Sicherheit abzuleiten ist.
So ist
folglich ein Zusammenhang des Verschiedenen nach
276 Drittes
Buch. Zweites Kapitel.
Gesetzen
überhaupt nur im Geschehen, durch die Succession möglich und
realisirbar. Es ist sehr nöthig einzusehen, dass die Begriffe
»Bedingtsein« und »Geschehen« einander
vollständig decken, dass Alles, was unter den einen Begriff
fällt, nothwendig auch unter den anderen gehört. Allein die
begriffliche Auseinandersetzung, obgleich unentbehrlich zur
Feststellung der Sache, kann doch dieselbe nicht so einleuchtend
machen, wie man es wünschen möchte. Wir wollen daher an das
Zeugniss der Erfahrung selbst appelliren, um zu sehen, ob sich darin
das auf begrifflichem Wege gewonnene Resultat bewährt. Die
Erfahrung zeigt uns nun in der That, dass Alles in dem Gebiete des
bedingten Daseins lauter Geschehen, nach Platon’s Ausdruck,
ein »immer Werdendes, nie Seiendes« ist. Diese sinnliche
Welt, welche uns so fest gegründet zu sein scheint, erweist sich
bei näherer Betrachtung als ein blosses Schweben stets neu
wiederkehrender Phänomena, in welchem nichts Unwandelbares
anzutreffen ist, als die Gesetze, nach denen der Eintritt und der
Ausgang der Phänomena geschieht. Dieses muss sowohl an dem
Gegenstande der inneren Erfahrung wie an den Objecten der äusseren
näher nachgewiesen werden.
Der
Gegenstand der inneren Erfahrung, unser eigenes Ich, stellt sich uns
unzweifelhaft als etwas Sichselbstgleichbleibendes, ja als eine
Substanz dar. Ich bin derselbe heute, der ich gestern gewesen oder auch
vor mehreren Jahren, von dem ersten Beginne meines selbstbewussten
Lebens an, was mir auch sonst während dieser ganzen Zeit passirt
sein mag. Wenn man aber fragt: Was bin ich denn eigentlich? oder, was
ist dieses beharrliche Selbst in mir? so findet man keinen realen,
einzelnen Gegenstand darin, sondern die blosse Einheit meines
Selbstbewusstseins. Den Inhalt meines Wesens und Daseins bilden immer
vorübergehende Gefühle, Gedanken, Bestrebungen und andere
innere Zustände; das Unveränderliche ist allein das Gesetz
des erkennenden Subjects, alle diese Zustände als seine eigenen
und sich selber somit
Sein und
Geschehen.
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als etwas
darin Beharrendes zu erkennen. Selbst diejenigen Denker, welche das
persönliche Ich gerne zu einer Substanz machen möchten,
gestehen, dass darin kein dem Substanzbegriffe entsprechender Inhalt
sich vorfinde. Eine nähere Erörterung dieses Gegenstandes
gehört jedoch nicht hierher.
Mit dem
Gedanken, dass das bewusste Ich ein blosses Geschehen, eine Art Process
sei, wird man sich leicht befreunden, da man weiss, dass dieses Ich
entsteht und vergeht, einen Anfang und ein Ende seiner Existenz hat.
Aber dass auch die körperlichen Gegenstände, die gewaltigen
Berge und die uferlosen Oceane, oder gar die
»festgegründete« Erde selbst mitsammt den übrigen
Himmelskörpern sich in irgend einen Process auflösen liessen,
dagegen sträubt sich das gewöhnliche Bewusstsein aus allen
Kräften. Ich verlange jedoch weiter nichts, als dass man auf dem
Boden der wirklichen Erfahrung stehen bleibe und keine Metaphysik unter
dem Namen der Erfahrung treibe. Denn nur von den Gegenständen der
Erfahrung behaupte ich, dass sie ein blosses Geschehen sind. Das Dasein
wirklicher Gegenstände ausser uns zu bestreiten, ist hier nicht
meine Absicht, noch meine Aufgabe. Was aber die Körper unserer
dieselben aus nichts Anderem, als unseren eigenen Sinnesempfindungen
bestehen, und diese sind bekanntlich in einem beständigen Fluss
und Wechsel begriffen.
Die
Sinnesempfindungen und die inneren Zustände der erkennenden
Subjecte bilden nun die ganze erkennbare Welt, die Welt der Erfahrung,
welche in allen ihren Theilen bedingt ist. Wahr ist also, was der alte Heraclit
gelehrt hat, dass die Welt der Erfahrung einem Strome zu
vergleichen ist, in dem immer neue Wellen die früheren
verdrängen und der sich keine zwei einander folgende Augenblicke
vollkommen gleich bleibt. Wohl ist etwas Unwandelbares in der Welt der
Erfahrung vorhanden; aber dasselbe ist nicht substantieller Natur, ist
nicht ein realer Gegenstand oder eine Mehrheit realer
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Buch. Zweites Kapitel.
Gegenstände,
sondern liegt in den blossen Gesetzen der Erscheinungen, in der Ordnung
ihres Zugleichseins und ihrer Aufeinanderfolge.
Im
Gegensatze dazu herrscht auf dem Gebiete des Unbedingten vollkommene
Ruhe, absolute Unwandelbarkeit, ungetrübtes
Sich-selbst-Gleichsein. Denn dem Wesen der Dinge an sich ist alle
Veränderung fremd. Nicht allein kann sich also keine
Veränderung in dem Unbedingten selbst ereignen, sondern dasselbe
enthält auch nicht den Keim oder die Ursache zu Veränderungen
in der empirischen Welt. Darum kann eine Ursache nie selbst unbedingt
sein, wie ich schon oben bewiesen habe und weiter unten noch
ausführlicher beweisen werde.
Eine solche
umwandelbare, über alle Veränderung erhabene Art der Existenz
nennt man im Gegensatze zum Geschehen ein Sein. Wahres Sein
ist mithin auf dem Gebiete der Erfahrung nie anzutreffen, dasselbe
kommt nur dem Unbedingten zu.