ZWEITES BUCH.
GRUNDLEGUNG.
 

 
ERSTES KAPITEL,
DER BEGRIFF DES UNBEDINGTEN.

Die positive Feststellung des Begriffs des Unbedingten wird zwei Momente enthalten: 1) Den Nachweis des Verhältnisses, in welchem derselbe zu den logischen Gesetzen des Denkens, dem Satze der Identität und dem Satze des Widerspruchs steht, nämlich den Nachweis, dass diese Säge nichts Anderes, als einen Begriff von dem eignen, unbedingten Wesen der Dinge ausdrücken; 2) Den Nachweis davon, wie die Thatsachen selbst die objective Gültigkeit dieses Begriffs bestätigen oder verbürgen.

Ehe ich jedoch an diese positive Feststellung unseres Begriffs gehe, müssen einige von den Missverständnissen, die denselben umlagern, beseitigt werden. Und zu diesem Behuf ist es vor allen Dingen nöthig nach dem Sinne des Wortes »unbedingt« zu fragen.

Die Worte unbedingt und absolut sind gleichbedeutend, aber. mit dem Worte absolut wird Verschiedenes bezeichnet. Kant hat zwei Bedeutungen des Wortes absolut hervorgehoben, Hamilton - drei und Stauart Mill sogar vier. Nach Kant wird das Wort absolut einmal gebraucht, »um bloss anzuzeigen, dass etwas von einer Sache an sich selbst und also innerlich gelte«; dann aber auch »um anzuzeigen, dass etwas in aller Beziehung (uneingeschränkt) gültig ist (z. B. die absolute Herrschaft)<< (Kr. d. r. V., S. 311). , Nach Stuart Mill bedeutet das Wort absolut: 1) so viel als vollendet, vollkommen, ganz, was auch die zweite Kant'sche Definition
 



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mit umfasst; 2) bedeutet es das Gegentheil des Relativen und 3) dasjenige, was von allem Anderen unabhängig ist. Die vierte Bedeutung ist mir nicht ganz klar. (Vgl. St. Mill's Examination etc. pp. 46-8). Absolut wahr ist z. B. dasjenige, was nicht allein unter irgend welchen Bedingungen als wahr erscheint oder sich erweist, sondern schlechthin wahr ist.  Eine absolute Grenze ist ebenso diejenige, welche nicht allein unter Umständen unübersteiglich, sondern schlechthin unübersteiglich ist. Auch ist absolute Reinheit nicht bloss im Vergleich mit einem anderen Zustande, also verhältnissmässige Reinheit, sondern bedeutet die Abwesenheit aller fremden, trübenden Elemente überhaupt. Darauf sich stützend, behauptet Mill, dass man von dem Absoluten schlechthin nicht reden darf, dass Alles, was absolut ist, absolut etwas sein  muss, absolut schlecht oder absolut gut, absolut weise oder absolut dumm u. s. w. (Eb. p. 56); kurz, dass das Wort absolut nur zu Prädicatsbezeichnungen gebraucht werden darf, nicht aber zur Bezeichnung des Subjects selbst im Urtheil. Darin irrt Mill, wie ich glaube. Wenn man von einem Absoluten schlechthin spricht, so wird darunter das Absolute der Existenz nach, d. i. das Selbstexistirende verstanden. Da die Existenz eines Dinges nicht ein Prädicat ist, wie die anderen, sondern das Vorhandensein des Dinges selbst mitsammt allen seinen Prädicaten bedeutet, . so hat auch die Absolutheit in der Existenz keine bloss prädicative Bedeutung. Ja, .die Absolutheit in der Existenz. eines Dinges bedeutet eben, dass das betreffende Ding niemals als blosses Prädicat gefasst  werden darf, in keiner Weise eine Function oder ein Moment eines Anderen ist, also auch nicht zur' Bezeichnung eines Anderen gebraucht werden kann. Ein Ding von solcher Unabhängigkeit im Dasein wird auch Substanz genannt. Ich bemerke daher ausdrücklich, dass ich unter dem Unbedingten oder dein Absoluten stets das Selbstexistirende oder die Substanz verstehe; diese vier Ausdrücke werden von mir als gleichbedeutend gebraucht. Denn ich betrachte hier lediglich
 



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das Unbedingte dem Dasein oder der Existenz nach. Alle anderen Bedeutungen des Wortes »unbedingt<< oder »absolut« gehen uns hier nichts an.

Es gibt nun Denker, welche behaupten, dass der Begriff unbedingter oder selbstexistirender Dinge ein widersprechender und unmöglicher sei. So sagt z. B. Bain: »Es gibt keine mögliche Erkenntniss einer Welt als nur relativ zu unserem Geist (in re ference to our minds). Das Wissen ist ein, Zustand des Geistes; die Erkenntniss körperlicher Dinge ist ein mentales Factum. Wir sind ausser Stande, das Dasein einer unabhängigen körperlichen Welt auch nur zu erörtern; der Act selbst ist ein Widerspruch« (Senses and Intellect, 3. ed. p. 375.)

Es ist nun aber Thatsache, dass wir eine von uns unabhängige, ja unbedingte Körperwelt erkennen und den Glauben an dieselbe aus unserer Wahrnehmung der Dinge gar nicht beseitigen können, auch wenn wir in abstracto das Dasein der Körper leugnen. Da also jene Behauptung Bain's einer Thatsache widerspricht, so braucht sie nicht weiter widerlegt zu werden.

Ein anderer Schriftsteller H. Spencer hat auf eine andere Weise zu zeigen versucht, dass der Begriff eines Selbstexistirenden widersprechend und daher undenkbar sei, obgleich freilich Spencer sich genöthigt sieht, etwas Selbstexistirendes anzunehmen. Man kann indessen im Voraus einsehen, dass dieser Nachweis auf einem Missverständnisse beruhen muss. Denn der Begriff des Selbstexistirenden ist ganz einfach, enthält gar keine Vielheit von Bestimmungen, kann also auch unmöglich widersprechende Bestimmungen enthalten. Und in der That, einen Widerspruch erzeugt Spencer nur dadurch, dass er den Begriff des Selbstexistirenden in Verbindung mit der. Vorstellung der Zeit bringt. In seinem Werke First Principles, 1863 (p. 31) äussert er sich so darüber: »Selbstexissenz schliesst nothwendig die Idee eines Anfangs derselben aus; und einen Begriff von 'der Selbstexistenz bilden, heisst, einen
 



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Begriff von Existenz ohne. Anfang bilden. Nun können wir aber dieses durch keine Anstrengung des Geistes zu Wege bringen. Um eine Existenz, welche sich durch eine unendliche vergangene Zeit hinzieht, zu denken, müssen wir den Gedanken einer unendlich vergangenen Zeit fassen, was eine Unmöglichkeit ist.« *) .

Es liegt hier eine Verwechselung vor. Was seinem Wesen nach in der Zeit existirt, d. h eine Succession ist, dessen Anfangslosigkeit ist in der That undenkbar. Dass eine unendliche Reihe von Begebenheiten verflossen, also vollendet sein könnte, implicirt einen Widerspruch; denn »unendlich<< bedeutet dasselbe, wie »unvollendbar«. Hier ist eine wirkliche Antinomie vorhanden durch die Nothwendigkeit, die Reihe des Geschehens als anfangslos zu denken. Aber kann denn ein Dasein gar nicht anders, als in der Zeit gedacht werden? Ist der Begriff der Existenz überhaupt' oder  derjenige der Selbstexistenz insbesondere unzertrennlich von dem Begriffe der Succession ? Das Gegentheil ist vielmehr klar. Denn ausser dem. Dasein in der Zeit kennen wir noch ein Dasein im Raume, welches nichts von Succession in seinem Begriffe enthält und dabei

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*) Gleich daneben findet sich noch die folgende Bemerkung Il. Spencer's : „Auch wenn Selbstexistenz begreiflich wäre, so würde sie doch in keinem Sinne eine Erklärung (explanation) des Universums sein.
Niemand wird sagen; dass die Existenz eines Gegenstandes im gegenwärtigen Augenblicke verständlicher gemacht werde durch die Entdeckung, dass derselbe schon eine Stunde vorher, oder einen Tag vorher, oder ein Jahr vorher existirt habe"; folglich „kann keine Anhäufung solcher endlichen Perioden, selbst wenn wir sie zu einer unendlichen Periode ausdehnen könnten, es (das Dasein des Gegenstandes). begreiflicher machen." Die Behauptung, dass die Welt selbstexistirend sei, ist keine Erklärung des Daseins derselben, sondern besagt vielmehr, dass ihr Dasein gar keiner  Erklärung bedarf. Denn eine Erklärung ist die Angabe von Gründen; ;Selbstexistenz ist aber ein Dasein, welches keine Gründe hat. Es ist wirklich zu bedauern, dass dieser bedeutende Denker sich darin gefällt, die Verwirrung des Denkens zu mehren, indem er künstliche Antinomien und . Widersprüche aufstellt, während wir schon an natürlichen und unvermeidlichen vollauf genug haben.



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gerade als Selbstexistenz ' gedacht wird. Wir können ohne,' den geringsten Widerspruch eine ganze Welt im Raume denken, in welcher gar keine Veränderung oder Succession geschieht. Aber ohne reale Succession ist auch keine Zeit überhaupt denkbar. Diese Welt würde also mit der Zeit überhaupt nichts zu schaffen haben. Die Anfangslosigkeit in dem Dasein dieser Welt implicirt daher nicht den mindesten Widerspruch.  Denn um sie zu denken, brauchen wir nicht in der Zeit selbst einen unendlichen Regressus zu machen, sondern die ganze Vorstellung der Zeit ..einfach bei Seite
zu setzen, welche zu dem Begriffe dieser Welt gar nicht gehört.

Der Begriff des Unbedingt ist in der That so weit davon entfernt, widersprechend und undenkbar zu sein, dass er vielmehr der einzige unserem Denken natürliche und begreifliche ist. Der Gedanke eines Objects, welches die , Gründe seiner Existenz nicht ausser sich hat, ist der einzige, in welchem wir uns beruhigen können, wo wir nach keinem Warum noch Woher zu fragen haben.. Etwas Abgeleitetes dagegen ist gär nicht denkbar ohne etwas Ursprüngliches, also etwas Bedingtes nicht ohne ein Unbedingtes. Daher sind auch Veränderungen, da sie nie als. etwas Unbedingtes gedacht werden können, sondern stets Bedingungen voraussetzen und eine Ableitung erheischen, für uns unbegreiflich. Weil jede Veränderung durch eine andere, vorhergehende bedingt ist, muss die Reihe der Veränderungen in  der Zeit als eine unendliche angenommen werden , und dies bildet in der That den Widerspruch, welchen Spencer so ungeschickt dem Unbedingten angedichtet hat. Im Gegensatze zu allen Veränderungen ist für uns ein Object (ein Gegenstand, ein Ding) gleichbedeutend mit einem unbedingten, selbstexistirenden Object. Dass ein Object von anderen abhängig sein, zu anderen in nothwendiger Beziehung stehen könne, das liegt gar nicht ursprünglich in unserem Begriffe eines Objects, sondern wird uns durch die Erfahrung aufgenöthigt. Denn es ist, wie wir
 



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im 1. Buch constatirt haben, Gesetz des Denkens, jeden Gegenstand an sich als unbedingt zu  fassen.

Hier ist nun der Punkt, wo ich auch das Verhältniss zwischen dem Begriffe des Unbedingten und dem des Dinges an sich andeuten muss, welche unter einander in der engsten Verbindung stehen, ja wie sich weiter unten zeigen wird, ein und derselbe Begriff sind.

Den Ausdruck »Ding an sich« hat, wie man weiss, Kant eingeführt; aber das Sonderbare ist, dass er selbst kein klares Bewusstsein davon hatte, was er unter dem »Ding an sich« verstand. ' Daher sehen wir bis auf unsere Tage die erstaunlichste Verwirrung über diesen Begriff herrschen.

Ding an sich kann zweierlei bedeuten
1) Ein Ding abgesehen von seinen Relationen zu anderen Dingen, und 2) ein Ding in seiner eignen -Beschaffenheit betrachtet; seinem eignen Wesen nach genommen.

Diese beiden Bedeutungen fallen in eins zusammen, wenn man annimmt, dass es- nicht zu dem eignen Wesen eines Dinges gehören kann, zu anderen Dingen in Beziehung oder. Relation zu stehen, mit anderen Worten, dass alle Relativität dem Wesen der Dinge an sich fremd ist. Die Definition eines »Dinges an sich« muss indessen auf die letztere der oben angeführten Bedeutungen des Wortes gegründet werden, weil diese die allgemeinere ist.

Nichts kann, wie man sieht, einfacher sein, als dieser Begriff des Dinges an sich. »Es gibt Dinge an sich« heisst mit anderen Worten: »Es gibt ein eignes Wesen der Dinge.« Aber das eigne Wesen der Dinge ist nothwendig unbedingt, denn das Unbedingte ist eben dasjenige, was keine fremden Gründe seines Daseins hat. Dieses werde ich ausführlicher in dem 3. Kapitel dieses Buches zeigen. Also fällt der Begriff des »Dinges an sich« mit dem des Unbedingten zusammen.

Gehörte nun die Relativität, der innere Zusammenhang unter einander zu dem eignen Wesen der Dinge, so würden
 



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die Objecte der Erfahrung, welche unter einander in durchgängiger Verbindung--stehen, »Dinge an sich« und die Welt der Erfahrung selbst das Unbedingte sein. Sollte es sich dagegen zeigen, dass alle Relativität dem Wesen der Dinge an sich fremd ist , so haben wir in der Erfahrung nicht das eigne Wesen der Dinge, so ist das Ding an sich öder das Unbedingte. von der Welt der Erfahrung verschieden.

Letzteres war nun gerade die Voraussetzung, welche der Kant'schen Unterscheidung zwischen »Ding an sich« und »Er= scheinung« zu Grunde, lag. Weil unsere Erkenntnis der Dinge durch die Natur des erkennenden Subjects bedingt ist, schloss Kant, dass wir die Dinge nicht so erkennen, wie sie an sich sind. Die unentbehrliche Prämisse zu diesem Schluss war, offenbar die Voraussetzung, dass es nicht zu dem eignen Wesen der Dinge gehört, von einem Subject erkannt zu werden , oder mit anderen Worten , dass die Dinge in keiner ursprünglichen Beziehung zu irgend einem erkennenden Subject oder zu der Gesammtheit solcher Subjecte stehen. Ist dies aber a priori gewiss, so kann es nur ein Theil oder eine Folge der allgemeinen Gewissheit sein, dass dem Wesen der Dinge an sich die Relativität überhaupt fremd ist, dass -ein Ding in seiner wahrhaft eignen Natur keine Beziehung nicht bloss zu erkennenden Subjecten, sondern zu irgend welchen anderen Dingen . ausser sich enthält. Denn a priori können wir natürlich von- Unterschieden und Ausnahmen in den Verhältnissen der Dinge nichts wissen.*)

Jene grosse Lehre Kant's beruht also, wie man sieht, auf einem positiven Begriff von der Natur der Dinge an sich, auf der Einsicht, dass dem Wesen der Dinge alle Relativität an sich fremd ist. Aber Kant war so weit entfernt, ein klares Bewusstsein davon zu haben, dass er vielmehr den
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*) Ich sage a priori. Denn der Satz, dass Relativität dem Wesen der Dinge an sich fremd ist, konnte nie aus Erfahrung stammen, da uns die letztere alle Objecte durchgängig in Beziehungen sowohl untereinander als auch zu unserem Erkennen zeigt.
 



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Begriff eines »Dinges an sich« ausdrücklich als einen bloss problematischen, negativen Grenzbegriff bezeichnet hat, welcher nichts weiter bedeute, als eben die einschränkende Einsicht , dass die Stammbegriffe des Verstandes, (welche die sog Kategorien sein sollen) lediglich auf die Erfahrung, und zwar auf die. menschliche Erfahrung gehen, und über dieselbe nie hinausführen können. Diese Auffassung des Begriffs eines Dinges an sich war allerdings ein folgerichtiges Ergebniss der Lehre Kant's, dass die Kategorien, des Verstandes sich gar nicht auf wirkliche Gegenstände und deren Erkenntniss beziehen , sondern lediglich zur Verbindung unserer eignen Wahrnehmungen dienen. Hält man aber diese Ansicht fest, dann verliert die Unterscheidung von »Ding an sich« und »Erscheinung« jeglichen bestimmten Sinn. Denn wie und aus welchem Grunde können wir von irgend welchen Dingen oder Objecten überhaupt sprechen, und was können wir über dieselben aussagen, wenn ein Ding oder ein Object gär nichts von unseren Vorstellungen Verschiedenes sein soll, wenn die Beziehung der' letzteren auf einen Gegenstand »nichts weiter thut, als die Verbindung der Vorstellungen auf eine gewisse Art nothwendig zu machen und sie einer Regel zu unterwerfen« (Kr. d. rein. V ft., 214) ?

Dies war jedoch im. Grunde gar nicht die. wirkliche Mei-nung Kant's. Hätte er an seiner Lehre von dem Verstande (an der Lehre der »transcendentalen Analytik«) ernstlich festgehalten, dann brauchte er seine Lehre von der Vernunft (die »transcendentale Dialektik«) gar nicht zu schreiben. Denn er sagt selbst ausdrücklich, dass » die Vernunft eigentlich garkeinen Begriff erzeuge, sondern nur den Verstandesbegriff von den unvermeidlichen Einschränkungen einer möglichen Erfahrung frei mache, und ihn über die Grenzen des Empirisehen, aber in Verknüpfung mit demselben zu erweitern suche« (Eb., 295). Wenn aber die Verstandesbegriffe selbst nichts weiter sind,  als blosse Regeln zur Verbindung der Vorstellungen (wie es die »tr. Analytik« lehrt), dann braucht man wahr.-
 



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haftig nicht erst weitläufig zu beweisen, dass sie ausserhalb der Erfahrung, als sog. »Ideen« keine Gültigkeit haben. Denn dann würden wir von irgend etwas ausserhalb der Erfahrung gar kein Bewusstsein haben können. Thatsache ist es dagegen, dass Kant der Kategorie der Substanz eine objective Gültigkeit zuerkannte und selbst die Kategorie der Causalität auf »Dinge an sich« anwenden wollte, wie es sowohl aus seiner Lehre von der sog. transcendentalen Freiheit. als auch aus der bei ihm überall implicirten Voraussetzung, dass die »Dinge an sich« unsere Vorstellungen bewirken, klar hervorgeht.

Der Begriff des »Dinges an sich« ist in der That kein anderer, als der der Substanz, und es liegt auf der Hand, dass in unserer Erkenntniss einer Welt von Substanzen (von Körpern) der erste Grund lag, ein Wesen an sich der Dinge anzunehmen, welches von der Art, wie wir sie erkennen, verschieden ist. Die Körper erkennen wir factisch als Objecte, denen alle Relativität an sich fremd ist. Daher sieht sich :selbst die Naturwissenschaft genöthigt, unsere gewöhnliche Auffassung der Körper diesem Begriffe gemäss zu berichtigen, was die naturwissenschaftlichen Theorien der Körper und namentlich die mechanische Naturerklärung beweisen.

Dasselbe Gesetz des Denkens, welches die Erkenntniss der Körper bedingt, liegt also auch unserem Bewusstsein eines jenseit der Erfahrung befindlichen, metaphysischen Wesens der Dinge; der Gewissheit, dass die Erfahrung uns die Dinge nicht so zeigt, wie sie an sich sind, dass sie Elemente enthält, welche dem ursprünglichen Wesen der Dinge fremd sind, zu Grunde. Und die Relativität ist nicht das einzige derartige Element; bald werden wir noch andere kennen lernen.

Das Bewusstsein, dass uns die Erfahrung die Dinge nicht zeigt, wie sie an sich sind, dass mithin das Verhältniss zwischen dem Unbedingten und dem Erfahrungsmässigen (Bedingten) nicht dasjenige von Grund und Folge, sondern dasjenige von »Ding an sich« »und Erscheinung<< ist, ist das



 
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eigentliche philosophische Bewusstsein, und, obgleich zuerst von Kant bestimmt formulirt und nicht einmal von ihm selbst mit Klarheit und Consistenz festgehalten, doch sehr alt, ja. vielleicht so alt, wie die reflectirende Menschheit selbst. Eben aus diesem Bewusstsein entsteht die Verwunderung über die Beschaffenheit der Welt, welche nach Platon's und Aristoteles' richtiger Bemerkung den Anfang aller Philosophie bildet. Wer dieses Bewusstsein und diese Verwunderung in sich nicht findet, der wird stets auf dem naturalistischen Standpunkte der Betrachtung stehen bleiben und den eigentlichen philosophischen nie erreichen, auch wenn er dabei die kühnsten m etaphysischen Theorien aufstellt. Denn nicht bloss derjenige ist Naturalist, der die Welt der Erfahrung selbst für das Unbedingte hält, sondern auch derjenige, der das Unbedingtezwar von der Welt der Erfahrung unterscheidet, aber dasselbe dennoch nach Analogien der Erfahrung denkt.

Das Sein oder Nichtsein einer eigentlichen, von empirischen Wissenschaften verschiedener Philosophie hängt von der Beantwortung der Frage ab, ob uns die Erfahrung das eigne, ursprüngliche Wesen der Dinge zeigt oder nicht. Und die Beantwortung dieser Frage hängt offenbar wiederum davon ab, ob wir einen mit der Erfahrung nicht übereinstimmenden und doch objectiv gültigen Begriff a priori von dem eignen Wesen der Dinge haben oder nicht.

Das Vorhandensein eines solchen Begriffs und dessen objective Gültigkeit zu beweisen, wird die Aufgabe der -folgen-den Kapitel sein.