SECHSTES
KAPITEL.
DER
ORGANISMUS DES DENKENS.
1. Von
Begriffen a priori.
Unter
Begriffen versteht man gewöhnlich durch Abstraction und
Generalisation aus einzelnen Daten gewonnene allgemeine Vorstellungen. Ein Begriff
a priori kann natürlich nicht eine solche Vorstellumg
sein, da er nicht aus den Daten der Erfahrung abstrahirt ist. Noch weniger darf man
aber, wie Kant, die Begriffe e priori für blosse
Gedankenformen halten, welche nur dazu dienen, das Mannigfaltige der
Anschauung in ein Bewusstsein zu vereinigen. Die nothwendige
Beziehung des Denkens (der Vorstellung) selbst, mithin auch aller
Formen und Gesetze des Denkens auf die Wirklichkeit sollte in der
Erkenntnisslehre schon längst für ein Axiom gelten. Unter
einem Begriff a priori kann nur ein ursprüngliches
Gesetz, eine innere Disposition oder Nothwendigkeit des Denkens
verstanden werden, die Gegenstände auf eine besondere, bestimmte
Weise zu denken und zu erkennen, welche in diesen selbst nicht gegeben
ist, etwas von Gegenständen zu glauben, das aus ihrer gegebenen
Beschaffenheit allein nicht abgeleitet werden kann. Kurz gesagt, ein
Begriff a priori ist ein Princip
von Affirmationen über reale Gegenstände und Facta.
So gross ist jedoch die Unklarheit über diesen Punkt,
dass ich
228 Zweites
Buch. Sechstes
Kapitel.
Die Annahme
»angeborener Ideen« in dem Sinne angeborener Erkenntnisse
der Dinge hat schon Leibniz abgelehnt und auch Kant auf
das Nachdrücklichste dahin berichtigt, dass nur die Formen oder
die Gesetze der Erkenntniss, nicht aber der Inhalt derselben
angeboren sein können. Die Gesetze oder die Begriffe a priori sind
also nicht selbst Erkenntnisse, aber doch Principien der Erkenntniss
wirklicher Objecte, da das Wesen des Denkens (der Vorstellung) selbst
die Beziehumg auf wirkliche Objecte implicirt. Allein man ist sehr geneigt, beides zu verwechseln, und
diese Verwechselung hat von jeher den Hauptgrund aller Einwände
gegen die Annahme apriorischer Gesetze des Denkens abgegeben. Wie schon
Locke in seinem »Essay« die Gewissheit des Satzes
der Identität und des Satzes vom Kiderspruch aus dem Grunde
für eine erworbene erklärte, weil Kinder und Idioten von
diesen Sätzen nichts wissen, so machen es die Bestreiter des
Apriori bis auf unsere Tage. Sie meinen immer, man
könne nicht etwas von Gegenständen glauben, ohne sich dieses
Glaubens bewusst zu sein. Und doch hat Locke selbst
gleich am Anfang seines »Essay« treffend gesagt: »Das
Erkenntnissvermögen gleicht dem Auge darin, dass es, während
es uns alle andere Dinge sehen und wahrnehmen lässt, von sich
selbst keine Notiz nimmt, so dass es vieler Kunst und Mühe bedarf,
um dasselbe in einige Entfernung zu bringen und ihm selbst zum Object
zu machen.« Daher hat denn ein ursprüngliches Gesetz des
Denkens (englisch: a first principle) nach der richtigen
Bemerkung Reid’s die Eigenschaft, dass »es in uns eine
Wirkung hervorbringt, ohne dass wir darauf achten und uns dies zum
Gegenstande machen.« Die Wirkung eines Denkgesetzes besteht aber
eben darin, dass wir etwas von Gegenständen glauben müssen.
Die
Thatsache, dass wir von Natur disponirt sind,
etwas von Gegenständen zu glauben, bietet nicht mehr
Schwierigkeit, als die Thatsache irgend einer anderen Verbindung
zwischen uns und anderen Objecten. Die besondere Abneigung
Der
Organismus des Denkens.
229
gegen die Annahme
eines solchen Glaubens kommt von der oben erwähnten Verwechselung
her und auch noch von der Furcht vor dem Missbrauch, den man mit der
Annahme apriorischer Gesetze des Denkens getrieben hat. Der Missbrauch ist allerdings ein arger gewesen, und darum ist
die Abneigung gegen denselben wohl motivirt. Aber
man darf doch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Der
Missbrauch einer Annahme ist kein Grund,
diese Annahme selbst zu verwerfen, wenn dieselbe auf triftigen
Gründen beruht.
Dieses
letztere wollen wir jetzt erwägen. Es fragt
sich: Auf welchen Gründen beruht die Annahme von
Erkenntnissgesetzen a priori? oder
mit anderen Worten: Wie können wir uns von dem a priorischen
Ursprung gewisser Einsichten überzeugen?
Ein sicheres
Kennzeichen solcher Einsichten hat man in der Nothwendigkeit derselben
zu besitzen geglaubt, in dern Umstand, dass es Einsichten gibt, deren
Gegentheil zu denken uns durchaus nicht möglich ist. Allein gegen
die Zulänglichkeit dieses Kriteriums sind,
wie man weiss, sehr gewichtige Gründe vorgebracht worden. Man hat
gezeigt, die Association zwischen Vorstellungen könne so stark
werden, dass sie für die meisten Menschen zu einer factischen
Denknothwendigkeit wird. Infolge davon sind
sogar viele unwahre Ansichten für apodiktisch gewiss gehalten
worden. Die Unsicherheit dieses Kriteriums sind
daher auch die Anhänger des Apriori zuzugeben gezwungen. So sagt z. B. Lange (Geschichte des Material.
2. Aufl. II. 3l), dass wir in der Auffindung apriorischer
Sätze nur »Wahrscheinlichkeit« erreichen können.
Die Gewissheit apodiktischer Sätze nicht mehr als
wahrscheinlich? Das wäre der offenbarste
Widerspruch. Es würde schlimm um die Lehre des Apriori, um
den Noologismus stehen, wenn er keine andere Basis hätte, als das Gefühl der Nothwendigkeit einiger
Sätze. Ist es doch für uns
nothwendig, in der Wahrnehmung eine Welt äusserer unbedingter
Gegenstände (Körper) zu erkennen, und doch wissen wir mit
Sicherheit, dass
230 Zweites
Buch. Sechstes
Kapitel.
diese Welt
lediglich aus unseren eignen Sinnesempfindungen besteht.
Merkwürdig
ist der Umstand, dass zwei Kämpen aus dem empiristischen Lager
selbst, nämlich Spencer und Lewes zu Gunsten des
Kriteriums der Nothwendigkeit in die Schranken getreten sind gegen Mill,
der am ausführlichsten und klarsten die Unzulänglichkeit
dieses Kriteriums dargethan hat. Es isi interessant, die zwischen
diesen Schriftstellern darüber geführte Discussion zu
verfolgen.*) Sie sind alle drei darin einverstanden, dass die
Erfahrung, namentlich die Unveränderlichkeit, die
Gesetzmässigkeit (uniformity) der Erfahrung die einzige
wirkliche Basis aller Gewissheit in den allgemeinen Einsichten, auch in
den denknothwendigen sei. Wenn nun die constatirte
Gleichförmigkeit der Erfahrung der wirkliche Grund der Gewissheit ist, sagt ganz verständig Mill, was
braucht man da einen anderen Grund vorzuschieben, der schliesslich doch
nur auf jenem beruhen kann und von ihm seine ganze Berechtigung
erhält? Nein, antworten Spencer und Lewes, erst
wenn die Gleichförmigkeit der Erfahrung von uns als nothwendig gefühlt wird, ergibt sie
Gewissheit. Der ganze Streit dreht sich um dieses: Mill fordert,
dass man das vernünftig erwogene, Spencer und Lewes wollen,
dass man das dunkel gefühlte Resultat der Erfahrung zum
Grunde der Gewissheit mache. Auf wessen Seite das
Recht liegt, brauche ich nicht erst zu sagen.
Doch bringt Spencer
auch ein neues Argument zu Gunsten des Kriteriums der
Nothwendigkeit vor. Nach ihm
erben wir die Erfahrungen unserer Vorfahren nicht bloss in ihren
Schriften und den von ihnen überlieferten Traditionen, sondern
auch auf physiologischem Wege, direct mit unserer leiblichen
Organisation. Die von früheren Generationen gesammelten
Erfahrungen sind in unserem Organismus,
durch leibliche
_______
*) Man
findet diese Discussion in Mill’s System of Logik, 7 ed. I 294 ff, in Spencer’s Principles of
Psychology, 2 ed. 11, 406 ff, und in Lewes’ Hystory of
Philosophy, 3 ed. I, LXIX ff.
Der
Organismus des Denkens.
231
Vererbung, als Prädispositionen zu gewissen Ansichten
über die Dinge gleichsam aufgespeichert. Eben die Ansichten, die
wir als denknothwendig fühlen,
offenbaren das auf diese Weise erhaltene Resultat früherer
Generationen und sind aus diesem Grunde ganz anders gewiss, als die
bloss durch unsere eigne Erfahrung constatirten und verbürgten, ja
dürfen auf apodiktische Gewissheit Anspruch machen.
Wenn Mill
dieses Argument bekannt war, so muss er darüber gelächelt
haben. Denn seinem klaren Verstande würde es nicht entgehen, wie
verkehrt es ist, die Gewissheit
apodiktischer Sätze auf eine so schwache, hypothetische Annahme,
wie die der leiblichen Vererbung der Erfahrungen, zu gründen. In
der That, wenn man nur die Constatirung des grossen Gesetzes der
Causalität nimmt, so ist ja klar, dass die unwissenschaftlichen
Erfahrungen früherer Generationen über causale
Verhältnisse der Dinge, und wenn dieselben auch während
hunderttausenden von Jahren gesammelt worden sind, ganz und gar nichts
bedeuten im Vergleich mit den wissenschaftlichen Erfahrungen der
letzten zwei- oder dreihundert Jahre, die uns nicht durch Vererbung,
sondern durch Belehrung mitgetheilt worden sind. Trotz aller
Erfahrungen früherer Jahrtausende und ihrer leiblichen Vererbung ist ja der Glaube an dlie ausnahmslose
Gleichförmigkeit in dem Gang der Natur erst in neuer Zeit
entstanden und auch jetzt noch nicht allgemein verbreitet.
Die Lehre,
dass die Einsichten a priori leiblich ererbte
Erfahrungen früherer Generationen seien, die sich für eine
höhere, den Noologismus mit dem Empirismus versöhnende
Doctrin ausgibt, bleibt in Wahrheit hinter dem klaren, ehrlichen
Empirismus selbst zurück. An den
Noologismus reicht dieselbe vollends nicht hinan. Denn gerade die
Einsicht, dass keine Erfahrung die ausnahmslose
Gültigkeit eines allgemeinen Urtheils verbürgen kann, hat zur
Annahme von ursprünglich oder an sich
gewissen Sätzen geführt.
Das
wirkliche Kriterium des apriorischen Ursprungs einer
232 Zweites
Buch. Sechstes
Kapitel.
allgemeinen Einsicht
bestebt darin, dass dieselbe nicht bloss denknothwendig und an sich
gewiss ist, sondern auch dass deren Gründe oder Elemente factisch
und nachweisbar in keiner Erfabrung enthalten sind, dass sie mit
empirischen Daten nicht übereinstimmen. So habe ich im 1. Buch gezeigt, dass unsere
Erkenntniss der Körper ein Element enthält, welches in keiner
Erfahrung angetroffen und aus keiner abgeleitet werden kann,
nämlich den Begriff des Unbedingten. Ferner
habe ich in dem gegenwärtigen 2. Buch bewiesen, dass in den
logischen Sätzen der Identität und des Widerspruchs eben
dieser Begriff von dem eignen, unbedingten Wesen der Dinge
ansgedrückt ist, welcher nie aus Erfahrung stammen konnte, weil
die Data der Erfahrung mit ihm sämmtlich nicht
übereinstimmen, aber gerade durch diese Nichtübereinstimmung
seine objective Gültigkeit verbürgen. Wenn irgend ein Satz
selbstverständlich, unmittelbar gewiss und denknothwendig ist, so
ist es der Satz der Identität, und dennoch sehen wir, dass zwar
nicht das Gegentheil dieses Satzes, aber doch etwas mit ihm
Nichtübereinstimmendes möglich ist, ja dass die
sämmtlichen Data der Erfahrung mit ihm nicht übereinstimmen.
Es wäre also um die Gewissheit des Satzes der Identität und
der Einsichten a priori überhaupt schlecht bestellt, wenn
wir zu deren Constatirung nichts weiter als
das nackte Nichtandersdenkenkönnen hätten.
Da ich den
apriorischen Ursprung des in den beiden logischen Sätzen
ausgedrückten Begriffs ausführlich nachgewiesen habe, so
brauche ich
_______
*) Mit
Ausnahme der geometrischen Sätze und der ihnen zu Grunde liegenden
Anschauung des Raumes. Von dieser kann aber auch klar gezeigt werdeu, wie ich
es im 2. Bande thun will, dass ihre Elemente in den blossen
Daten der Erfahrung schlechterdings nicht enthalten sind
und
Der
Organismus des Denkens.
233
Frage nach
der Constatirung des apriorischen Ursprungs von Erkenntnissgesetzen
für erledigt halten.
2. Es
kann nur einen ursprünglichen Begriff a priori geben.
Ein Begriff
a priori ist ein Princip von
Affirmationen über Gegenstände. Ein Princip muss nun, wie Herbart
(Lehrb.zur Einl. S. 8) richtig bemerkt hat, zwei Eigenschaften
haben: »erstlich, es muss für sich fest stehen, oder
ursprünglich gewiss sein; zweitens, es muss im Stande sein, noch
etwas Anderes, ausser sich selbst, gewiss zu machen.«
Ein solches Erkenntnissgesetz oder -Princip
muss also, wenn es dem Bewusstsein in einem bestimmten Ausdruck
vorgeführt wird, diesen Ausdruck in einem synthetischen Satz
finden. Denn aus einem identischen Satze lässt sich nichts folgern
oder ableiten; ein solcher kann nicht zur
Prämisse eines Syllogismus, mithin auch nicht zum Principe der
Erkenntniss dienen. Ein synthetischer Satz drückt aber den
Zusammenhang zweier Begriffe aus. Kant hat nun, wie man weiss,
aus der Frage: Wie sind synthetische
Urtheile a priori möglich? die
Hauptfrage der Philosophie gemacht und dieselbe so beantwortet: Der
Zusammenhang der Begriffe a priori sei ein
äusserlicher, durch eine besondere Einrichtung des
Erkenntnissvermögens bewerkstelligt. Diese
Lehre Kant’s habe ich schon in der Einleitung besprochen und
werde weiter unten noch einige Punkte derselben besonders hervorheben.
Diese Lehre ist vollkommen unhaltbar. Wenn
man Begriffe a priori annimmt, so macht es nicht
allein keine Schwierigkeit, auch einen inneren logischen Zusammenhang
derselben anzunehmen, sondern ein solcher muss sogar nothwendig
nachgewiesen werden; sonst ist die ganze Annahme nichts werth.
Ich kenne
nur die folgenden Arten der Verhältnisse zwi-
_______
mit demselben
logisch nicht übereinstimmen, wenn sie auch factisch damit
congruiren.
234 Zweites
Buch. Sechstes
Kapitel.
schen Begriffen:
1) Uebereinstimmung und Nichtübereinstimmung. 2)
Das Verhältniss von genus und species. 3) Das
Verhältniss von Subject und Prädicat. 4) Das Verhältniss eines Begriffs zu dessen Specificationen
und endlich 5) das Verhältniss eines Begriffs zu dessen Folgerungen.
Die ersteren
drei bedürfen keiner Erläuterung, über die zwei letzten
dagegen muss ich einige Worte sagen.
Wenn man
einen Begriff in Beziehungen betrachtet, welche nicht ausserhalb seiner
Sphäre liegen, so sind die Urtheile,
die sich daraus ergeben, blosse Specificationen desselben.
Betrachtet man dagegen einen Begriff in seinen Beziehungen zu Daten oder Begriffen, welche ganz ausserhalb seiner
eignen Sphäre liegen, so sind die Urtheile, welche sich daraus
ergeben, Folgerungen aus demselben. So z. B. wenn man unter
einer »geraden Linie« diejenige versteht, welche
überall dieselbe, sich selbst gleiche Richtung verfolgt, so ist es
eine blosse Specification des Begriffs dieser Linie, dass zwei Punkte
genügen, um sie zu bestimmen. Ohne zwei Punkte kann überhaupt
keine Richtung gedacht werden; dass aber eine gerade Linie zu ihrer
Bestimmumg deren nicht mehr bedarf, ist
unmittelbar klar. Denn sie ist eben nach
der Voraussetzung zwischen den beiden Punkten, wie ausserhalb derselben
sich selbst gleich. Um dieses einzusehen, braucht
man dem Begriffe der geraden Linie kein neues Merkmal beizufügen.
Wenn man aber eine gerade Linie im Verhältnisse zu einer anderen
betrachtet, die sie schneidet, so ist das
Urtheil, welches sich daraus ergibt, nämlich dass die
gegenüberliegenden, dadurch gebildeten Winkel einander gleich
sind, eine Folgerung aus dem Begriffe der geraden Linie. Denn hier ist ein in jenem Begriffe gar nicht liegendes
Moment eingeführt, nämlich das gegenseitige Schneiden zweier
Linien. Allgemein ausgedrückt: Bei der Specification geht man
nicht aus dem gegebenen Begriffe heraus, sondern wechselt gleichsam nur
seinen Standpunkt der Betrachtung desselben. Bei der Folgerung dagegen
geht man wirklich aus dem Be-
Der
Organismus des Denkens.
235
griffe des Datums
heraus, um dasselbe im Verhältniss mit einem anderen zu betrachten.
Die
Specificationen eines Begriffs werden in Sätzen ausgedrückt,
welche im eigentliche Sinne analytische Urtheile genannt
werden dürfen und weder blosse Tautologien (identisch) sind, noch auch den Zusammenhang zweier Daten
ausdrücken (synthetisch sind). Dagegen werden die Folgerungen
eines Begriffs nothwendig in synthetischen Sätzen
ausgedrückt, weil sie eben ein
Verhältniss zweier Daten darstellen.
Um nun
unsere Frage nach dem Zusammenhang der Begriffe a priori gehörig
beantworten zu können, muss man vor allen
Dingen Folgendes entscheiden:
Gäbe es
mehrere ursprüngliche, also von einander unabhängige Begriffe
a priori, so würden sie natürlich in keinem logischen
Zusammenhange unter einander stehen, und dann müsste man wirklich
eine äusserliche, mechanische Vermittlung derselben annehmen, wie
es Kant gethan hat. Allein das haben mir von vornherein als unzulässig erkannt und müssen daher
im Voraus annehmen, dass es nur einen ursprünglichen Begriff a
priori gibt.
Da die
Begriffe, welche wir a priori von der Wirklichkeit
haben, nothwendig allgemein sind, weil das Einzelne nur in der
Erfahrung gegeben ist oder vielmehr dessen Gegebensein eben die
Erfahrung constituirt, so kann es nicht mehrere Begriffe a priori
von gleicher Allgemeinheit geben. Denn sie würden sich sonst
nicht auf eine und dieselbe Wirklichkeit, sondern auf verschiedene
Wirklichkeiten beziehen, was von Begriffen a priori anzunehmen
ganz unzulässig wäre. Hätten wir a priori mehrere
Begriffe von verschiedenen Wirklichkeiten gehabt, so würde das
eine Erfahrung a priori ausmachen, was ein offenbares Unding
wäre. Die Begriffe a priori müssen in einem inneren,
logischen Zusammenhange unter einander stehen, also sich ihrem Wesen
nach auf eine und
236 Zweites
Buch. Sechstes
Kapitel.
dieselbe
Wirklichkeit beziehen; sonst würden sie sich in einem Bewusstsein
gar nicht vermitteln und vereinigen lassen. Aber dann liegt ihnen allen offenbar ein einziger allgemeinster Begriff
von dem Wesen dieser Wirklichkeit zu Grunde. Die anderen Begriffe a priori
stellen entweder verschiedene Seiten der Betrachtung und Auffassung
der Wirklichkeit in jenem allgemeinsten Begriffe derselben dar, sind also blosse Specificationen des
letzteren, oder aber sie sind Folgerungen aus demselben.
Demnach wird
man leicht einsehen, wie unzulässig z. B. die Annahme ist, dass der Begriff der Causalität ein
ursprünglicher, aus keinen höheren, allgemeineren Begriffen
abzuleitender sei. Causalität bedeutet, dass Alles, was entsteht oder geschieht, mit einem Vorhergehenden, einem
Antecedens zusammenhängt. Nun versteht es sich natürlich von
selbst, dass man von dem Zusammenhang des Successiven nichts wissen
kann, ehe man nicht von dessen Succession selbst eine Vorstellung hat,
dass also der Begriff der Causalität von demjenigen der Succession
oder des Geschehens abhängt oder diesen voraussetzt. Wenn nun die
Begriffe der Succession und der Causalität logisch unter einander
zusammenhängen, so kann es bloss auf zweifache Weise sein: 1)
Entweder liegt es unmittelbar in dem Begriffe der Succession, des
Geschehens, dass Alles, was entsteht, mit einem Antecedens
zusammenhänge, – dann würde dieser letztere Satz ein
analytischer, und der Begriff der Causalität eine blosse
Specification des Begriffs des Geschehens überhaupt sein Das wird
nun freilich Niemand behaupten wollen. 2) Oder der Begriff der
Causalität liegt nicht unmittelbar in dem Begriffe des Successiven
allein, sondern folgt aus demselben unter Hinzuziehung eines dritten
verbürgten Begriffs. Dann ist er eine
Folgerung aus dem Begriffe des Successiven, dann ergibt er sich als der
Schlusssatz eines Syllogismus, dessen eine Prämisse der Begriff
des Successiven oder des Geschehens bildet. – Wenn man aber weder das
eine noch das andere nachweisen kann; wenn man aus dem
Der
Organismus des Denkens.
237
Wesen des
Successiven selbst weder unmittelbar noch mittelbar (unter Hinzuziehung
einer anderen Prämisse) ersehen kann, dass Alles, was entsteht,
mit Antecedentien verbunden sein müsse, – dann ist
die Annahme eines apriorischen Causalitätsbegriffs eine leere, auf
nichts begründete Hypothese, welche nur der Denkfaulheit Vorschub
leistet.
3. Der
den ursprünglichen Begriff a priori ausdrückende Satz muss
zugleich ein identischer und ein synthetischer sein.
Wenn es
bloss einen allgemeinsten, ursprünglichen Begriff a priori
gibt, aus welchem die übrigen alle abgeleitet werden
müssen, so muss derselbe sich in einem synthetischen Satze
ausdrücken lassen, welcher unmittelbar gewiss ist. Aber wie kann ein einziger Begriff in einem
synthetischen Satze ausgedrückt werden? Und
wie kann ein synthetischer Satz unmittelbar gewiss sein?
Diese beiden
Fragen wären auf einmal beantwortet und die Aufgabe wäre
gelöst, wenn sich ein Satz finden liesse, welcher
zu gleicher Zeit ein synthetischer und ein identischer wäre. Denn
ein solcher allein würde Fruchtbarkeit an
Folgerungen mit unmittelbarer Gewissheit vereinigen und somit zum
ersten und obersten
Es gibt nun
in der That einen solchen Satz und derselbe
ist kein anderer, als der Satz der Identität. In
präciser Fassung muss derselbe, wie ich schon oben bemerkt habe, so ausgedrückt werden:
An sich,
seinem eigenen Wesen nach ist jedes Object
mit sich selbst identisch.
Dieser Satz
nun ist zugleich ein identisches und ein
synthetisches Urtheil. Als identischer ist
dieser Satz selbstverständlich und wird daher oft für eine
nichtssagende Tautologie gehalten. Als
synthetischer ist er ein Princip der Erkenntniss und wird infolge
dessen oft für eine Generalisation aus der Erfahrung gehalten. Er ist aber weder das Eine noch das Andere, sondern
drückt den ursprünglichen und unableitbaren
238 Zweites
Buch. Sechstes
Kapitel.
Begriff aus,
den wir a priori von dem Wesen der Wirklichkeit haben,
und dessen Wahrheit unserem Bewusstsein von selbst, unmittelbar
einleuchtet. Es bleibt noch übrig, begreiflich zu machen, wie
ein und derselbe Satz zugleich ein identischer und ein synthetischer
sein kann.
Wäre
Alles, was wir erkennen, ohne Ausnahme dem Satze der Identität
vollkommen angemessen oder conform, d. i. mit sich selbst vollkommen
identisch, – so würde dieser Satz selbst nur ein identischer sein.
Denn Subject und Prädicat in demselben
würden dann nicht zwei Begriffe, sondern einen und denselben
Begriff ausdrücken, welcher nicht einmal in der Abstraction
zerlegbar wäre. Wir würden dann ausser Stande sein,
auch nur versuchsweise etwas Wirkliches zu denken, welches
mit sich selbst nicht identisch wäre. Ja,
nicht allein der Satz der Identität würde ein identischer
sein, sondern es würde dann überhaupt gar keine anderen, als
nur identische Sätze geben können. Denn das Wesen dessen, was
mit sich selbst vollkommen identisch ist,
kann eben nur in solchen ausgedrückt werden, wie ich das schon
einmal bemerkt habe. – Allein dieses ist
nicht der Fall, sondern vielmehr das Gegentheil davon findet statt.
Unsere Erfahrung bietet uns gar nichts dar, was mit sich selbst
vollkommen identisch oder dem Satze der
Identität ganz angemessen wäre. Die offenbare Folge davon
ist, dass der Begriff der Wirklichkeit oder der Realität, welchen
wir aus der Erfahrung schöpfen und abstrahiren, die Identität
des Wirklichen mit sich nicht implicirt, von dieser im Denken trennbar
ist, so dass beide mithin als verschiedene Begriffe auseinanderfallen.
Dadurch erweist sich der Satz der Identität, welcher den
Zusammenhang der beiden ausdrückt, als
ein synthetischer Satz
An sich,
seinem inneren Sinne nach, d. h. bloss in Rücksicht auf den
Begriff a priori genommen, welchen er ausdrückt, ist der
Satz der Identität ein identischer Satz. Denn der Begriff a
priori enthält in sich gar keine Beziehung auf eine von
ihm abweichende Erfahrung, in welcher und durch
Der
Organismus des Denkens.
239
welche allein eine
Verschiedenheit von Begriffen zu Stande und zum Vorschein kommt. Sobald
aber der apriorische Begriff des Objects mit den Daten der Erfahrung in
Berührung tritt, welche mit ihm nicht übereinstimmen, wie es
bei jedem Acte des Denkens und Erkennens geschieht, erweist er sich als
fruchtbares Princip oder Gesetz des Erkennens, und der ihn
ausdrückende Satz der Identität als synthetischer Satz, aus
welchem mehrere wichtige und sogar unentbehrliche Folgerungen fliessen.
So ist der apriorische Begriff des Objects, wie ich gezeigt habe und
noch weiter zeigen werde, die Grundlage unserer Erkenntniss der
äusseren unbedingten Dinge oder Substanzen, welche in der
Erfahrung nie vorkommen können, gleichwie die Grundlage unserer
Erkenntniss der Successionen und unseres Bewusstseins von dem
Unterschiede der Wahrheit und Unwahrheit überhaupt. Dieser Begriff enthält auch, wie ich im
nächsten Buch zeigen werde, den rationellen Grund unseres Glaubens
an die Gültigkeit der Induction.
In dem Satze
der Identität sehen wir also das oberste Princip a priori alles
Denkens und Erkennens ausgedrückt. Vornehmlich
muss aber dasselbe als das oberste Princip
der philosophischen Betrachtung der Dinge angesehen und gebraucht
werden. Denn nur dieses Princip, welches die Erfahrung selbst zu Stande
bringt, kann uns die Möglichkeit öffnen und das Mittel geben,
auch über die Erfahrung im Bewusstsein hinauszugehen.
4. Von
einigen abgeleiteten Begriffen.
Die
Erfahrung veranlasst uns, die Wirklichkeit in verschiedenen Hinsichten
aufzufassen, und von den verschiedenen Begriffen, welche dadurch in uns
erweckt werden, erweisen sich einige als in jenem Gesetze des Denkens
implicirt, als blosse Specificationen des apriorischen Begriffs des
Objects, andere dagegen als Folgerungen aus demselben, was hier
vorläufig kurz angedeutet werden muss.
240 Zweites
Buch. Sechstes
Kapitel.
So ist z. B. der Begriff der Einheit nicht
eine Folgerung aus dem Begriffe des Mitsichselbstidentischen, sondern
eine blosse Specification desselben. Denn eins ist
eben nur dasjenige, was mit sich selbst identisch ist. Das ganze Wesen
der Einheit als solcher besteht allein in
dieser Bestimmung. Wir brauchen also aus dem Begriffe des
Mitsichselbstidentischen gar nicht herauszugehen, um denjenigen des
Einen oder der Einheit zu finden. Was die
Erfahrung dazu thut, ist nur, dass sie uns veranlasst, die Wirklichkeit
in quantitativer Hinsicht aufzufassen, was der apriorische Begriff des
Objects für sich allein nicht bewerkstelligen würde. Denn a
priori können wir von einer Vielheit natürlich nichts
wissen, also auch nichts von der Einheit als
dem specifischen Gegentheil derselben.
Ebenso ist der Begriff des Unbedingten, des
Selbstexistirenden oder der Substanz eine blosse Specification des
Begriffs des Mitsichidentischen, d. h. ist in diesem unmittelbar
implicirt. Wir brauchen aus dem Begriffe des Mitsichidentischen gar
nicht herauszugehen, um einzusehen, dass dasselbe unbedingt oder selbstexistirend sei, d. h. seinem Dasein
und Wesen nach nicht von Anderem abhängen könne. Denn die
Identität mit sich schneidet offenbar jede Rücksicht auf
Anderes ab oder schliesst dieselbe aus
(vgl. oben S. 191 – 2).
Was den Satz
vor der Beharrlichkeit der Substanz oder
des Unbedingten in der Zeit betrifft, so kann derselbe, gerade wie der
Satz der Identität selbst, sowohl einen analytischen als auch
einen synthetischen Sinn haben. Analytisch ist
dieser Satz, wenn er bloss das Resultat einer Analyse der Begriffe
ausdrückt, synthetisch dagegen, wenn er als eine Behauptung
über die Natur realer Gegenstände gemeint ist. Der Begriff
der Substanz (des Unbedingten) gehört, wie wir gesehen haben,
unter den Oberbegriff des Mitsichselbstidentischen, ist eine blosse
Specification des letzteren; und der Satz »das mit sich selbst
Identische ändert sich nicht« ist ein bloss analytischer,
weil man zu seiner Constatirung aus der
Der
Organismus des Denkens.
241
Sphäre
der reinen Begriffe nicht herauszugehen braucht. Allein wenn
damit behauptet wird: »Das eigne, unbedingte Wesen der Dinge ist im Gegensatze zu der empirischen
Beschaffenheit derselben, welche im Einzelnen durchweg der
Veränderung unterworfen ist, beharrlich,
unveränderlich«, so ist diese Behauptung ein synthetisches
Urtheil. Denn damit geht man aus der Sphäre der reinen Begriffe
heraus, um etwas über die Natur der Dinge auszusagen, wozu man
ohne Mitwirkung der empirischen Data nicht veranlasst wäre. In
diesem Sinne ist daher der Grundsatz von der Beharrlichkeit der
Substanz nicht eine blosse Specification des in dem Satze der
Identität ausgedrückten Begriffs, sondern eine Folgerung aus
demselben.
Und so ist auch unstreitig der Begriff der Causalität
nicht eine blosse Specification unseres apriorischen Begriffs des
Objects sondern kann sich zu demselben nur wie die Folge zu ihrem
Grunde verhalten. Denn da eben die Causalität nur Successives
betrifft und der apriorische Begriff des Objects an
sich mit Successionen gar nichts zu schaffen hat, so liegt in ihm
natürlich auch keine Andeutung über die Causalität
unmittelbar implicirt. Das Gesetz der Causalität ergibt sich als
der Schlussatz eines Syllogismus, in welchem der apriorische Begriff
des Realen nur eine Prämisse bildet, die andere dagegen der
Begriff des Successiven oder der Veränderung, welcher allein aus
Erfahrung geschöpft sein kann.
Es werden
sich noch andere Folgerungen aus dem apriorischen Begriffe des Objects,
welcher in dem Satze der Identität ausgedrückt ist, ableiten lassen. Aber das Angeführte
genügt um zu zeigen, wie es möglich ist,
dass der Satz der Identität an sich ein bloss identischer ist,
dagegen in seiner Beziehung auf die Erfahrung sich als synthetischer
erweist und den Grund anderer synthetischer Sätze abgibt; wie
derselbe zugleich unmittelbar gewiss und ein positives Princip der
Erkenntniss sein kann. Um die Möglichkeit synthetischer Sätze
a priori zu erklären, brauchen wir also nicht zu
der
242 Zweites
Buch. Sechstes
Kapitel.
so
unnatürlichen und so willkürlichen Annahme Kant’s, dass
die Begriffe a priori zu diesem Zwecke äusserlich und
bloss mechanisch, durch eine besondere Vorrichtung des
Erkenntnissvermögens mit einander verbunden seien, unsere Zuflucht
zu nehmen. Diese Möglichkeit ergibt sich uns
aus dem logischen Wesen der Begriffe selbst. Rein a priori ist
nur der Satz der Identität; andere synthetische Sätze
entspringen aus dessen Zusammenstellung mit den Daten der Erfahrung und
dessen Anwendung auf diese.
Dass aus
blossen Begriffen a priori nichts gefolgert werden
kann, das hat Kant ganz richtig eingesehen. Aber er
fand kein anderes Mittel, um dies festzustellen, als das, die objective
Gültigkeit der Begriffe a priori ganz zu leugnen,
dieselben überhaupt nicht für Auffassungsweisen der
Wirklichkeit gelten zu lassen und einen logischen Zusammenhang
derselben von vornherein nicht zuzugeben. Allein wir sehen, dass diese
Annahme nicht bloss unrichtig, sondern auch unnöthig ist. Aus blossen Begriffen a priori kann
in der That nichts gefolgert werden, weil
es nur einen einzigen Begriff a priori gibt. Einen
synthetischen Satz a priori würde es mithin auch nicht
geben können, wenn nicht die Erfahrung hinzukäme, welche
einen anderen Begriff der Realität gibt, als welchen wir a
priori von derselben haben. Einzig und allein durch den Einfluss
der Erfahrung wird der Satz der Identität, der diesen unseren
Begriff a priori ausdrückt, zu einem synthetischen Satze,
welcher als Princip des Wissens gebraucht werden kann. Daher kommt auch
die Fruchtbarkeit dieses Princips nur der Erfahrung zu Gute; eine
Erkenntniss des jenseits der Erfahrung liegenden Unbedingten, eine
Metaphysik kann aus demselben nicht gezogen werden.