FÜNFTES
KAPITEL.
BEWEIS DES
OBERSTEN DENKGESETZES:
III) AUS DER
NATUR DER SCHMERZ- UND UNLUSTGEFUEHLE.
Die bisher
angeführten Zeugnisse der Erfahrung für die objective
Wahrheit unseres Denkgesetzes sind an sich
stumm und werden nur für einen vorbereiteten Intellect redend. Dieselben bedürfen einer Interpretation, einer
Auslegung, um sich dem Subjecte vernehmlich und verständlich zu
machen. Wenn die Erfahrung durch das Gesetz der Causalität
selbst bezeugt, dass alle Veränderung bedingt ist, also nicht zu
dem eignen, unbedingten Wesen der Dinge gehört, und wenn sie durch
die Natur des in ihr herrschenden Wechsels selbst verkündigt, dass
sie uns die Dinge nicht so zeigt, wie dieselben an sich, in ihrem
eignen Wesen beschaffen sind, dass sie ein fremdes Element der
Unwahrheit enthält und, wie man es gewöhnlich ausdrückt,
eine blosse »Erscheinung« ist, – so bedarf es eines in der
Natur des Denkens orientirten Intellects um dies ihr Zeugniss richtig
zu deuten und zu verstehen. Die meisten Menschen sind
denn auch weit von diesem Verständniss entfernt. Der Wechsel
scheint denselben – mit Ausnahme der Zeiten, wo sie in Nachdenkcn
darüber verfallen, denn dann macht sich die räthselhafte
Natur des Wechsels auch dem Nichtorientirten fühlbar – etwas ganz
Natürliches zu sein und dem Gesetze der Causalität
vermögen sie nur eine praktische und empirische, keine speculative
Bedeutung
222 Zweites
Buch.
Fünftes Kapitel.
abzugewinnen. Aber die
Erfahrung hat auch ein Zeugniss, welches unabhängig von dem Denken
sich an unsere Seele richtet und aus der Seele selbst kommt. Dieses Zeugniss liegt in unseren eigenen Schmerz- und
Unlustgefühlen.
In unseren
Schmerz- und Unlustgefühlen finden wir nämlich nicht bloss
Veränderungen, sondern eine lebendige Quelle von
Veränderungen selbst. Nichts in
der Welt enthält eine innere Nothwendigkeit von
Veränderungen, ausser den Gefühlen von Schmerz und Unlust,*)
diese Nothwendigkeit von Veränderungen ist
aber so höchst bedeutsam, dass sie uns mit einemmale die wahre
Natur der empirischen Dinge offenbart, ohne die Möglichkeit eines
Missverständnisses oder eines Zweifels.
Sehen wir
uns die Sache näher an.
Der Schmerz ist ein Zustand, der sich selbst nicht gleich
bleiben kann, der die innere Tendenz oder Nothwendigkeit enthält,
in einen anderen (schmerzlosen) Zustand überzugehen. Wir können einen Schmerz nicht fühlen, ohne
dass in uns das gebieterische Verlangen erwacht, denselben loszuwerden.
Vergeblich haben einige Denker des Alterthums den Schmerz als etwas an sich Gleichgültiges
darzustellen versucht. Die Natur der Dinge straft sie Lügen. Denn
gleichgültig ist eben nur dasjenige,
was unsere Gefühle nicht afficiren, was uns weder freudig noch
schmerzhaft, sei es auf directe oder indirecte Weise, erregen kann.
»Gleichgültig sein« und »die Gefühle nicht
afficiren« sind zwei gleichbedeutende Ausdrücke. Im Grunde
haben denn auch jene alten Denker wahrscheinlich bloss gemeint, dass
die innere Befriedigung und Beseligung des Weisen im Stande sein solle,
allen Schmerz zu überwinden.
Der Schmerz ist also ein Zustand in dessen Natur die
Nothwendigkeit liegt, sich selbst aufzuheben, sich selbst zu
vernichten. Ist der Schmerz zu gross und keine Aussicht
_______
*) Die
Rechtfertigung dieser Worte wird man in dem Kapitel des 2. Bandes über den Willen finden.
Beweis des
obersten Denkgesetzes. III.
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auf dessen
Beseitigumg vorhanden, so führt er mit Naturnothwendigkeit zum
Selbstmord, zur Selbstvernichtung des ganzen fühlenden
Individuums. Nun ist die Selbstvernichtung
die einzige Art, wie ein realer Gegenstand sich selbst nicht bloss in
Reden und Gedanken, sondern in der That verurtheilen und negiren kann.
Aber wie gewichtig ist auch dieses Reden
durch Thaten! Was die Gedanken bloss in
schattenhafter Reproduction aufführen, ist hier volle
Wirklichkeit; was in Reden und Gedanken bloss behauptet, wird hier
factisch vollbracht. Ganz unabhängig von unseren Meinungen und mit
einer weit überlegeneren Autorität spricht hier die Natur der
Dinge sich selbst das Urtheil. Durch den Schmerz
und in dem Schmerz fühlen wir unmittelbar, dass wir uns in einem
abnormen Zustande befinden. Abnorm ist
aber der Zustand eines Dinges nur dann, wenn er etwas enthält, was
zu dem eignen Wesen des Dinges nicht gehört und, als ein fremdes,
eingedrungenes Element, dessen innere Harmonie stört. So
fühlen wir durch den Schmerz unmittelbar die Wahrheit dessen, was
unser oberstes Denkgesetz aussagt.
Die innere
Nothwendigkeit eines Zustands, sich selbst zu vernichten, implicirt
nämlich offenbar ein zweifaches Zeugniss:
Erstens,
dass diesem Zustande innere Harmonie, d. h. Identität niit sich
selbst fehlt. Was sich
selbst gleich, mit sich selbst vollkommen identisch und
übereinstimmend ist, das kann
selbstverständlich nie die Tendenz enthalten, von sich selbst
verschieden zu werden, seine gegenwärtige Beschaffenheit selbst zu
vernichten, in Widerspruch mit sich selbst zu gerathen.
Zweitens
aber, dass dieser Mangel iunerer Identität mit sich ein abnormer,
gleichsam widernatürlicher Zustand ist,
da er sich durch Selbstvernichtung factisch verleugnet und verurtheilt.
Der Schmerz
spricht also in der Sphäre der Gefühle dasselbe aus, was das Denkgesetz in der Sphäre des
Denkens, nämlich dieses:
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Buch.
Fünftes Kapitel.
In dem
eignen Wesen der Dinge herrscht vollkommene Identität mit sich
selbst. Der
empirischen Darstellung der Dinge dagegen fehlt Identität mit
sich, und eben dies ist ein Zeichen, dass sie Elemente enthält,
welche dem Wesen der Dinge an sich fremd sind, dass in ihr mithin etwas
Abnormes liegt, was für den Intellect als Widerspruch und
Unwahrheit und für das Gefühl als Uebel sich geltend macht.
Der
Intellect ist folglich, wie wir sehen,
nicht das einzige Organ zur Auffassung des Unbedingten; ein Organ zur
Auffassung des Unbedingten ist auch das Gefühl, und das ist eine
Thatsache von ganz besonderer Wichtigkeit. Denn die Auffassung des
Unbedingten durch das Gefühl ist eben
die Religiosität, die wahre Grundlage aller Religion,
welche diesen Namen verdient. Nichts Anderes nämlich ist die Religiosität, als die Ahnung einer
höheren Natur der Dinge und das innere Gefühl usserer
Verwandtschaft mit derselben. Wir wollen nur noch
andeuten, in welchem Zusammenhang das religiöse Gefühl mit
unseren gewöhnlichen Gefühlen steht.
Zeugt der
Schmerz durch seine Natur selbst, dass er etwas ist, das nicht sein
sollte, dass er der Ausdruck eines abnormen und gefallenen Zustandes
ist, so bezeugt er eben damit unmittelbar andrerseits auch das
Vorhandensein einer normalen, höheren Beschaffenheit der Dinge,
welche eigentlich allein das Recht auf Dasein hat. Summirt sich nun
dieses unreflectirte und durch falsche Meinungen darum nicht
irregeleitete Zeugniss der Schmerzgefühle zu einem Habitus der
Seele, zu einem Totalimpuls und einem Totalbewusstsein, so bildet es
das vergeistigte, abgeklärte, von allem empirischen Niedersatz
freie allgemeine Gefühl des Höheren, unserer Verwandtschaft
mit demselben und unseres natürlichen Anrechts an dasselbe,
welches Gefühl eben die Religiosität ausmacht. Darum sagt man
mit Recht, dass
Beweis des
obersten Denkgesetzes. III.
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schen – durch
ihren Contrast mit der gemeinen Wirklichkeit der Dinge und ihre
Erhabenheit über diese geeignet, dieses Gefühl des
Höheren in uns zu erwecken oder zu beleben. Dagegen ist nichts dem religiösen Gefühl und
Sinn feindlicher, als vulgäre Lüste und niedrige
Genüsse, als Glückstaumel und Glücksübermuth.*)
Wir sehen
also, das Bewusstsein, dass das eigne Wesen der Dinge mit sich selbst
identisch ist und dass die Erfahrung uns die Dinge nicht so zeigt, wie
sie an sich beschaffen sind, welches das einzige im eminenten Sinne
philosophische Bewusstsein, ist auch das einzige im eminenten Sinne
religiöse Bewusstsein. Was die Philosophie durch das Organ des
Denkens oder des Begriffs, das verkündigt die Religiosität
durch das Organ des Gefühls, und dass diese zwei unabhängigen
Quellen dasselbe verkündigen, ist eine hohe Gewähr für
die Richtigkeit ihres gemeinschaftlichen Zeugnisses. Das religiöse
Bewusstsein erhält durch die Philosophie seine wissenschaftliche
Begründung und Erläuterung, und das philosophische
Bewusstsein erhält durch die Religiosität die höhere
Weihe des Gemüths. Daraus erwächst uns der unschätzbare
Vortheil, zwischen den Forderungen des Denkens und denen des
Gemüths, zwischen Wissenschaft und Religion eine vollkommene
Harmonie herstellen zu können.
Aber die
erste Bedingung dazu ist, dass man die gewöhnliche, in Wahrheit
unheilschwere Vorstellung fallen lässt, nach welcher das
Unbedingte irgend einem empirischen Object ähnlich ist und den
zureichenden Grund der Welt der Er-
_______
*) Hieraus
kann man ersehen, warum die Asketik so oft als die Begleiterin der
Religiosität auftritt, obgleieh sie nicht nothwendig zu deren
Wesen gehört; denn man muss zwischen niedrigen, gemeinen und
unschuldigen Freuden und Vergnügungen unterscheiden. Das Leben
setzt eben ein Compromiss zwischen den Forderungen unserer höheren
Natur und denen unserer empirischen Beschaffenheit mit ihren
Bedingungen und Gesetzen voraus. Die Asketik dagegen will von einem
solchen Compromiss nichts wissen und verfällt daher in Unnatur.
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Buch.
Fünftes Kapitel.
fahrung
enthält. Es gibt keine Vorstellung, welche so viel Irrthum und
Elend angestiftet hätte, wie diese.*) Das Verhältniss
zwischen dem Unbedingten und dem Bedingten ist nicht dasjenige von
Grund und Folge oder von Ursache und Wirkung, sondern dasjenige von
»Ding an sich« und »Erscheinung«, um sich des Kant’schen
Ausdrucks zu bedienen; d. h. es ist das Verhältniss des Normalen
zum Abnormen, des Wahren, Hellen, Lauteren zum Unwahren, mit Schein und
fremden Elementen Durchwirkten, der höheren, unwandelbaren
Beschaffenheit der Dinge zu einer niedrigeren Darstellungsweise
derselben, welche überall vom Wechsel ergriffen ist und durch den
Wechsel sich selbst verurtheilt. Drei Elemente haben wir bis jetzt in der Welt der Erfahrung kennen
gelernt, welche gleichsam schon an der Stirne das Zeugniss tragen, dass
sie nicht zu dem eignen, normalen, unbedingten Wesen der Dinge
gehören. Das sind die
Relativität, die Veränderung und das Uebel. Jeder Versuch,
diese Elemente aus dem Unbedingten abzuleiten, ist daher für das
wissenschaftliche Bewusstsein eine Ungereimtheit (ein logischer
Widerspruch) und für das religiöse Bewusstsein eine
Impietät, eine Verunreinigung des Gottesbegriffs durch den Schmutz
der gemeinen Wirklichkeit.
Der nunmehr
vollendete dreifache Beweis hat die objective Wahrheit und
Gültigkeit unseres obersten Denkgesetzes ausser allen Zweifel gesetzt. Es
liegt uns jetzt ob, die logischen Folgen desselben mit unbeugsamer
Consequenz und aller möglichen Umsicht zu ziehen. Nur schien es mir nothwendig vorher einige allgemeine
Bemerkungen einzuschalten, welche in dem nächstfolgenden Kapitel
ihren Platz finden.
_______
*)
Darüber kann man in meiner Schrift „Moralität und Religion“ das Kapitel vergleichen, welches betitelt ist:
„Das unwahre Element der Religionen: Die Vergötterung des
wirkenden Princips“.