DENKEN
UND
WIRKLICHKEIT.
VERSUCH EINER ERNEUERUNG DER KRITISCHEN PHILOSOPHIE,
AFRIKAN SPI R.
ERSTER BAND.
DAS UNBEDINGTE.
ZWEITE, UMGEARBEITETE AUFLAGE .
LEIPZIG.
J.G.FINDEL
1877. 



FÜNFTES KAPITEL.
PRÜFUNG VERSCHIEDENER THEORIEN.
1. Die Theorien, nach welchen eine wahre Erkenntniss der Körper aus blossen Daten der Erfahrung möglich ist.

Zuerst ist hier die Ansicht derjenigen Denker zu erwähnen, welche Hamilton die natürlichen Dualisten nannte. Diese Denker glaubten annehmen zu dürfen, dass wir wirk-liche äussere Gegenstände unmittelbar selbst wahrnehmen. Bei dieser Ansicht lange zu verweilen ist jedoch offenbar nicht nöthig. Denn dieselbe steht im augenscheinlichen Widerspruch mit den am sichersten beglaubigten Lehren der Physiologie. Wirkliche äussere Gegenstände können von uns nicht unmittelbar wahrgenommen werden, weil zwischen äusseren Gegenständen und unserer Wahrnehmung die Sinnesorgane in der Mitte stehen, und der Inhalt der Wahrnehmung in erster Linie durch die Natur und die Function der Sinnesorgane, nicht durch die Beschaffenheit der auf sie einwirkenden Aussendinge bedingt ist. Die natürlichen Dualisten gehen allerdings von der unzweifelhaften Thatsache aus, dass die Körper unserer Erfahrung von uns unmittelbar selbst wahrgenommen werden. Allein die Körper unserer Erfahrung bestehen denn auch nachweisbar aus nichts Anderem als unseren Sinnesempfindungen selbst, wie es oben experimentell bewiesen worden ist.

Der Glaube, wirkliche äussere Gegenstände selbst wahr



130 Erstes Buch. Fünftes Kapitel.

nehmen zu können, ist zu naiv für unsere Zeit; gegenwärtig ist: man vielmehr bestrebt zu zeigen, dass die Erkenntniss den Körper durch Induction aus den Daten der Erfahrung, d. h.. den Sinnesempfindungen gewonnen werden könne. Diese Erklärungsweise müssen wir prüfen.

Die Induction ist, wie ich schon erwähnt habe, ein Schliessen von ähnlichen Fällen auf ähnliche. Im Grunde ist alle Induction auf rein empirischer Basis - das bezeugt uns der beste Kenner der Sache, Stuart Mill - eine Induction per enumerationem simplicem, d. h. nach dem steten Vorkommen ähnlicher Fälle in der Erfahrung. Denn auch das allgemeineGesetz der Causalität, welches die Grundlage. der strengeren wissenschaftlichen Methoden der Induction bildet, konnte, wenn bloss empirisch, auf keine andere Weise constatirt worden sein. Es ist also klar, dass die Induction, von den Sinnesempfindungen ausgehend, niemals zu äusseren Dingen oder Ursachen, welche selbst keine Empfindungen sind, gelangen kann. Die einzige mögliche Leistung der Induction besteht vielmehr darin, zu ermitteln, welche unter den gegebenen Erscheinungen im Verhältnisse von Ursachen und Wirkungen zu einander stehen. Das heisst mit anderen Worten, die Induction kann nur zur Erkenntniss der Gesetze der Erscheinungen führen, aber nicht zur Erkenntniss von Ursachen und Dingen, welche selbst keine Erscheinungen  sind und also auch den Gesetzen nicht unterliegen, welche die Erscheinungswelt beherrschen. Die Induction gibt uns kein Recht, die Möglichkeit solcher Ursachen und Dinge auch nur vorauszusetzen. - Nun sind aber wirkliche äussere Dinge uns natürlich nie selbst unmittelbar gegeben; folglich kann auf rein inductivem Wege kein causales Verhältniss zwischen den Vorgängen in uns und irgend welchen Dingen ausser uns constatirt werden.

Der klardenkende Hume hat dies ebenfalls sehr wohl begriffen: »Es ist eine Thatfrage«, sagt er, »ob die Wahrnehmungen der Sinne durch äussere ihnen gleichende Gegenstände



Prüfung verschiedener Theorien. 131

hervorgebracht werden. Wie will man diese Frage entscheiden? Offenbar durch Erfahrung, wie bei allen anderen Fragen dieser Art. Aber hier schweigt die Erfahrung gänzlich und muss schweigen. Dem Geiste ist nie etwas Anderes gegenwärtig als die Wahrnehmungen (perceptions), und er kann unmöglich deren Verknüpfung mit den Gegenständen durch Erfahrung erreichen. Die Annahme einer solchen Verknüpfung hat deshalb keinen Vernunftgrund für sich.« *) Auch Kant bemerkt ganz richtig: »Wenn wir äussere Gegenstände für Dinge an sich gelten lassen, so ist schlechthin unmöglich zu begreifen, wie wir zur Erkenntniss ihrer Wirklichkeit ausser uns kommen sollen, indem wir uns bloss auf die Vorstellungen stützen, die in uns sind« (Kr. d. r. V., S. 70).

Um klar zu sehen in diesem Punkte müssen wir uns vor Allem die folgende Frage stellen: Welche äussere Dinge meint man denn eigentlich, wenn man die Erkenntniss der äusseren Dinge erklären will? Versteht man darunter irgend welche unbekannte, von den Körpern unserer Erfahrung verschiedene, bloss vorausgesetzte Dinge? Allein von solchen Dingen haben wir ja keine Erkenntniss und eine Er kenntniss, weiche nicht existirt, braucht natürlich auch nicht erklärt zu werden. Versteht man also unter den äusseren Dingen die Körper unserer Erfahrung? Aber die Erkenntniss dieser Körper konnte nicht durch Induction gewonnen sein; denn sie ist eine unmittelbare Wahrnehmung. Unsere Sinnesempfindungen sind nicht, wie man es gewöhnlich annimmt, blosse Zeichen äusserer Gegenstände, in den Sinnesempfindungen erkennen wir vielmehr die äusseren Gegenstände selbst. Wir sehen und betasten, hören, riechen und schmecken nicht blosse Zeichen, sondern Gegenstände, Körper. Hier darf ich einfach auf den in dem vorhergehenden Kapitel geführten Beweis, dass die von uns fac-
_______
*) Hume's Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes, übersetzt von v. Kirchmann, S. 141. Von dieser Uebersetzung musste ich in einigen Stellen des Citats abweichen, weit das Original darin nicht genau wiedergegeben ist.



132 Erstes Bach. Fünftes Kapitel.

tisch erkannten Körper aus nichts Anderem als unseren Sinnesempfindungen selbst bestehen, verweisen.

Nur indem man sich von dem sinnlichen Schein unterjochen lässt, der uns in unseren Empfindungen eine Welt äusserer Gegenstände vorspiegelt, nur indem man diese bloss in der Vorstellung existirenden Gegenstände für wirkliche Dinge ausser uns hält, sieht man sich genöthigt, zu dem so unhaltbaren Versuch, die Erkenntniss der Körper durch Induction zu erklären, zu greifen. Man hält dann die Körper zugleich fürsinnlich - denn Nichtsinnliches liegt ausserhalb der Erfahrung - und doch auch nicht für sinnlich - denn alles Sinnliche ist blosse Empfindung - und glaubt den Uebergang vom einen zum anderen durch Induction herstellen zu können. Allein dieses heisst, wie gezeigt worden, sowohl die Natur und Leistungsfähigkeit der Induction als auch den zu erklärenden Thatbestand gründlich verkennen.
 
2. Die Ansicht, nach welcher die Erkenntniss der Körper mittels eines apriorischen Causalitätsbegriffs gewonnen wird.

Die Ansicht, dass die Erkenntniss der Körper durch einen Schluss auf die Ursachen unserer Empfindungen mittels eines apriorischen Causalitätsbegriffs gewonnen werde, hat zwei berühmte Vertreter gefunden, Schopenhauer und Helmholtz, welche sich jedoch dadurch von einander unterscheiden, dass Schopenhauer an das Dasein der Körper ausser uns nicht geglaubt hat, während Helmholtz daran glaubt. Bemerkenswerth ist es, dass der Naturforscher hierin mehr Logik zeigt, als der Philosoph. Denn welchen vernünftigen Sinn kann es haben, das Dasein der Körper ausser uns zu leugnen und zugleich zu behaupten, dass die (nicht existirenden) Körper durch einen Schluss, als Ursachen unserer Empfindungen erkannt werden. Die obige Schopenhauer und Helmholtz gemeinsame Ansicht steht indessen sowohl mit dem Sinne des Satzes der Causalität als auch mit den Thatsachen des Erkennens im Widerspruch. Der Satz der Catisalität besagt, - gleichviel



Prüfung verschiedener Theorien.
133
ob er empirischen oder apriorischen Ursprungs ist - dass eine Veränderung sich nicht ereignen kann, ohne dass vorher eine andere Veränderung eingetreten ist, auf welche sie nach einem unwandelbaren Gesetze folgt. Auf Grund dieses Satzes fortschreitend, gelangt man also von einer Veränderung bloss -- zu einer anderen Veränderung, als deren Ursache, niemals aber zu einem Ding, einem Object, welches seiner Natur nach von allen blossen Veränderungen verschieden ist. Ich weiss wohl, dass man es gewöhnt ist, unter einer Ursache sich vorzugsweise gerade ein Object und nicht eine Veränderung zu denken, aber diese Ansicht ist total unhaltbar, wie ich es im 3. Buch dieses Bandes ausführlich zeigen werde.

In gleich starkem Widerspruch steht die obige Ansicht auch mit den Thatsachen des Erkennens. Denn der Thatbestand ist, wie oben bewiesen worden, der, dass die Körper gar nicht durch einen Schluss erkannt, sondern selbst wahrgenommen werden, dass eben der Inhalt unserer Wahrnehmungen selbst dasjenige ist, was wir als eine Welt von Körpern erkennen. Wären die Körper bloss durch einen Schluss erkannt, so würden wir dieselben bloss denken, nicht aber sehen und betasten, hören, riechen und schmecken, die Erkenntniss der Körper wäre dann discursiv, nicht intuitiv, die Welt der Körper könnte dann bloss eine mehr oder weniger problematische Idee in uns, nicht aber der Mutterboden unserer Erfahrung selbst sein. Alle Ansichten welche die Erkenntniss der Körper durch einen Schluss entstehen lassen, beruhen offenbar auf der Verwechselung der bekannten Körper mit unbekannten bloss vorausgesetzten, ausser uns, also auch ausser unserer Erfahrung vorhandenen Dingen, welche Verwechselung durch den in der Wahrnehmung der Körper liegenden sinnlichen Schein der Aeusserlichkeit veranlasst wird. Dass auch Helmholtz sich von diesem Schein hat blenden lassen, ist billig zu verwundern, wenn man sieht, wie nahe er der wahren Einsicht in diesem Punkte gekommen ist. Ueber den Werth und Sinn der Körpererkenntniss sagt er nämlich Folgendes:



134 Erstes Buch. Fünftes Kapitel.

»Ich meine, dass es gar keinen möglichen Sinn haben kann, von einer anderen Wahrheit unserer Vorstellungen zu sprechen, als von einer praktischen. Unsere Vorstellungen von den Dingen können gar nichts Anderes sein, als Symbole, natürlich gegebene Zeichen für die Dinge, welche wir zur Regelung unserer Bewegungen und Handlungen benutzen lernen. Wenn wir jene Symbole richtig zu lesen gelernt haben, so sind wir im Stande, mit ihrer Hilfe unsere Handlungen so einzurichten, dass dieselben den gewünschten Erfolg haben, d. h. dass die erwarteten neuen Sinnesempfindungen eintreten. Eine andere Vergleichung zwischen den Vorstellungen und den Dingen gibt es nicht nur in der Wirklichkeit nicht - darüber sind alle Schulen einig - sondern eine andere Art der Vergleichung ist gar nicht denkbar und hat gar keinen Sinn . . . Zu fragen, ob die Vorstellung, welche ich von einem Tische, seiner Gestalt, Festigkeit, Farbe u. s. w. habe, an und für sich, abgesehen von dem praktischen Gebrauch, den ich von dieser Vorstellung machen kann, wahr sei und mit den wirklichen Dingen übereinstimme, oder ob sie falsch sei und auf einer Täuschung beruhe, hat gerade so viel Sinn, als zu fragen, ob ein gewisser Ton roth, gelb, oder blau sei. Vorstellung und Vorgestelltes sind offenbar zwei ganz verschiedenen Welten angehörig, welche ebensowenig eine Vergleichung unter einander zulassen als Farben und Töne oder als die Buchstaben eines Buches mit dem Klang des Wortes, welches sie bezeichnen« (Physiol. Optik, 433).

Schärfer und entschiedener, als es hier Helmholtz thut, kann man die Einsicht nicht aussprechen, dass wir es in unserer Erfahrung nie mit wirklichen äusseren Dingen, stets nur mit unseren eignen Wahrnehmungen und Empfindungen zu thun haben. Nichts destoweniger glaubt Helmholtz an das wirkliche Dasein der vorgestellten Körper, unsere Vorstellungen sind nach ihm »Symbole, natürlich gegebene Zeichen für die Dinge.« Woher weiss er denn dies, da er doch nach seinem eignen Geständniss von wirklichen Dingen nichts weiss, ja :eine Erkenntniss derselben für schlechthin unmöglich hält?



Prüfung verschiedener Theorien.
135
Offenbar lässt sich hier Hehnholtz durch den erwähnten sinnlichen Schein täuschen und vermag infolge davon die Thatsache, dass unsere Wahrnehmungen nach solchen Gesetzen in uns auftreten und unter einander zusammenhängen, welche mit ihrer Auffassung als eine Welt von Dingen im Raume factisch congruiren, nicht zu trennen von der metaphysischen Erklärung dieser l'hatsache durch die Annahme wirklicher Dinge ausser uns, welche die Stelle der Wahrnehmungen ausser uns vertreten und gleichsam die Träger der wahrgenommenen Thatsachen sein sollen. Allein die wahrgenommenen Thatsachen liegen sämmtlich in uns selbst, bedürfen also keines äusseren Trägers und die metaphysische Erklärung derselben durch vermuthete wirkliche Dinge ausser uns kann die Erkenntnisslehre nur irreführen, indem sie die factisch unwahre Ansicht
begünstigt, dass die Körper unserer Erfahrung durch einen Schluss erkannt werden. Gleich unten werden wir Gelegenheit haben, diesen Punkt mehr ins Licht zu setzen.

3. Die sogenannte psychologische Theorie von St. Mill.

John Start Mill war einer von den sehr wenigen Denkern welche vollkommen klar einsehen, dass dasjenige, was wir als Körper erkennen, unsere eignen Empfindungen sind. Unter diesen Denkern war aber Mill, so viel ich weiss, der einzige, der den Versuch gemacht hat, unsere Erkenntniss der Körperwelt aus den gegebenen Empfindungen allein abzuleiten, ohne physiologische Erfahrungen mit herbeizuziehen, was unerlaublich wäre, da physiologische Erfahrungen schon die Erkenntniss der Körperwelt voraussetzen und folglich nicht zur Erklärung ihres Ursprungs selbst gebraucht werden können.*)
_______
*)Das heisst, physiologische Erfahrungen dürfen zur Erklärung der Körpererkenntniss verwendet werden, aber nur auf dem Standpunkte der Physiologie, überhaupt der Erfahrung, welche unsere Empfindungen als eine Welt von Körpern zeigt. Die Erkenntnisslehre dagegen kann solche Erfahrungen nicht gebrauchen, da sie erst zu zeigen hat, wie wir überhaupt dahin kommen, unsere Empfindungen als eine Welt von Dingen ausser uns zu erkennen.



136 Erstes Buch. Fünftes Kapitel.
 
 
Daher nannte Mill seinen Versuch die »psychologische Theorie„ der Erkenntniss einer Körperwelt und darum ist auch dieser Versuch für die Erkentnnisslehre von besonderem Interesse, weil man an demselben einen concreten Fall hat, zur Beurtheilung der Frage, ob die Erkenntniss der Körper aus rein empirischen Daten allein enstehen kann oder nicht.

Mill postulirt zu seiner Erklärung nichts weiter, als die Fähigkeit des Bewusstseins, Künftiges zu erwarten, und die beiden bekannten Gesetze der Association, -nämlich: »1) Aehn- liehe Erscheinungen haben die Tendenz, zusammen gedacht zu werden. 2) Erscheinungen, welche dicht nebeneinander (in close contiguity, in naher Nachbarschaft) entweder wahrgenommen oder begriffen wurden, haben die Tendenz, zusammen gedacht zu werden. Die Nachbarschaft (contiguity) ist von zweierlei Art: Zugleichsein und unmittelbare Aufeinanderfolge. Facta, welche zugleich wahrgenommen oder gedacht wurden, rufen einander ins Gedächtnis- zurück. Von den Facten, welche in unmittelbarer Aufeinanderfolge wahrgenommen oder gedacht wurden, ruft das Vorhergehende oder der Gedanke desselben (the - thought of it) auch den Gedanken des Nachfolgenden zurück, aber nicht umgekehrt. 3) Associationen, welche durch Nachbarschaft (contiguity) entstanden sind, werden sicherer und rascher durch Wiederholung.« (An Exam. etc. pp. 219-20).

Dann gibt Mill die Erklärung selbst auf den Seiten 222-6 seines Werkes über die Philosophie Hamilton's. Diese Erklärung lasse ich hier abgekürzt folgen:

»Ich sehe ein Stück weisses Papier auf einem Tische. Ich gehe in ein anderes Zimmer. Wenn das Phänomen mir immer folgte oder wenn ich im Falle seines Nichtfolgens glaubte, dass dasselbe e rerum natura verschwinde, so würde ich es nicht für einen äusseren Gegenstand halten.« »Allein obgleich ich aufgehört habe, dasselbe zu sehen, so bin ich doch überzeugt, dass das Papier noch immer da ist,« d. h, ich weiss, dass wenn ich mich wieder in dieselben Umstände



Prüfung verschiedener Theorien.
137
zurückversetze (nämlich in das Zimmer zurückkehre), ich das Papier wieder sehen werde, »und dass es in der Zwischenzeit keinen Augenblick gegeben habe, wo dieses nicht der Fall sein würde. Infolge dieser Eigenschaft meines Geistes besteht meine Vorstellung von der Welt in jedem gegebenen Momente nur zum kleinen Theil aus gegenwärtigen Sensationen.« Dieselbe enthält noch ausserdem »eine unzählige Verschiedenheit von Möglichkeiten von Empfindungen, nämlich alle diejenigen, welche ich, wie es mir die frühere Beobachtung lehrt, unter irgend welchen denkbaren Umständen in diesem Momente, haben könnte.«

»Diese verschiedenen Möglichkeiten sind für mich das Wichtige. Meine gegenwärtigen Empfindungen sind in der Regel von geringer Wichtigkeit und sind ausserdem vorübergehend, während die Möglichkeiten im Gegentheil permanent sind, was eben das Eigenthümliche ist, welches unsere Idee der Substanz oder der Materie von unserem Begriffe der Sensation hauptsächlich unterscheidet.«

Weiter stellt es sich heraus, dass »die Möglichkeiten von Sensationen sich auf Empfindungen beziehen, welche in Gruppen zusammen vereinigt sind.« In einer materiellen Substanz oder einem Körper denken wir uns nicht eine Empfindung, sondern die Möglichkeit vieler Empfindungen, »welche gewöhnlich verschiedenen Sinnen gehören, aber unter einander so verknüpft sind, dass das gegenwärtige Dasein einer derselben das mög, liehe Vorhandensein in demselben Moment jeder der übrigen oder, aller zusammen, verkündigt.« Die ganze Gruppe erscheint uns daher als eine »Möglichkeit von Sensationen«, welche zu jeder Zeit realisirt werden können, im Gegensatze zu dem accidentiellen Charakter der Empfindungen selbst und wird deshalb als eine Art »beharrliches Substratum unter einer Reihe (set) vorübergehender Erfahrungen oder Manifestationen« gedacht.

Ausser der Ordnung im Zugleichsein der Empfindungen erkennen wir nun noch eine beständige Ordnung in der Suc-



138 Erstes Buch. Fünftes Kapitel.

cession derselben, eine Gleichförmigkeit der Aufeinanderfolge, welche den Begriff des causalen Verhältnisses veranlasst. Aber fast in allen Fällen besteht der Zusammenhang des Vorhergehenden und Nachfolgenden »nicht zwischen Empfindungen, sondern zwischen jenen Gruppen, von welchen oben geredet wurde und welche nur zum kleinen Theil aus actuellen Empfindungen bestehen.« Daher verbindet sich unsere Vorstellung von Causalität und Activität nicht mit dem Gedanken an actuelle Empfindungen, sondern mit dem jener Gruppen von »Möglichkeiten der Empfindungen.« Wir sehen nämlich, dass Veränderungen in diesen letzteren meist unabhängig von unserem Bewusstsein und unserer An- oder Abwesenheit vor sich gehen. »Ob wir schlafen oder wachen, das Feuer geht aus und macht ein Ende einer besonderen Möglichkeit von Wärme und Licht. Ob wir anwesend oder abwesend sind, das Korn gelangt zur Reife und bringt eine neue Möglichkeit von Nahrung. Daraus lernen wir bald von der Natur so denken, als bestände sie lediglich aus diesen Gruppen von Möglichkeiten.« »Wenn dieser Zustand des Denkens erreicht worden ist, dann und von dieser Zeit an sind wir uns niemals einer Empfindung bewusst, ohne dieselbe augenblicklich in irgend eine jener Gruppen von Möglichkeiten einzureihen, zu welcher eine Empfindung dieser besonderen Art gehört; und wenn wir noch nicht wissen, zu welcher Gruppe die Empfindung gerechnet werden muss, so fühlen wir doch die unwiderstehliche Ueberzeugung, dass dieselbe zu irgend einer Gruppe gehören muss.« In diesem Stadium haben »die fraglichen permanenten Möglichkeiten ein von aller Empfindung so verschiedenes Ansehen und eine so verschiedene scheinbare Beziehung zu uns erlangt, dass es der bekannten Beschaffenheit der menschlichen Natur ganz entgegen sein würde, wenn dieselben nicht wenigstens als so verschieden von Empfindungen gedacht und geglaubt wären, wie eine Empfindung von einer anderen verschieden ist. Wir finden ausserdem, dass die Möglichkeiten der Empfindungen >ebensogut anderen menschlichen oder fühlenden



Prüfung verschiedener Theorien.
139
Wesen gehören, als uns selber.«  »Was eine gegenwärtige Möglichkeit von Empfindungen für uns anzeigt, zeigt eine gegenwärtige Möglichkeit ähnlicher Empfindungen auch für jene an, ausser insoweit ihre Sinnesorgane von dem Typus der unsrigen abweichen können. Dieses drückt das letzte Siegel unserer Auffassung der Gruppen von Möglichkeiten als der fundamentalen Wirklichkeit in der Natur auf.« »Die Welt möglicher Empfindungen, welche auf einander nach Gesetzen folgen, ist ebensowohl in anderen Wesen als in mir, sie hat also eine Existenz ausser mir, sie ist eine äussere Welt.«

Mit dieser Erklärung der Externalität war aber Mill noch nicht ganz zufrieden, er bringt einige Seiten weiter. unten (p. 230) noch eine Erörterung vor, deren wesentliche Punkte ich hier gleichfalls wiedergebe:

»Es ist eine anerkannte Thatsache, dass wir aller derjenigen Begriffe (conceptions) fähig sind, welche durch Generalisation aus den beobachteten Gesetzen unserer Empfindungen gebildet werden können. Welches Verhältniss wir zwischen irgend einer Empfindung und etwas von ihr Unterschiedenem vorfinden, dieses selbe Verhältniss können wir auch ohne Schwierigkeit zwischen der Summe aller unserer Empfindungen und Etwas, das von ihnen (allen) unterschieden ist, denken.< Die bemerkten Unterschiede der Empfindungen geben uns den allgemeinen Begriff des Unterschiedes überhaupt und die »Vertrautheit mit der Vorstellung von Etwas, das von jedem uns bekannten Dinge unterschieden ist, macht es uns leicht und natürlich. den Gedanken von Etwas zu fassen, das von allen uns bekannten Dingen, sowohl insgesammt wie einzeln, unterschieden ist.« Und »nichts ist wahrscheinlicher, als dass die permanenten Möglichkeiten der Empfindung, welche von unserem Bewusstsein bezeugt (oder verbürgt, testified) sind, in unseren Gedanken verwechselt werden mit jener imaginären Vorstellung« eines von allen Empfindungen unterschiedenen Dinges. Dieses wird noch gewisser, wenn wir das allgemeine



140 Erstes Buch. Fünftes Kapitel.

Gesetz unserer Erfahrung in Betracht ziehen; welches das Causalitätsgesetz heisst. »Der Fall der Causalität ist-einer der ausgezeichnetsten (marked) unter allen jenen Fällen, wo wir eine aus den Theilen unseres Bewusstseins (consciousness) abgeleitete Vorstellung (derived notion) auf das Ganze desselben ausdehnen.« »Durch diese Ausdehnung der inneren Relationen, welche zwischen den verschiedenen Theilen der Erfahrung bestehen, auf die Summe aller unseren Erfahrungen werden wir dahin geführt, zu denken, dass die Empfindung selbst - der ganze Inbegriff aller unserer Empfindungen - ihren Ursprung in bedingenden (antecedent) Existenzen habe, welche jenseit aller Empfindung liegen.« Dies ist eine Folge davon, dass das beständige Antecedens einer Empfindung nur selten -eine gegenwärtige Empfindung oder mehrere solche bilden, sondern meistens jene Gruppen von Möglichkeiten der Empfindungen. Daher kommt es, dass unsere Vorstellung der Ursache mit jenen permanenten Möglichkeiten identificirt wird und »wir durch einen und denselben Process uns gewöhnen, sowohl die Empfindung überhaupt, gleich den einzelnen Em-pfindungen, als eine Wirkung (an effect) zu betrachten, als auch die Ursachen unserer meisten einzelnen Empfindungen nicht in anderen Empfindungen, sondern in den allgemeinen Möglichkeiten der Sensationen zu sehen. Wenn alle diese Betrachtungen zusammen keine vollständige Erklärung und Rechenschaft davon geben, wie wir dazu kommen, jene Möglichkeiten als eine Classe unabhängiger und substantieller Wesen (entities) zu denken, so weiss ich nicht, welche psychologische Analyse überzeugend ist.«

Der Hergang unserer Erkenntniss der äusseren Welt soll also nach Mill, kurz gefasst, der folgende sein: 1) Es werden verbundene Gruppen oder Complexe möglicher zugleichseiender Empfindungen erkannt und ebenso bestimmte Gleichförmigkeiten in der Succession der Empfindungen, d. i. Causalgesetze. 2) Es entsteht das abstracte Bewusstsein, dass alle und jede Empfindung zu irgend einer Gruppe möglicher Sensationen



Prüfung verschiedener Theorien. 141

gehören muss, und zugleich das Bewusstsein des allgemeinen Causalitätsgesetzes, nach welchem Alles, was entsteht, ein unveränderliches Antecedens, eine Ursache haben muss, wobei der Gedanke einer Ursache hauptsächlich mit jenen Gruppen associirt wird. 3) Es bildet sich das abstracte Bewusstsein von Etwas, das von. allen Empfindungen überhaupt unterschieden ist, und - da inzwischen noch constatirt wird, dass die permanenten Gruppen von Möglichkeiten der Empfindungen allen Menschen gemeinsam sind - wird 4) jenes Etwas mit den erkannten Gruppen verwechselt, ein solches Etwas als das Substrat jeder Gruppe angenommen, und erst infolge davon, durch Association mit dem Gedanken von jenem Etwas, werden 5) die Empfindungen selbst nach Aussen verlegt, uns selber entfremdet, als ein Nicht-Ich und als etwas Objectives uns gegenüber erkannt.

Darnach soll also unser Glaube, dass die Erde, die uns trägt und das Heer von Sternen und Planeten in den unermesslichen Himmelsräumen unabhängig von uns selbst, von aller Erfahrung erkennender Subjecte existiren, bloss die Folge einer irrthümlichen Generalisation, ein Product der durch die Vernunft nicht controllirten Association der Vorstellungen sein. Ueber diese Erklärung muss man unwillkürlich lächeln, so gründlich verkennt sie den Thatbestand selbst, den sie zu erklären unternimmt. Es ist denn auch nicht schwer zu zeigen, dass diese Erklärung gleich am Anfang dasjenige stillschweigend voraussetzt, was sie am Ende, als das Resultat herauszubekommen vorgibt, kurz gesagt, dass dieser Theorie eine Erschleichung zu Grunde liegt.

Es wird darin angenommen und behauptet, dass die objectiven Empfindungen (Farben, Töne u. s. w.) dem Subjecte ebenso eigen und innerlich seien, wie die Gefühle der Lust und Unlust. Letztere sollen sich von jenen nur dadurch unterscheiden, dass sie »are highly interesting to us an their own account<< (An Examination etc. p. 261). Mill sagt ausdrücklich : »Wir haben wahrscheinlich keine Vorstellung von einem



142 Erstes- Buch. Fünftes Kapitel.

Nicht-Ich (Not- Self), ehe wir nicht eine genügende Erfahrung des Vorkommens von Empfindungen nach festen Gesetzen und in Gruppen gewonnen haben« (Eb. p. 258). Zugleich wird aber von diesen Empfindungen überall so geredet, als seien die »Gruppen« derselben etwas Besonderes, von dem Subjecte Unterschiedenes, mit einer eigenen Beharrlichkeit, welche nicht die Beharrlichkeit des Ich selbst ist, und mit Veränderungen, welche keine Veränderungen in dem Ich sind, sondern von diesem unabhängig vor sich gehen. Fasst man: einmal diese Gruppen so, dann wird freilich zu der Verwechselung derselben mit äusseren Gegenständen ein leichter Weg gebahnt. Allein die Hauptsache besteht eben darin, dass ich von , irgend welchen »Gruppen« meiner Empfindungen nicht das leiseste Bewusstsein haben kann, wenn ich letztere bloss als innere Bestimmungen und Modificationen meiner selbst erkenne. Dann kann ich nur allein die Tendenz haben, bei dem Vorhandensein einer Empfindung das Eintreten bestimmter anderen zu erwarten. Damit ich diese Tendenz selbst als ein Gesetz oder als einen Complex von Empfindungen erkenne, muss ich sie mir schon offenbar objectiviren, vor mir als etwas Besonderes hinstellen, was aber nicht durch blosse Association -- denn diese bewirkt lediglich jene Tendenz selbst, - sondern nur durch Reflexion über dieselbe geschehen kann. Mill leiht offenbar seinen eigenen, philosophischen Standpunkt dem Bewusstsein des Kindes , welches Gegenstände erst erkennen muss.

Was weder Mill noch sonst ein anderer Denker bemerkt und beachtet zu haben scheint, ist der höchst wichtige Umstand, dass unsere Erkenntniss der Empfindungen als einer Welt von Dingen ausser uns eine ihr entsprechende Natureinrichtung der Empfindungen selbst voraussetzt.

Wir würden unsere Empfindungen nicht als eine Welt von Dingen im Raume erkennen können, wenn dieselben nicht nach solchen Gesetzen in uns aufträten und unter einander zusammenhingen, welche dieser Erkenntniss oder Auffassung



Prüfung verschiedener Theorien.
143

durchgängig angepasst und conforrn sind. Dasjenige, was Mill »Möglichkeiten der Empfindungen« nennt, enthält eine Gesetzmässigkeit, welche nicht zufällig zur Verwechselung dieser »Möglichkeiten« mit äusseren Gegenständen führt, sondern dieser Verwechselung planmässig und mit durchgängiger Consistenz angepasst ist. Nur durch diese Anpassung und Natureinrichtung der Empfindungen ist es möglich gemacht, dass wir die Gruppen und Möglichkeiten derselben als äussere Gegenstände erkennen, ohne auf einen einzigen Fall in unserer Erfahrung zu stossen, der mit dieser Erkenntniss in Widerspruch stände. Bis in die kleinsten und unmerklichsten Details hinein ist die Ordnung unserer Empfindungen so ein gerichtet, dass wir in denselben äussere Gegenstände sehen und betasten, hören, riechen und schmecken, weche für alle erkennenden Subjecte dieselben sind und deren physikalische und chemiche Gesetze eine von der Erfahrung aller Subjecte unabhängige Grundlage und Wesenheit haben.

Ein einzelner Fall wird die Sache klarer hervortreten, lassen, und um diesen Fall möglichst einfach zu machen, wollen wir uns auf den Gesichtssinn allein beschränken.

Wir wissen, dass ein und derselbe Gegenstand dem Gesichtssinn unter sehr verschiedenen Beleuchtungen, in allerlei verschiedenen Lagen und allerlei verschiedenen Entfernungen
. erscheinen kann. Die Gesichtseindrücke sind dabei jederzeit andere , aber wir erkennen trotzdem in ihnen allen einen und denselben identischen äusseren Gegenstand. An der Wand meines Zimmers z. B. hängt ein Bild. Trete ich dem Bilde ein paar Schritte näher, so erscheint mir dasselbe grösser, trete ich ein paar Schritte zur Seite, so erscheint es mir in einer anderen Gestalt. Ich habe also drei verschiedene Eindrücke, aber in allen drei denselben äusseren Gegenstand. Das gewöhnliche Bewusstsein glaubt nun, dass der gesehene Gegenstand von allen meinen Eindrücken durchaus verschieden und unabhängig ist. Dieser Glaube ist allerdings, wie schon oben bewiesen worden, nicht schlechthin wahr. Dasjenige; was



144 Prüfung verschiedener Theorien.

ich als einen äusseren Gegenstand sehe, ist vielmehr factisch jederzeit mein eigner Gesichtseindruck. Darum erscheint mir auch der gesehene Gegenstand, je nach Lage und Entfernung, grösser oder kleiner, in dieser oder in einer anderen Gestalt. Aber unzweifelhafte Thatsache ist doch, dass die betreffenden Gesichtseindrücke von Natur so beschaffen sind, dass ich in denselben, trotz ihrer Verschiedenheit, mit vollkommener empirischer Wahrheit einen und denselben äusseren Gegenstand erkenne, dass sie sich in der Vorstellung eines einzelnen Gegenstandes mit Consistenz und Nothwendigkeit vereinigen lassen.

Der Sinn dieser empirischen Wahrheit ist jetzt leicht zu fassen. Unsere Empfindungen einerseits und unsere Erkenntniss derselben als einer Welt von Körpern andrerseits stimmen zwar logisch mit einander nicht überein, - denn die Empfindungen sind eben in der That keine Körper, keine äusseren Gegenstände -- aber sie congruiren factisch mit dieser Erkenntniss. Denn die Gesetze unserer Erfahrung sind factisch so eingerichtet, dass wir in unseren Sinnesempfindungen ohne Inconsistenz eine Welt von Körpern wahrnehmen. In diesem Sinne ist darum die Erkenntniss der Körper wahr und berechtigt, während sie unter den Voraussetzungen Mill's in keinem Sinne Wahrheit und Berechtigung hätte.

Aber das so eben gewonnene Ergebniss führt uns mit Nothwendigkeit zu noch weiteren Schritten. Was bedeutet nämlich der Umstand, dass unsere Empfindungen planmässig dazu eingerichtet sind, als eine Welt von Körpern erkannt zu werden?") Offenbar bedeutet er, dass die Empfindungen von Natur mit Rücksicht auf ein Gesetz des Erkennens ein-
________
*) Ich stelle diese Frage nicht auf, um eine metaphysische Erklärung der Sache (etwa durch einen intelligenten Urheber der Empfindungen oder sonst was Anderes) einzuleiten. Alle Velleitäten einer metaphysischen Erklärung müssen- wir uns hier vielmehr fern halten und ausschliesslich auf die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des behandelten Factums achten.



Prüfung verschiedener Theorien.
145

gerichtet sind, welches nicht wiederum aus Empfindungen abgeleitet werden kann, sondern die  oberste Norm für deren . empirische Gesetzmässigkeit selbst bildet. 'Ein solches Gesetz des Denkens ist daher zur Erkenntniss der Körper ebenso unentbehrlich, wie die ihm entsprechende Natureinrichtung der Empfindungen selbst. Denn eben die Einrichtung, welche macht, dass die Empfindungen geeignet sind, als eine Welt realer Objecte erkannt zu werden„. macht auch umgekehrt, dass man in denselben keine Ordnung und keinen Zusammenhang würde erkennen können wenn man sie bloss als innere Zustände seiner selbst, nicht als reale Objecte ausser sich auffassen würde. Bloss als innere Zustände unserer selbst betrachtet , bieten die objectiven Empfindungen factisch ein vollkommenes Chaos, welches sich nur dann zu einer gesetzmässigen- Erfahrung ordnet, wenn man die Empfindungen als  Gegenstände fasst, . sie gleichsam in die Sprache der Körperwelt, für die sie von Natur eingerichtet sind, übersetzt. Wir wollen auch' dieses an einem  concreten Beispiel veranschaulichen.

Jetzt sitze ich auf einem Stuhl und habe die Ellenbogen auf den vor mir stehenden Tisch gestützt. Damit sind Druckund Tastempfindungen von den Körpern, welche meinen Leib unterstützen,' verknüpft. Zugleich ..sehe ich durch das Fenster ' den klaren blauen Himmel, d. h. habe gewisse Gesichtsempfindungen. Auf  einmal höre ich das Geräusch einer aufgehenden Thüre und laute Tritte im Nebenzimmer, und gleich darauf sehe ich auf dem vorher klaren Himmel dunkle Wolken verschiedener Figur und Färbung vorüberziehen. 'Auf diese Weise erhalte ich eine Menge verschiedener Empfindungen entweder zugleich oder in rascher Succession, welche unter einander weder in einem causalen noch irgend einem anderen Zusammenhang stehen. Der Eindruck des Stuhles ist von dem des Tisches unabhängig und beide stehen ausser aller Verbindung mit den Empfindungen des blauen Himmels, welche ihrerseits mich auf keine Weise auf das Erscheinen der Eindrücke vor-


146
Erstes Buch. Fünftes Kapitel.

bereiten können, die den vorüberziehenden Wolken entsprechen, während zugleich und unabhängig von allem Diesen die Schallempfindungen der aufgehenden Thüre und der Tritte sich in mir produciren.

Man setze nun voraus, alle diese wahrgenommenen Dinge und Ereignisse, der Tisch und der Stuhl, die mich tragen, der blaue Himmel und die an demselben vorüberziehenden Wolken, das Geräusch der Thüre und der Schall der Tritte, erschienen mir als das, was sie in Wahrheit sind, d. h.  bloss als innere Zustände und Modificationen meiner selbst, als meine eigenen Empfindungen, - dann würde. ich offenbar niemals dazu ge-. langen können, irgend eine Ordnung und irgend einen Zusammenhang in denselben zuerkennen , weil in ihnen, von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, keine Ordnung und kein. Zusammenhang factisch enthalten ist. Das würde aber mit jedem neu ins Leben tretenden Subjett der Fall sein, wenn dasselbe nicht von Natur disponirt und genöthigt wäre, seine Empfindungen gleich von Anfang an als selbstständige Gegenstände aufzufassen. Ein solches unerfahrenes, aller . Reflexion und aller Vorbereitung ermangelndes Wesen würde noch weniger im Stande sein, zu irgend einer consistenten. und zusammenhängenden Erfahrung zu gelangen. Die Asso'o
ciatio n der Vorstellungen, durch welche Mill unsere Erfahrung erklären will, würde vielmehr umgekehrt, wenn allein, ohne  j enes Gesetz des Denkens wirkend, das gegebene Chaos der Eindrücke völlig unentwirrbar machen. Denn' dieselbe ist, wie wir im dritten Kapitel gesehen - haben, selbst für den er-.  fahrenen Mann eine Quelle des Irrthums. Wir sehen aber, dass menschliche Kinder und junge Thiere stets unfehlbar dahin gelangen, ihre Sinneseindrücke zu einer Welt äusserer Gegenstände herauszudeuten, in deren Wahrnehmung sich alle begegnen und unter einander übereinstimmen. Es ist also vollkommen klar, dass unsere Erkenntniss der Körper zwei Bedingungen voraussetzt, erstens eine Natureinrichtung der Empfindungen selbst, welche dieselben geeignet macht als



Prüfung verschiedener Theorien.
147
eine Welt äusserer Objecte zu erscheinen, und zweitens, die ursprüngliche Disposition  des Subjetts, seine Sinnesempfindungen als Dinge ausser sich aufzufassen.

Von dieser inneren Disposition, von diesem Gesetze des Denkens können wir jetzt schon etwas durchblicken. Weiter oben (S. 120 ff.) ist bewiesen worden, dass die Körper ihrem Begriffe nach Substanzen, unbedingte Wesen sind. Das Denk= gesetz, welches der Erkenntniss der Körper zu Grunde liegt, kann also nichts Anderes sein, als eine innere Disposition des Subjetts, jeden Gegenstand als Substanz (als unbedingt) zu fassen. Diesem Gesetze gemäss werden daher auch die Sinnesempfindungen, die das Subjett von sich, selber unterscheidet, als etwas sich Fremdes erkennt, als Substanzen erkannt, und diese Erkenntniss, obgleich logisch unwahr, ist empirisch wahr und berechtigt, weil die Einrichtung der Empfindungen selbst ihr durchgängig angepasst ist. Ausführlich wird die Entstehung der Körpererkenntniss in einem besonderen Kapitel des z. Bandes behandelt, wo manches hier noch im Unklaren Gelassene nach Möglichkeit beleuchtet wird.
 
 
4. Schlussbemerkungen.

Nun wollen wir das Resultat der vorhergehenden Untersuchungen kurz zusammenfassen. Es ist bewiesen worden, dass die Erkenntniss der Körper weder auf dem Wege der Induction, noch durch einen Schluss auf die Ursachen . unserer Empfindungen auf Grund eines apriorischen Causälitätsbegriffs, noch auch, wie Mill gemeint hat, durch blosse Association der Vorstellungen 'entstehen konnte. Es ist ferner constatirt worden, dass wir in den Körpern unserer Erfahrung nichts Anderes, als unsere eignen Sinnesempfindungen erkennen und dass die Körper ihrem Begriffe nach Substanzen, d. h. unbedingt sind. Durch dieses Alles ist ausser Zweifel gesetzt, dass unserer Erkenntniss der Körper ein ursprüngliches, nicht aus Erfahrung abgeleitetes Gesetz des Denkens zu  Grunde liegt, und dass dieses Gesetz nichts Anderes sein kann, als



148
Erstes Buch. Fünftes Kapitel.

ein Begriff des Unbedingten, eine innere Disposition des Subjects, einen jeden Gegenstand an sich als unbedingt oder als eine Substanz zu denken. Dieses Ergebniss ist- nun eine Einleitung oder ein Unterbau- für die im z. Buche erörterten Einsichten. Denn obgleich das dort behandelte Denkgesetz
- die Bezeugung seiner objectiven Gültigkeit von ganz anderen Thatsachen empfängt, so ist doch die Thatsache, dass dieses Gesetz unserer Erkenntniss der Körper zu Grunde liegt, ein mächtiger subjectiver Beweis desselben, d. h. ein mächtiger Beweis für dessen Vorhandensein selbst.

Zugleich haben aber die vorhergehenden Untersuchungen ein Resultat von pädagogischem Werth geliefert, ein Resultat,. welches zur nöthigen Disciplin des Denkens nicht wenig beitragen kann. Man ist nämlich gegenwärtig nur zu sehr geneigt, ausschliesslich dem zu vertrauen, was sich sehen und greifen lässt, und möchte gerne auf jede abstracte Vorstellung und Untersuchung geringschätzig herabsehen. Eine solche Disposition des Geistes würde nun, wenn festgehalten, offen bar das Aufkommen einer höheren Weltanschauung vollkom- men unmöglich machen, trotz aller Berechtigung, die derselben innewohnt. Nachdem aber der Leser in unserem 4. Kapitel gesehen hat, dass der sinnliche Schein, der uns in demjenigen, was wir mit Händen, greifen und mit Augen sehen, eine Welt äusserer Dinge vorspiegelt, durch die Thatsachen selbst wider-  legt ist, wird er für die aus den Untersuchungen des 2. Kapitels hervorgehende wichtige Einsicht empfänglich, dass die Gewissheit und Zuverlässigkeit unserer Vorstellungen in deren eigenem Wesen selbst ihre Basis hat, und davon, unabhängig ist, ob die Vorstellungen abstract oder concret sind und obdie vorgestellten Gegenstände nahe oder fern, vorne oder hinten liegen. Diese Einsicht muss sich der Leser nothwendig zu eigen machen, wenn er den Untersuchungen des nächstfolgenden zweiten Buches mit wahrem Verständniss und mit Nutzen für sich folgen will. Denn- die Untersuchungen des z. Buches betreffen *lediglich den Begriff des Unbedingten,



Prüfung verschiedener Theorien.
149
den wir bis jetzt als das der Körpererkenntniss zu Grunde liegende Gesetz des Denkens constatirt haben. Es giebt nun in dem ganzen weiten Umfang der Erfahrung kein Object, welches diesem Begriffe wahrhaft entspräche, - und doch ist derselbe nicht allein an sich gewiss, sondern auch die Grundlage "der Gewissheit in jeder Erkenntniss, welche über, die unmittelbare Wahrnehmung unserer inneren Zustände und Modificationen als solchen hinausgeht. Bringt aber Jemand ein entschiedenes, unüberwindliches Vorurtheil gegen jede nichtsinnliche Erkenntniss mit, so vermag ich durch keine Anstrengungen zu bewirken,. dass Alles, was ich zu sagen habe, für ihn nicht blosser Schall oder  stummer Buchstabe bleibt. Denn die Macht des Gedankens ist nicht wie die physische Macht, die sich auch dem Widerstrebenden aufzwingt, sie setzt vielmehr eine Empfänglichkeit bei dem Leser voraus, um sich wirksam zu erweisen.