DENKEN
UND
WIRKLICHKEIT.
VERSUCH EINER ERNEUERUNG DER KRITISCHEN PHILOSOPHIE,
AFRIKAN SPI R.
ERSTER BAND.
DAS UNBEDINGTE.
ZWEITE, UMGEARBEITETE AUFLAGE .
LEIPZIG.
J.G.FINDEL
1877. 


DRITTES KAPITEL.
VON DEM KRITERIUM DER WAHRHEIT ODER DEM PRINCIPE DER MITTELBAREN GEWISSHEIT.
1. Wie ist Unwahrheit möglich ?
Nachdem Unwahrheit als Thatsache constatirt worden ist, nachdem man eingesehen hat, dass in der Vorstellung Manches vorkommen kann, dem in der Wirklichkeit nichts entspricht, wird es klar, warum dem Bewusstsein nur das Bewusstsein, die Vorstellung selbst  unmittelbar gewiss sein kann. Allein eben diese Eigenthümlichkeit der Vorstellung, sich auf reale ausser ihr existirende Objecte wesentlich zu beziehen, implicirt die Gewissheit, dass der Vorstellung überhaupt nothwendig solche Objecte entsprechen müssen. Demgemäss sehen wir denn auch, dass es Fälle gibt, wo wir an der Wahrheit unserer Erkenntniss, d. h. an deren Uebereinstimmung mit ihrem Object schlechterdings nicht zweifeln können. In erster Linie gehören dazu die Wahrnehmungen unserer eigenen inneren Zustände_ Wenn ich z. B. einen Schmerz fühle, so ist es mir unmöglich, nicht zu glauben, dass ein wirkliches Schmerzgefühl in mir existirt, da ich in diesem Falle sowohl der Erkennende als auch der Gegenstand der Erkenntniss selbst bin. Aber die gleiche Bewandtniss hat es auch mit der Wahrnehmung der Gegenstände, welche zwar nicht zu meinem eignen, subjectiven Wesen gehören, in welchen ich nichts von mir selbst erkennen kann, welche aber doch innerhalb meiner

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selbst angetroffen werden und durch keine Zwischenglieder von meinen Vorstellungen getrennt sind, wie die objectiven Empfindungen der Farben, Töne, Gerüche, des Geschmacks u. ähnl. Die in dem Wesen der Vorstellung selbst begründete Beziehung auf entsprechende ausser ihr liegende Objecte verbürgt mir also das objective Dasein alles Dessen, was ich in mir selber wahrnehme. Dagegen kann aber allerdings dasjenige, was ausser mir liegt, weder von mir wahrgenommen werden, noch für mich unmittelbar gewiss sein. Ein »wahrgenommener Gegenstand« und ein »in mir selber liegender Gegenstand« sind Wechselbegriffe.
Nur Philosophen -- und namentlich in Deutschland - konnte es passiven, sich in die Idee so sehr zu vertiefen, dass sie darüber die wesentliche Beziehung der Idee, d. h. der Vorstellung zu der objectiven Wirklichkeit, worin gerade das eigenthümliche Wesen der Vorstellung besteht, - übersahen. Da hat es denn grosse Noth gegeben, einen Uebergang von dem Idealen zum Realen aufzufinden,*) während der gewöhnliche Mensch sich um diesen Uebergang nie zu kümmern braucht, da er ihm stets gesichert ist. Freilich bildet die unmittelbare Wahrnehmung der Gegenstände nur einen Theil unserer Erkenntniss der Wirklichkeit ; das Meiste davon ist erschlossen, mittelbar erreicht. Allein das Problem, welches darin liegt, ist nicht dieses: Wie wir von der Erkenntniss zu Gegenständen überhaupt, sondern nur: Wie wir von einem Gegenstande zu einem anderen in der Erkenntniss über
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*) In dieser Perplexität hat man Zuflucht genommen zu der Behauptung der „Identität von Denken und Sein", welche in dieser Ausdrucksweise sehr vornehm klingt, aber in die gewöhnliche Sprache übersetzt, sich als Ungereimtheit erweist. Denn „Identität von Denken und Sein" bedeutet in der gewöhnlichen Sprache „Identität der Vorstellung mit ihrem Gegenstande" , d. h. dass die Vorstellung dasselbe ist wie ihr Gegenstand, was gar keinen Sinn hat. Denn das Wesen einer Vorstellung als solcher besteht eben darin, dass sie selbst, an sich nicht das ist, was sie vorstellt, sonst wäre sie eben keine Vorstellung. Und was soll bei dieser Voraussetzung die Thatsache der Unwahrheit bedeuten?



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gehen können? - und dieses bietet keine besondere Schwierigkeit.
Nach den vorhergehenden Erörterungen ist es also klar, dass in dem blossen Inhalte der Vorstellungen überhaupt nie Unwahrheit vorkommen kann, denn es gehört eben zu dem Wesen der Vorstellung, keinen eigenen Inhalt zu haben. Wenn wir daher etwas sehen, hören oder betasten, so ist es schlechterdings nicht möglich, zu zweifeln, dass etwas Gesehenes, Gehörtes oder Betastetes, eine Farbe, ein Ton oder eine Härte ausserhalb der Vorstellung (nämlich als Empfindung) da ist. Unwahrheit kann also niemals in dem Inhalte selbst, sondern nur in den Verbindungen und den Beziehungen des vorgestellten Inhalts vorkommen und in den Affirmationen, welche sich an denselben knüpfen. Wir müssen nun sehen, aus welchem Grunde dieses geschehen kann.
Der Grund davon liegt in dem Vermögen der Vorstellung , den einmal gehabten Inhalt in sich zu reprodueiren. Der reproducirte Inhalt kann leicht in eine Zusammensetzung gebracht werden, welcher in der Wirklichkeit nichts entspricht. An und für sich macht dieses nun zwar keine Unwahrheit aus. Da dieses aber in dem Subjecte statt findet, welches seiner Natur nach jeden in seinem Bewusstsein vorkommenden Inhalt als Gegenstand ausser sich erkennt, - so führt es nothwendig zur Unwahrheit. Denn das Subject hält eben die in ihm selbst zu Stande gekommene, bloss subjective Zusammensetzung des reproducirten Inhalts für eine objective Zusammensetzung der Gegenstände draussen. Die hauptsächlichste Quelle des Irrthums ist demnach die Association der reproducirten Vorstellungen.
Das Subject kann einmal zu dem Bewusstsein' gelangen, dass nicht Alles, was sich in ihm vorfindet, in entsprechender Weise auch in der Wirklichkeit existire; besonders wenn es den Einfluss merkt, welchen es selbst, sein eigener Wille auf die Gestaltungen des reproducirten Inhalts in seiner Einbildung ausübt. Aber das Verwachsen der Vorstellungen infolge 


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ihres beständigen Zusammenvorkommens entwickelt eine Gewalt im Bewusstsein, welcher die Einsicht des Subjects nur zu oft zum Opfer fällt. Wenn eine gegenwärtig vorhandene Vorstellung kraft der Associätion eine andere unwiderstehlich nach sich zieht und dem Bewusstsein aufdrängt, so kann das Subject - dessen ganze Natur ja darin besteht, alles in ihm Vorhandene auf Gegenstände zu beziehen - nicht umhin, eben in diesem peremptorischen Auftreten das Merkmal eines objectiven Ursprungs und in dem unzertrennlichen Zusammenhang seiner Vorstellungen einen Zusammenhang der entsprechenden Gegenstände oder Facta selbst zu sehen Ja, diese Gewalt ist so subtil, dass das Subject in der Regel gar nicht dazu kommt, dieselbe auch nur zu beurtheilen, sondern verfährt nach ihr, wie nach einem inneren Gesetze seiner erkennenden Funktion. Ausserdem ist die Association der Vorstellungen, wie wir sehen werden, auch ein Princip des richtigen Schliessens, ohne welches ein Fortschreiten der Erkenntniss gar nicht möglich gewesen wäre. Daher berückt sie auch nicht allein blosse Anfänger und Kinder, sondern selbst die schärfsten, erfahrensten und umsichtigsten Denker, ja sogar diejenigen, welche selbst Alles durch die Association erklären wollen. Besonders in der Philosophie entwickelt sie ihre irreführende Macht am grossartigsten. Hier sehen wir selbst Männer, welche die Unrichtigkeit einer Ansicht ganz klar einsehen und entschieden behaupten, derselben dennoch immer wieder verfallen, weil sie durch eine unüberwindliche Gewohnheit des Denkens dazu getrieben werden. Als eine der durchgreifendsten unter diesen erwähne ich hier die Gewohnheit des Denkens, jedes Verhältniss in der Wirklichkeit als ein causales Verhältniss (von Ursache und Wirkung) anzusehen oder für ein solches zu halten. Die meisten Verirrungen der Metaphysik können, wie ich weiter nachzuweisen hoffe, auf diese Gewohnheit als ihre Quelle zurückgeführt werden.
Es gibt vom philosophischen Standpunkte aus betrachtet, noch eine andere Art und Quelle des Irrthums, als diejenige



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aus Association der Vorstellungen, -- nämlich eine, welche bewirkt, dass wir den Inhalt unserer Empfindungen (wie Farben, Töne u. s. w.) als etwas ausser uns Existirendes, als Eigenschaften äusserer Dinge erkennen. Ehe ich aber zeigen kann; welches das Princip dieser Unwahrheit im Erkennen ist, muss ich erst nachweisen, dass es nicht die Association der Vorstellungen ist. Und dies kann erst in einem der folgenden Kapitel geschehen, wo ich die empiristische Erklärung der Erkenntniss einer äusseren Welt, durch Association, welche von Stuart Mill aufgestellt worden ist, einer Prüfung unterwerfen werde.
Eine sehr ergiebige Quelle von Irrthümern liegt endlich noch in der Sprache, in der Nothwendigkeit, mit Hülfe von Worten zu denken. Wenn wir Worte gebrauchen, ohne die ganze und genaue Bedeutung der damit bezeichneten Begriffe in unserem Bewusstsein uns gegenwärtig zu halten, so können wir natürlich durch Worte leicht zu irrthümlichen Urtheilen und zu Fehlschlüssen verleitet werden, welche, wie die Geschichte der menschlichen Meinungen lehrt, sich Jahrtausende hindurch erhalten können und durch ihre Entfernung von ihrer Quelle in der Zeit an Autorität nur noch zunehmen. Der Vorzug des wissenschaftlichen Denkens vor dem gewöhnlichen besteht vor Allem darin, dass bei dem ersteren eine genaue Correspondenz zwischen den Gedanken und den sie ausdrückenden Worten eingehalten wird oder wenigstens werden soll, was im gewöhnlichen Denken nicht immer durchzuführen ist.
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*) Hierbei ist zu bemerken , dass die Erkenntniss unserer Empfindungen als Dinge ausser uns (im Raume) auf dem Standpunkte der Erfahrung keinen Irrthum ausmacht, da die Gesetze der Erfahrung mit dieser Auffassung der Empfindungen factisch congruiren, wie es weiter unten gezeigt werden wird.



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2. Wie ist das Bewusstsein der Unwahrheit möglich?

Auf welche Weise im Subjecte unwahre Affirmationen' ein unwahrer Glaube entstehen kann, habe ich im Vorhergehenden zu zeigen versucht. Nun fragt es sich aber: Wie kann das Subjeet zu dem Bewusstsein kommen, dass irgend eine seiner Affirmationen oder Vorstellungen unwahr ist?
Die Empiristen, welche die Erkenntniss aus ursprünglich nicht erkennden Elementen abzuleiten haben, müssen zeigen, wie überhaupt die Affirmation eines Gegenstandes, der Glaube an das Dasein desselben in einem anderen Gegenstande entstehen kann. Wir dagegen, die wir diesen Glauben als ein ursprüngliches, unableitbares Factum, als eine Grundeigenschaft der Vorstellung erkannt haben, müssen umgekehrt zu zeigen suchen, wie es kommen kann, dass die Affirmation des Gegenstandes in der Vorstellung oder im Bewusstsein manchmal aufgehoben wird; wie es geschieht, dass wir an das reale Dasein eines Gegenstandes, den wir uns vorstellen, nicht glauben. *)
Das Wesen der Vorstellung und des erkennenden Subjects besteht, wie wir wissen, in Affirmationen über Gegenstände. Eine Affirmation kann aber unmittelbar nie eine Negation weder ihrer selbst, noch einer anderen Affirmation sein oder auch eine solche enthalten. Wie gelangt also das Subject zu dem Bewusstsein einer Negation? Bei der Vergleichung verschiedener Gegenstände entsteht zwar das Bewusstsein, dass einer nicht ist wie der andere. Aber von diesem Bewusstsein
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*) Wie wenig die Behauptung der Empiristen, dass der Glaube in uns etwas Secundäres, Gewordenes sei, durch die Thatsachen bestätigt wird, ist allgemein bekannt. Die Erfahrung zeigt durchgängig, dass der Glaube das Ursprüngliche, der Unglaube und der Zweifel das Spätere und Abgeleitete ist. Ein Kind glaubt an die objective Realität allesDessen, was in seinen Vorstellungen vorkommt, bis es durch Erfahrung von der Unwahrheit einiger seiner Vorstellungen überzeugt wird. Wie dieses letztere möglich ist, wollen wir eben jetzt zu zeigen suchen.



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bis zur Erkenntniss, dass die Vorstellung selbst von ihrem Gegenstande abweicht, mit demselben nicht übereinstimmt, ist immer noch kein directer Uebergang möglich. Denn da die Natur der Vorstellung eben darin besteht, einen Gegenstand vorzustellen, so kann man aus ihr selbst natürlich nie unmittelbar ersehen; dass sie ihren Gegenstand nicht (wie er ist) vorstellt. Das Einzige, was sich unmittelbar aus den Thatsachen ergeben kann, ist dieses: Es können zwei verschiedene Vorstellungen von demselben Gegenstande entstehen. Aber dieser Umstand liefert an und für sich noch keinen Beweis dafür, dass die eine der beiden Vorstellungen unwahr sein müsse. Denn der Gegenstand könnte ja möglicherweise von sich selber unterschieden sein; und so lange wir von dem Gegenstande nichts wissen können, als nur vermittelst der einzelnen Vorstellungen, die wir von ihm haben, muss für uns der Unterschied dieser Vorstellungen eben einen Unterschied in dem Gegenstande selbst bedeuten. - Ist die eine dieser Vorstellungen eine unmittelbare Wahrnehmung des Gegenstandes, die andere dagegen bloss reproducirt, so geben  wir zwar von vornherein zu, dass der ersteren unmittelbar eine grössere Kraft der; Affirmation (eine höhere Gewissheit) innewohne, als der letzteren. Allein so lange die Vorstellungen nicht in einen Gegensatz zu einander gerathen, kann das Subject von diesem Unterschiede der Gewissheit keine Ahnung bekommen. Denn es hat eben keine Gelegenheit, dieselben gegen einander abzuwägen. Und an sich können einzelne Vorstellungen und ihre Affirmationen nie im Gegensatze zu einander stehen.
Wenn es aber ein allgemeines Princip von Affirmationen über Gegenstände gibt, welches besagt: »Jeder reale Gegenstand ist sich selbst gleich oder von sich selbst nicht verschieden«, dann müssen nothwendig zwei abweichende Vorstellungen, welche denselben Gegenstand betreffen, in einen Gegensatz zu einander oder in Conflict gerathen. Die Affirmation der einen negirt dann die der anderen, die Wahrheit



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der einen schliesst die Wahrheit der anderen aus, weil sie eben nicht beide wahr sein können; und diejenige Vorstellung, welche eine geringere Kraft der Affirmation besitzt, wird als unwahr erkannt. Auf Grund eben dieses Princips wird, wie wir im z. Bande sehen werden, auch das Vergangene als solches erkannt, also das Bewusstsein einer Succession überhaupt erst möglich gemacht. Das allgemeine Princip der Affirmationen ist nothwendig zugleich auch ein allgemeines Princip' von Negationen; durch dasselbe allein können wir zum Bewusstsein gelangen, dass Etwas (d. h. etwas Vorgestelltes) nicht ist.
Kann nun dieses allgemeine Princip selbst aus der Erfahrung abgeleitet werden, d. h. sich aus der blossen Vergleichung der einzelnen vorhandenen Vorstellungen ergeben? Diese Voraussetzung würde sich offenbar in einem Cirkel bewegen. Denn das Zeugniss der einzelnen Vorstellungen müsste dann eben gegen sie selbst gerichtet sein, was nicht möglich ist. Ohne die Unterscheidung des Wahren vom Unwahren und ohne die Erkenntniss der Successionen könnte eine Erfahrung überhaupt gar nicht entstehen, diese sind aber selbst nur auf Grund jenes Princips möglich. Hier begnüge ich mich mit diesen vorläufigen Andeutungen; dem eigentlichen Beweise der Apriorität und der objectiven Gültigkeit unseres Princips wird das ganze zweite Buch des vorliegenden Bandes gewidmet.
Wenn nun von demselben Gegenstande zwei verschiedene Vostellungen vorhanden sind und wir aus irgend einem Grunde schon wissen, dass nur eine derselben wahr sein kann, so fragt es sich noch: Wie können wir die wahre Vorstellung von der unwahren unterscheiden?
Die unmittelbare Wahrnehmung eines Gegenstandes trägt stets auch die unmittelbare Gewissheit ihrer Richtigkeit oder Gültigkeit in sich und jede ihr widersprechende Vorstellung ist nothwendig unwahr. Dieses gibt uns einen unfehlbaren Probirstein zur Unterscheidung des Wahren vom Unwahren. Allein in den meisten Fällen sind wir gar nicht in der Lage, diesen P robirstein dlrect anzuwenden, uns von der Richtigkeit



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oder Unrichtigkeit einer Behauptung oder einer Vorstellung durch unmittelbare Wahrnehmung zu überzeugen.  Es sind gewöhnlich reproducirte Vorstellungen (wir werden dieselben Gedanken nennen), welche nur durch Schlussfolgerung auf einen Gegenstand bezogen werden, zwischen denen wir zu entscheiden haben. Die Frage ist also: Was ist Glas Schliessen und welche Garantien und Kriterien seiner Richtigkeit kann uns dasselbe bieten?
Diese Fragen will ich in den nächsten Paragraphen, wenn auch nur provisorisch, zu beantworten suchen.

3. Vorläufige Betrachtungen über das Schliessen im Allgemeinen und insbesondere über den Syllogismus.

Das Schliessen ist ein mittelbares Erkennen. (las Erkennen eines Gegenstandes vermittelst eines anderen. Das Schliessen besteht darin, dass wir von einem Gegenstande das affirmiren oder behaupten, was wir. von einem anderen erkannt haben. Dies implicirt nun offenbar die Voraussetzung, dass diese Gegenstände mit einander identisch oder übereinstimmend sind. Eine Schlussfolgerung ergibt also genau so viel Gewissheit, als diese Voraussetzung in dem betreffenden Falle bietet.
Hier zweigen sich nun die zwei grossen Methoden oder Weisen des Schliessens ab. Wenn uns nämlich die Identität mehrerer Fälle a priori gewiss ist, dann ist das Schliessen vom einen auf den anderen - ein Syllogismus. Wo aber die Identität oder vielmehr die Aehnlichkeit der Fälle nur auf empirischem Wege constatirt wird, ist das Schliessen vom einen auf den anderen - eine Induction. Wäre uns nie und nirgends die Identität mehrerer Fälle a priori gewiss, so würde es keinen Syllogismus geben, sondern nur ein syllogistisches Verfahren, welches bloss den absteigenden Theil der Induction (als Decluction) bildet. -- Aber der Identität mehrerer Fälle a priori gewiss sein heisst eben, eine all-



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gemeine Einsicht a priori haben. Die Empiristen, welche die Möglichkeit solcher Einsichten leugnen, verfahren daher consequent, wenn sie alle Deduction für ein blosses Moment der Induction und den Syllogismus für eine Tautologie halten, wie es z. B. Stuart Mill in seinem Werke über die Logik thut. Wir müssen aber beides, sowohl den Syllogismus als die Induction, etwas näher ins Auge fassen, obgleich eine detaillirtere Behandlung dieses Themas erst im z. Bande vorgenommen werden kann.
Der echte Syllogismus ist die Substitution des Gleichen für das Gleiche oder des Identischen für das Identische. Die Grundlage jedes Syllogismus besteht bekanntlich aus zwei Urtheilen oder Sätzen, den sogenannten Prämissen, welche ein Glied (den terminus medius) gemeinsam haben. In dem Schlusssatze fällt dieses gemeinsame Glied weg und die beiden übrigen werden durch Substitution des Gleichen für das Gleiche mit einander in Verbindung gebracht. Die Grundaxiome aller Syllogismen sind daher die folgenden zwei Sätze: 1) Von zwei identischen Dingen kann dasselbe prädicirt werden, und 2) von zwei nicht identischen Dingen kann nicht dasselbe prädicirt werden. Jenes ist das Axiom aller positiven, dieses das Axiom aller negativen Schlussfolgerungen in Syllogismen. Diese Axiome sind nun, wie alle identischen Sätze, unmittelbar gewiss, daher ergibt auch jeder echte Syllogismus vollkommene Gewissheit. Es fragt sich nur, ob es dergleichen überhaupt gibt?
Es gibt unstreitig solche, nämlich da, wo wir die Möglichkeit einer Menge identischer Fälle nicht aus dem Gegebenen empirisch ableiten , sondern einfach selbst voraussetzen, wie es z. B. in der Arithmetik und der Geometrie geschieht. Die Arithmetik fragt nicht darnach, ob es in der Wirklichkeit vollkommen gleiche Einheiten gebe, sie setzt solche selbst voraus. Von allen Unterschieden der Dinge abstrahirt sie; die Einheiten, mit welchen sie operirt, haben gar keine andere Eigenschaft als die, Einheiten zu sein und sich in eine



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Summe zusammensetzen zu lassen. In der Arithmetik ist daher eine Schlussfolgerung durch echte Syllogismen, durch Substitution des Gleichen für das Gleiche möglich. Ebensowenig nimmt die Geometrie zur Basis ihrer Demonstrationen eine empirische Constatirung von Linien und Figuren, welche sich in der Wirklichkeit vorfinden würden. Die geraden Linien, Dreiecke und Kreise, mit welchen sie operirt, sind nur diejenigen, welche ihren Definitionen der geraden Linie, des Dreiecks und des Kreises entsprechen. Die Identität derselben ist mithin von vornherein gesichert und die Geometrie schreitet daher in ihren Schlussfolgerungen ebenfalls durch echte Syllogismen, durch Substitution des Gleichen für das Gleiche, fort.
Warum können wir nun aber nicht Alles und Jedes, z. B. eine Farbe, einen Ton oder Aehnliches auf dieselbe Weise, wie Linien und Figuren, abstrahiren und dann gleichfalls durch Syllogismen etwas Weiteres daraus a priori erschliessen? Darauf hat Kant geantwortet, dass zu  einem solchen Verfahren synthetische Sätze a priori nöthig sind, welche die ersten Prämissen abgeben.
Ein synthetischer Satz ist derjenige, welcher ein Verhältniss zweier Dinge oder zweier Bestimmungen eines Dinges ausdrückt. Wenn ich sage: »Ein Ding A besitzt unter anderen Eigenschaften oder Merkmalen auch das Merkmal B«, so ist das ein synthetischer Satz, weil hier der Zusammenhang der Eigenschaft B mit den anderen Eigenschaften des A behauptet wird. Wenn dagegen das Ding A gar keine anderen Eigenschaften, ausser B besässe, so würde der Satz »A besitzt die Eigenschaft B« oder wie man es gewöhnlich einfacher ausdrückt, »A ist B « ein identisches (nach Kant's Ausdrucksweise analytisches) *) Urtheil sein. Denn A und B
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*) Der Unterschied zwischen synthetischen, analytischen und identischen Urtheilen wird noch weiter unten, besonders im z. Band zur Sprache kommen.



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wären dann eben von einander in keiner Weise unterschieden, sondern das Prädikat hätte nur genau das wiederholt, was schon im Subjecte gesagt wäre. Ein synthetischer Satz a priori heisst also: Eine Einsicht a priori in den Zusammenhang zweier Bestimmungen.
Es ist nun leicht zu ersehen, dass zu Schlussfolgerungen in der That nur synthetische Sätze verwendet oder gebraucht werden können. Denn wenn es eine Menge identischer Fälle gäbe, welche gar keinen Zusammenhang des Verschiedenen in sich enthielten, sondern nur eine einfache untheilbare Qualität oder Bestimmtheit A darböten, so würde offenbar die Constatirung der Identität zweier solcher Fälle zu keiner weiteren Affirmation, zu keinem weiteren Urtheil, als welches in der Constatirung selbst gelegen wäre, führen können.*)
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*) Man wird vielleicht bemerken wollen, dass z. B. die Einheiten, welche die Arithmetik gebraucht, gar keine Verschiedenheit von Bestimmungen in sich enthalten, vielmehr vollkommen einfach sind und dennoch Stoff zu Syllogismen, zu Schlussfolgerungen darbieten. Allein die Arithmetik, folgert auch nichts über die Natur der Einheiten und schliesst nicht von einer individuellen Einheit auf andere; sondern ihre Folgerungen beziehen sich auf die verschiedenen Weisen, eine Summe von Einheiten zu bilden. Da die Einheiten selbst von vornherein als vollkommen gleich angenommen werden, so ist also auch a priori gewiss, dass alle Bildungsweisen einer Summe quantitativ vollkommen gleich sind, und man kann daher von einer auf die andere durch Syllogismen schliessen. - Es muss schon hier bemerkt werden, dass, obgleich der Process der syllogistischen Schlussfolgerung immer in derselben Function; nämlich in der Substitution des Gleichen, (oder Identischen) für das Gleiche (oder Identische) besteht, dadurch dennoch in verschiedenen Fällen zweierlei verschiedene Resultate erzielt werden können. Nämlich entweder wird dadurch die Gleichheit (oder Identität) zweier Dinge erkannt, welche unmittelbar nicht eingesehen werden konnte; oder es wird dadurch der Zusammenhang zweier Dinge erkannt, welcher unmittelbar nicht eingesehen werden konnte. Denn es giebt zwei Hauptarten synthetischer Urtheile, diejenigen, in welchen die Gleichheit oder Identität zweier Dinge oder Grössen behauptet wird (A - B), und diejenigen, in welchen der Zusammenhang zweier Dinge oder Bestimmungen behauptet wird, und deren


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Wenn dagegen die Bestimmtheit A mit einer anderen B unzertrennlich zusammenhängt, dann kann ich, wo nur A vorkommt, sogleich wissen und behaupten, dass auch B dabei sein muss, was eine Schlussfolgerung ist. Ist mir nun der Zusammenhang von A und B a priori gewiss, dann ist diese Schlussfolgerung - ein Syllogismus; im entgegengesetzten Falle aber - eine Induction. Denn auf dem Wege der Erfahrung kann ich eben den Zusammenhang zweier Dinge, A und B, gar nicht anders erkennen, als durch die bloss empirische Constatirung mehrerer ähnlicher Fälle, wo A und B zusammen vorgekommen sind.
Ein materiales Kriterium der Richtigkeit des durch Syllogismen Erschlossenen ist, wie man aus dem Vorhergehenden ersieht, nicht nöthig. Denn einen Syllogismus gibt es nur da, wo die Identität der Data zwischen denen geschlossen wird, a priori gewiss ist, also keiner weiteren Bürgschaft bedarf.*) Wenn die Prämissen nicht selbst unmittelbar gewiss oder ebenfalls durch Syllogismen aus dem unmittelbar Gewissen abgeleitet sind, dann ist die Folgerung aus denselben eben kein eigentlicher Syllogismus, sondern eine Deduction aus vorher gemachten Inductionen. Dann müssen diese, die Inductionen auf ihre materiale Wahrheit geprüft werden; die Deduction dagegen bedarf einer solchen Prüfung nicht, weil sie keine Behauptung vorbringt, welche nicht in den Prämissen (also in den vorher gemachten Inductionen) schon enthalten ist. Nur formale Kriteria der Richtigkeit der Schlussfolgerung durch Syllogismen kann es geben und diese werden in den Lehrbüchern der Logik aufgeführt. Diese formalen Regeln des syllogistischen Schliessens dienen einzig und allein dazu, dass bei den Schlussfolgerungen Worte und Gedanken sich genau entsprechen ; das Uebrige darin versteht sich von
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Formel „A ist (d. h. genau ausgedrückt: ist verbunden mit) B" ist. Mehr davon in einem Kapitel des z. Bandes.
*) Indessen kann die Gewissheit auch der Einsichten u priori geprüft werden, wie es in dem nächstfolgenden z. Buch gezeigt wird.


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selbst. Sobald die Prämissen genau enoncirt sind, weiss Jedermann unmittelbar, welche Folgerung aus denselben sich ergibt und welche nicht. Das allgemeine negative Kriterium der Wahrheit, der Satz des Widerspruchs, wird von uns vorläufig als selbstverständlich vorausgesetzt. Denn das, was sich selbst unmittelbar widerspricht, hat überhaupt gar keinen Sinn, drückt keinen wirklichen Gedanken aus.

4. Vorläufige Betrachtungen. über die Induction.

Wenn die Aehnlichkeit zweier Fälle auf empirischem Wege constatirt wird, so ist das Schliessen vom einen auf den anderen, wie schon erwähnt, eine Induction. Zu Schlussfolgerungen eignen sich, wie wir wissen, bloss diejenigen Fälle, wo ein Zusammenhang des Verschiedenen vorkommt. Da nun ein Zusammenhang des Verschiedenen nie selbst wahrgenommen werden kann , so besteht die Induction eben darin, dass wir aus dem wiederholten Zusammenvorkommen ähnlicher Erscheinungen, entweder zugleich oder in unmittelbarer Succession, einen unter denselben bestehenden Zusammenhang folgern. Infolge dessen schliessen ,wir auch ferner, wo wir einige Erscheinungen gleicher Art antreffen, auf das Vorhandensein der übrigen, die wir früher oft in Gemeinschaft mit jenen wahrgenommen haben, in dem Augenblicke aber nicht selbst wahrnehmen Ich werde mich nicht darüber verbreiten, wie ein solches inductives Schliessen in jedem Momente des Lebens ausgeübt wird und wie ohne dasselbe eine Erfahrung oder eine zusammenhängende Erkenntniss der Wirklichkeit gar nicht möglich wäre; denn dies ist ohne Weiteres klar.
Es gibt nun Denker, welche behaupten, dass »einen Zusammenhang zwischen Erscheinungen voraussetzen« und »erwarten, dass diese Erscheinungen stets zusammen vorkommen werden« nicht dasselbe sei. Dies ist ein Punkt, welcher über die ganze Lehre von der Induction Unklarheit verbreiten kann; er muss daher möglichst ins Licht gestellt werden. Es



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ist unmittelbar klar, dass es keinen anderen Grund geben kann, zu erwarten, dass gewisse Erscheinungen immer beisammen angetroffen werden, als die Voraussetzung, dass diese Erscheinungen selbst, und nicht bloss ihre Vorstellungen in uns, mit einander verbunden sind. Beides ist offenbar dasselbe. Wenn wir behaupten, dass etwas unfehlbar eintreten muss oder wird, weil etwas Anderes da ist, so behaupten wir eben damit, dass das Dasein des ersteren an dieses letztere gebunden ist. Wenn wir eine Verbindung der Erscheinungen selbst nicht glauben annehmen zu dürfen, dann haben wir auch kein Recht, zu erwarten, dass dieselben sich immer begleiten werden.
Die Frage, um welche sich hier Alles dreht, ist diese Ob wir einen rationellen (d. h. aus etwas unmittelbar Gewissem abgeleiteten) Grund haben, eine Verbindung unter den Erscheinungen vorauszusetzen und also zu erwarten, dass dieselben auch in Zukunft zusammen vorkommen werden, - oder ob diese Voraussetzung und Erwartung das Ergebniss der blossen Getcohnheit ist, dieselben stets zusammen vorzustellen? Im ersteren Falle würde das inductive Schliessen von früheren Fällen auf ähnliche gegenwärtige und zukünftige seine Berechtigung haben und in den nöthigen Grenzen Gewissheit ergeben. In dem letzteren Falle würde keine Induction weder Berechtigung haben noch Gewissheit ergeben. Denn unsere Gewohnheiten haben doch mit der Natur der Gegenstände draussen nichts zu schaffen und können denselben keine Gesetze vorschreiben.
Ich denke nun, jeder unbefangene Leser wird zugeben, dass in unserem Verstande irgendwo ein versteckter Grund liege, zu glauben, dass Erscheinungen, welche immer zusammen vorgekommen, entweder unmittelbar oder mittelbar mit einander verbunden sind. Denn dass ein beständiges Sichbegleiten der Erscheinungen während langer Zeiträume ein Werk des blossen Zufalls sei, ist ein Gedanke, welchen schwerlich Jemand wird verdauen können. Aber die Erfahrung allein bietet keinen


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Grund zu diesem Glauben. Sie bietet uns eben eine Gleichförmigkeit oder Gesetzmässigkeit in der Vergangenheit, welche wir constatirt haben, aber keine Bürgschaft, dass diese Gesetzmässigkeit auch in der Zukunft fortbestehen werde. Wenn wir unseren Schluss von der Vergangenheit auf die Zukunft auf blosse Erfahrung gründen, so bewegen wir uns in einem Cirkel. Dieses hat Hume treffend nachgewiesen. »Alle Folgerungen aus Erfahrung«, sagt er, »setzen als ihren Grund voraus, dass die Zukunft der Vergangenheit gleichen werde und dass ähnliche Vermögen mit ähnlichen sinnlichen Eigenschaften in Gemeinschaft angetroffen werden. Entsteht irgend ein Verdacht, dass der Lauf der Natur sich ändern und dass die Vergangenheit keine Regel für die Zukunft sein könne, so wird alle Erfahrung nutzlos und kann zu keinen Schlussfolgerungen führen. Es ist daher unmöglich, dass irgend welche Argumente aus Erfahrung diese Gleichheit des Zukünftigen mit dem Vergangenen beweisen könnten, weil alle diese Argumente selbst auf die Voraussetzung eben jener Gleichheit gegründet sind. Mag der Lauf der Dinge bis jetzt auch noch so regelmässig gewesen sein; dieses allein, ohne irgend ein neues Argument oder irgend eine neue Schlussfolgerung, beweist nicht, dass es auch in Zukunft so fortbestehen werde.« *) Da Hume auch keinen rationellen Grund für diesen Glauben entdecken konnte, so erklärte er alle in-
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*) „All inferences from experience suppose, as their foundation, that the future will resemble the past, and that similar powers will be conjoined with similar sensible qualities. If these be any suspicion that the course of nature may change, and that the past may be no rule for the future, all experience becomes useless, and can give rise to no inference or conclusion. lt is impossible therefore, that any arguments from experience ean prove this resemblance of the past to the future: since all these arguments are founded an the supposition of that resemblance. Let the course of things be allowed hitherto ever so regular; that alone, without some new argument or inference, proves not that for the future it will continue so." Hume's Inquiry concerning human Understanding, Section IV, Part 2, gegen das Ende.


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ductive Schlussfolgerung für ein blosses Ergebniss der Gewohnheit, was so viel heisst, als derselben jede objective Berechtigung absprechen. Wollen die Empiristen consequent sein, so müssen sie sich sämmtlich zu dieser Ansicht Hume's bekennen. Aber die Empiristen sind sämmtlich nicht consequent. Sie glauben alle an einen wirklichen Zusammenhang der Phänomena, setzen also einen rationellen Grund für diesen Glauben voraus. Aber anstatt zu sagen: »Wir kennen diesen rationellen Grund nicht«, sagen sie: »Es gibt keinen solchen,« oder sie gehen noch hinter Hume zurück und behaupten, dass das blosse Bestehen der empirisch erkannten Verhältnisse eine genügende Bürgschaft für ihr weiteres Fortbestehen sei.
Es ist nicht zu leugnen, dass die rein empirische Grundlage des Schliessens einzig und allein die Association unserer Vorstellungen ist. Dieses merkwürdige Gesetz des reprodu-cirten Inhalts führt uns auf rein mechanische Weise  gerade in der Richtung, welche wir sonst mit Ueberlegung einschlagen würden, nämlich zum Schliessen von ähnlichen Fällen auf andere ähnliche. Aber eben weil dieses Gesetz ein mechanisches oder physisches (kein logisches) ist und die Natur der Dinge nichts angeht, führt es uns ebenso sehr zu unrichtigen wie zu richtigen Schlussfolgerungen. Ich habe die Wirkung der Association schon angedeutet. Dieselbe besteht darin, dass eine vorhandene Vorstellung 1) andere ihr ähnliche und 2) auch unähnliche, welche aber durch wiederholtes Beisammensein mit ihr verwachsen sind, ins Bewusstsein oder in Erinnerung ruft. Da nun die Natur des erkennenden Subjects es mit sich bringt, alles im Bewusstsein Vorhandene als einen realen Gegenstand oder als irgend eine Bestimmung realer Gegenstände zu erkennen, so wird auch jede infolge der Association ins Bewusstsein herbeigerufene Vorstellung auf einen Gegenstand bezogen, also das gegenwärtige Dasein desselben geglaubt oder affirmirt. Alles, was zusammen vorgestellt wird, wird mithin auch als zusammen existirend, als


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verbunden erkannt. Das Kind, welches mehrere es umgebende Dinge meistens beisammen sieht, kann  natürlich noch kein Bewusstsein davon haben, dass diese Dinge auch getrennt bestehen können. So müssen z. B. die Kleider der Leute, welche das Kind pflegen, demselben zuerst als integrirende Bestandtheile dieser Leute erscheinen. Wenn aber das Kind einmal oder mehrere Male wahrgenommen hat, dass Dinge, welche früher stets beisammen waren, nunmehr doch auch von einander getrennt, eines ohne das andere sich ihm darbieten, dann muss sich in seinem Bewusstsein die Association oder die Verbindung dieser Dinge lösen. Die Association der Vorstellungen dieser Dinge braucht dadurch nicht gelöst zu werden, dieselben können auch ferner fortfahren, sich gegenseitig ins Gedächtniss zu rufen; aber das Kind glaubt nicht mehr, dass auch die Gegenstände dieser Vorstellungen mit einander verbunden seien, und dass wenn einer vorhanden ist auch die anderen dabei sein müssen. Auf diese Weise geht die Berichtigung vor sich. Dabei begnügen wir uns nicht mit der blossen Beobachtung der Fälle des Beisammen- und Getrenntseins, sondern machen auch mit Absicht Versuche an Gegenständen, welche in unserer Macht stehen, um zu erfahren, ob dieselben trennbar sind oder nicht.
Die wissenschaftlichen Methoden der Induction sind nichts Anderes, als eine bewusste und möglichst vollständige Ausbildung dieser Berichtigungsweise. Aber weil die rein empirische Grundlage des Schliessens ebenso zu unrichtigen, wie zu richtigen Resultaten führt, weil uns die Erfahrung selbst lehrt, dass Dinge, welche lange Zeit hindurch stets zusammen vorgekommen waren, sich dennoch als trennbar erwiesen haben, bietet diese Grundlage auch kein unfehlbares Kriterium zur Unterscheidung wahrer und unwahrer Schlussfolgerungen und der Zweifel 'legt sich daher an die Wurzel der ganzen Verfahrungsweise selbst. Denn das Aeusserste, was die Erfahrung bieten kann, ist der Nachweis, dass gewisse Dinge in keinem bekannten Falle getrennt oder in keinem bekannten



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Falle in Gemeinschaft wahrgenommen worden sind, was an und für sich keine Bürgschaft gibt, dass es nicht dennoch' auch anders vorkommen könne. Hören wir darüber den Koryphäen des neueren Empirismus, Stuart Mill:
»Der universelle Typus des schlussfolgernden Verfahrens« ist nach Mill dieses: »Gewisse Individuen haben ein gegebenes Attribut; ein Individuum oder Individuen gleichen den ersteren in gewissen anderen Attributen, also gleichen sie ihnen auch in dem gegebenen Attribut« (Log. 1., S. 243 [p. 226]). Und was ist die Gewähr der Richtigkeit dieser empirischen Generalisation? Das sagt uns Mill ebenfalls an einer anderen Stelle »Eine Generalisation dadurch erproben, dass man zeigt, dass dieselbe entweder aus einer stärkeren Induction, einer auf breiterer erfahrungsmässigen Grundlage ruhenden Generalisation folgt oder ihr widerspricht, ist der Anfang und das Ende der Logik der Induction.«*)
Alles läuft also darauf hinaus, dass wir höchstens die Thatsache eines ausnahmslosen Zusammenvorkommens gewisser Erscheinungen oder Bestimmungen constatiren. Allein der Grund von dieser Thatsache auf ihr Fortbestehen in der Zukunft zu schliessen, kann, wie Hume nachgewiesen hat, nicht in dieser Thatsache selbst liegen. Was wir stets als wahr gefunden haben, das sind wir geneigt für allgemein und unverbrüchlich wahr zu halten, das ist die ganze rein empirische Basis der Induction. Aber die Empiristen selbst und namentlich Mill wiederholt uns hundertfach, dass »Dinge nicht nothwendig thatsächlich verknüpft sein müssen, weil die Ideen von ihnen in unserem Geiste verknüpft sind« (Log. 11., S. 105 [p. 98]). Es ist also klar, dass die Empiristen von einer
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*) To test a generalisation, by showing tbat it either flows from, or confliets with some stronger induction some generalisation resting an a broader foundation of experience, is the beginning and end of the Logik of Induction." Syst. of Log. 11. , p. 102. Die betreffende Stelle in der Uebersetzung von Schiel ist 11., S. 110.


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wissenschaftlichen Grundlage der Induction consequenterweise gar nicht reden dürften.
Was den Schluss von der Vergangenheit auf die Znkunft unsicher macht, ist namentlich das Element der Veränderung. Im Einzelnen ändert sich Alles und es fragt sich, welche Bürgschaft haben wir, dass Etwas gerade so, wie früher wieder angetroffen werde? Welche Grenzen können wir bei der Veränderung voraussetzen ? Wir nehmen zwar ein regelmässiges Vorkommen gewisser Erscheinungen theils in Gruppen zugleich, theils in unmittelbarer Succession wahr. Die Wissenschaft mag sogar in allen Fällen das Gesetz constatirt haben, dass nichts ohne beständige Antecedentien entstehe. Allein wenn es bloss denkbar ist, dass etwas ohne Ursache geschehen könne, dann dürfen wir auf die Generalisationen der Wissenschaft keinen sonderlichen Werth legen. Denn kein thatsächliches, constatirtes Gesetz kann selbstverständlich die Möglichkeit dessen, was ohne alles Gesetz geschieht, verhüten oder einschränken. Wenn es denkbar ist, dass eine Veränderung ohne Ursache eintrete, so kann sie zu jeder Stunde und an jedem Orte, trotz aller erkannten Gesetze, sich ereignen, weil sie eben ein gesetzloses, an keine Bedingungen geknüpftes Geschehen ist. Die Unmöglichkeit eines solchen Geschehens kann nie aus Erfahrung erkannt werden, denn die Erfahrung zeigt uns bloss, was ist oder war, nicht aber, was nicht ist und nicht sein kann. Die Möglichkeit eines gesetzlosen Geschehens untergräbt aber gänzlich die Autorität der Erfahrung. Keine Beständigkeit in der Ordnung des Geschehens, und wenn sie noch so oft und fest constatirt wäre,. kann als blosse Thatsache ihr eigenes Fortbestehen in dem nächsten Augenblicke verbürgen, wenn es überhaupt denkbar ist, dass eine Veränderung ohne Ursache eintreten kann. Denn eine solche Veränderung hindert nichts, die älteste Ordnung zu durchbrechen. Man kann die Möglichkeit des gesetzlosen Geschehens nicht an einem Orte zulassen, von einem anderen aber ausschliessen, wie es Stuart Mill thut, auch nicht auf eine Klasse


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oder einige Klassen von Phanomenen einschränken. Denn die Möglichkeit, dass etwas ohne Ursache geschehe, bedeutet eben die Abwesenheit aller wirksamen, unwandelbaren Grenzen und Bedingungen der Möglichkeit im Geschehen überhaupt. Selbst wenn man sagen wollte, dass das Eintreten einer Veränderung ohne Ursache nach der bisherigen Erfahrung unwahrscheinlich sei, so wäre auch diese Behauptung unstatthaft. Denn wer kann die Wahrscheinlichkeit bei dem Grundlosen berechnen, bei demjenigen, was ohne Ursache und Gesetz geschieht ? Alle Berechnung der Wahrscheinlichkeit beruht ja selbst auf einer Abwägung von Gründen. Kurz, entweder ist eine Veränderung ohne Ursache niemals und nirgends denkbar und möglich oder sie ist stets und überall möglich und muss jeden Augenblick erwartet werden. Ein Drittes gibt es nicht.
Aller Induction, sowohl in der Wissenschaft wie im gewöhnlichen Leben, liegt, bewusst oder unbewusst, die Ueberzeugung zu Grunde, dass ohne Ursache keine Veränderung möglich ist, dass also gleiche Antecedentien immer gleiche Consequenzen haben werden. Diese Ueberzeugung gibt allein unseren Erwartungen des Zukünftigen Sicherheit. Unmittelbar oder positiv ist das Gesetz »keine Veränderung ohne Ursachenur ein Gesetz der successiven Erscheinungen; aber negativ erstreckt sich der Einfluss desselben auf die ganze Sphäre der Erkenntniss. Denn durch dieses Gesetz wird eben dem Gebiete der Veränderung überhaupt erst eine Grenze gesetzt. Wäre eine Veränderung ohne Ursache denkbar, so würde das Fortbestehen der Gleichförmigkeit in den erkannten Gruppen zugleichseiender Erscheinungen ebenso wenig gesichert bleiben, wie die Regelmässigkeit der Successionen. Ja, sogar die Lehren der Geometrie wären ohne dieses Gesetz kaum sicher. Denn wenn eine Veränderung ohne Ursache denkbar ist, so kann sie eben auch in Abwesenheit aller Ursachen, also auch im leeren Raume eintreten.
Nur dann wenn es von vornherein feststeht, dass keine Veränderung ohne Ursache möglich, ist uns etwas Unveränder-


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liches und stets Gleiches in der Erfahrung gewiss, nämlich die Gesetze selbst der Veränderungen, welche nicht wiederum der Veränderung unterworfen sein können, weil eben keine Veränderung ohne Ursache, also ohne Gesetz möglich ist. Der Grund der Gewissheit in dem Schliessen aus empirischen Daten ist die ursprüngliche Gewissheit, dass, trotzdem sich immer Neues unseren Sinnen darbietet und trotz aller Veränderungen, welche in dem Wahrgenommenen vor sich gehen, doch den Erscheinungen Etwas zu Grunde liegt, das stets unverändert oder dasselbe bleibt; dass bei allem Wechsel im Einzelnen sich die Natur doch im Allgemeinen (d. h. in dem Zusammenhange des Einzelnen) stets gleich bleibt, und dass es also in der Natur wirklich identische Fälle gibt. Diese ursprüngliche Gewissheit identischer Fälle ist eine allgemeine Einsicht a priori, welche allen Inductionen selbst Sicherheit und damit wissenschaftlichen Werth und Charakter verleihen kann.
Das Kriterium der Richtigkeit in den inductiven Schlüssen ist demnach erstens dasjenige, was die Gültigkeit der Induction überhaupt verbürgt, und zweitens die speciellen Methoden derselben, deren Aufgabe es ist, die Data, von welchen geschlossen wird, genau zu bestimmen, d. h. die beobachtete Regelmässigkeit des Zugleichseins und der Aufeinanderfolge selbst wissenschaftlich festzustellen. Ich werde mich nur mit dem ersteren befassen. Eine der hauptsächlichsten Aufgaben des vorliegenden Werkes ist die, den Beweis zu führen, dass das früher angegebene allgemeine Princip von Affirmationen über Gegenstände, welches das Bewusstsein der Unwahrheit und die Erkenntniss der Successionen erst möglich macht, zugleich auch den Grund enthält, identische Fälle in der Natur anzunehmen, den Grund also der beiden allgemeinsten Gesetze der Wirklichkeit, des Gesetzes der zugleichseienden und des Gesetzes der aufeinanderfolgenden Erscheinungen. Ich will versuchen zu beweisen, dass aus jenem Principe sowohl die Nothwendigkeit, 1) jede Erscheinung als das Element einer Gruppe,


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welches unter bestimmten Bedingungen stets mit' derselben existiren oder gegeben werden muss, aufzufassen (nämlich in der Erkenntniss der Körper), als auch die Nothwendigkeit, 2) jede Veränderung im Zusammenhange mit einem Antecedens zu denken (d. h. der allgemeine Causalitätsbegriff), abgeleitet werden können. Wird dieser Beweis geleistet, so wird dadurch jenes Princip als die schlechthin erste und einzige Grundlage des Denkens und als das oberste Kriterium der Wahrheit nachgewiesen. Zuerst muss aber natürlich dieses Princip selbst auf das sorgfältigste formulirt und festgestellt werden, was hauptsächlich in dem z. Buche dieses Bandes geschehen soll.

5. Allgemeine Bemerkungen über ein Kriterium der Wahrheit.

Man ist manchmal geneigt, sich unter dem Kriterium der Wahrheit eine Art Zaubermittel zu denken, welches nur an irgend eine Vorstellung ohne Unterschied angewandt zu werden braucht, um deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit sofort zu constatiren. Allein ein solches gibt es nicht. Zu der Unterscheidung wahrer und unwahrer Vorstellungen kann man auf keinem anderen Wege gelangen, als dem, auf welchem man zu wahren Vorstellungen und deren Gewissheit überhaupt gelangt, und welcher oben angedeutet worden ist. Die Unwahrheit einer Vorstellung kann, wie schon früher erwähnt, nie unmittelbar eingesehen werden, sondern nur aus deren Verhältnissen zu anderen, ausser wenn sie sich selber widerspricht, und auch dann nicht ohne Beihülfe eines Princips a priori.
Man bekommt über (las Kriterium der Wahrheit oft die sonderbarsten Einfälle zu hören. Kant z. B. persiflirt einmal das Suchen nach einem solchen und sagt, dass »es ungereimt sei, nach einem Merkmale der Wahrheit des Inhalts der Erkenntnisse zu fragen« (K. d. r. V., S. 105), aber nur drei Seiten weiter unten stellt er selbst Principien auf, »ohne welche überall kein Gegenstand gedacht werden kann« und


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welchen »keine Erkenntniss widersprechen kann, ohne dass sie zugleich allen Inhalt verlöre, d. i. alle Beziehung auf irgend ein Object, mithin alle Wahrheit« (Eb. S. 108). In diesem Punkte sind die Einen unkritisch, die Anderen hyperkritisch oder auch beides zugleich. Die Hyperkritischen meinen, dass wir nie wissen können, ob unsere Vorstellungen richtig seien, weil wir dieselben nicht mit ihren Gegenständen vergleichen können. Einige wissen in dieser Verlegenheit keinen anderen Rath, als den, die Wahrheit nicht in der Erkenntniss der Gegenstände selbst, sondern nur in der Erkenntniss der Ordnung derselben zu suchen. *) Wenn man aber die Gegenstände selbst nicht erkennen kann, was kann man dann von der Ordnung derselben wissen? Die Ordnung der Dinge existirt doch nicht ausserhalb derselben und kann nicht von ihnen unabhängig erkannt werden. Diese eingebildete Schwierigkeit besteht nur dann, wenn man unter den Gegenständen der Erkenntniss unbedingte, unabhängig vom Subjecte existirende Dinge (namentlich die Körper) meint; dagegen verschwindet sie, wenn man unter diesen Gegenständen empirische, in wesentlicher Beziehung zu unseren Vorstellungen stehende Objecte, nämlich die Empfindungen versteht, welche selbst blosse Phänomena sind. Wie das Wesen selbst der Vorstellung die Wahrheit des in ihr gegebenen Inhalts verbürgt, das habe ich am Eingange dieses Kapitels gezeigt. Die gegebenen Phänomena, d. h. die Empfindungen unterliegen selbst gar keinem Zweifel; erst wenn es darauf ankommt, die Ordnung derselben zu erkennen, um deren Wiedereintreten vorhersehen zu können, wird Irrthum möglich und ein Kriterium der Richtigkeit in Schlussfolgerungen von nöthen. Unkritisch ist nun hier das Verhalten der Empiristen, welche glauben, dass aus den gegebenen Daten allein, d. h. aus der Ordnung der Vorstellungen selbst, die Ordnung der Gegenstände, d. h. der Empfindungen, ohne weitere Gründe richtig erschlossen
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») Lewes, History of Philosophy, 3 ed. I. p. XXXI und p. LXIII.



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werden kann. Dieses wäre nur möglich unter der bekannten Voraussetzung des Spinoza, dass »die Ordnung und Verbindung der Vorstellungen dieselbe sei, wie die Ordnung und Verbindung der Dinge«, welche Voraussetzung aber factisch und notorisch unwahr ist, da die Gesetze, nach welchen die Vorstellungen reproducirt werden, ganz und gar verschieden sind von den Gesetzen , nach welchen die Empfindungen in  uns auftreten und unter einander zusammenhängen. H. Spencer, der sich durch die Consequenz seines Empirismus auszeichnet, sucht in der That nachzuweisen, dass »die Beharrlichkeit der Verbindung zwischen den Zuständen des Bewusstseins (er meint den Vorstellungen) proportional sei der Beharrlichkeit der Verbindung zwischen den entsprechenden (objectiven) Agentien« (Pr. of Psych. I., das Kapitel, betitelt Law of Intelligente); aber er muss doch selbst zugeben, dass die Handlungen der Thiere unzählige Fälle des Mangels einer solchen Correspondenz zwischen der inneren und der äusseren Ordnung darbieten (Eb. p. 409). Sind doch auch wir Menschen dem Irrthum beständig ausgesetzt. Wir wissen, dass ein ganz zufälliges Zusammentreffen der Gegenstände unter Umständen eine unzertrennliche Verbindung ihrer Vorstellungen bewirken kann, nämlich wenn dabei die Phantasie oder das Gemüth des Zuschauers stark erregt war, und umgekehrt, es kann manchmal durch ein einziges Experiment ein allgemeines, unwandelbares Gesetz des Zusammenhangs zwischen Gegenständen constatirt werden. Ob die Vorstellungen dieser Gegenstände einander nachher immer begleiten oder nicht, ist Sache des blossen Gedächtnisses und hat nichts mit dem Glauben an die Unzertrennlichkeit der Gegenstände selbst und dessen Gewissheit zu schaffen.
Ueberhaupt wenn man von einer »unzertrennlichen Association oder Verbindung der Vorstellungen« spricht, so unterscheidet man in der Regel nicht gehörig die zwei sehr verschiedenen Bedeutungen, welche dieser Ausdruck haben kann. Unter der unzertrennlichen Verbindung der Vorstellungen kann


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erstens das bloss physische Factum verstanden werden, dass das Dasein der einen Vorstellung im Bewusstsein unvermeidlich auch das Auftreten der anderen nach sich zieht. Aber gewöhnlich wird mit der unzertrennlichen Verbindung der Vorstellungen etwas ganz Anderes gemeint, nämlich der durch dieselbe oft bewirkte Glaube, dass die entsprechenden Gegenstände unzertrennlich seien. Beides ist weit davon entfernt, mit einander zusammenzufallen. Zwei Vorstellungen können sehr wohl in meinem Bewusstsein stets zusammen vorkommen, ohne dass ich an eine Verbindung ihrer. Gegenstände glaube, und umgekehrt, kann ich an eine unzertrennliche Verbindung zweier Objecte oder Bestimmungen glauben., ohne dass deren Vorstellungen deshalb einander in meinem Bewusstsein unwandelbar begleiten müssen.. Wenn ich zwei Gegenstände tausendmal zusammen wahrgenommen habe, so verwachsen infolge davon die Vorstellungen derselben und treten immer zusammen auf. Kommt nun ein Fall vor, dass ich die beiden Gegenstände getrennt wahrnehme, so kann diese einzige Wahrnehmung den früher zu Stande gekommenen Zusammenhang der entsprechenden  Vorstellungen nicht physisch aufheben oder auflösen. Die Vorstellungen werden immer noch fortfahren, sich im Bewusstsein zu begleiten. Aber mein Glaube an die Unzertrennlichkeit ihrer Gegenstände ist mit einem Male dahin. Eine einzige Wahrnehmung genügt, um ihn zu vernichten. Umgekehrt glaube ich fest, dass von der Natur des Triangels die Eigenschaft unzertrennlich ist, die Summe seiner Winkel gleich zwei Rechten zu haben; aber wenn ich mir einen Triangel vorstelle, so brauche ich nicht nothwendig zugleich auch an diese seine Eigenschaft zu denken.
Kurz, der Glaube an die objective Ordnung der Dinge beruht auf ganz anderen Gründen, als der subjectiven Ordnung ihrer Vorstellungen. Die Association der Vorstellungen ist ja die Quelle des Irrthums, wie sollte sie also den ausschliesslichen Grund wahrer Auffassungen abgeben können? Treffend sagt St. Mill: »Wenn der Glaube nur eine unzer-


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trennliche Association (d. i. der Vorstellungen) ist, dann ist er Sache der Gewöhnung und des Zufalls, nicht der Vernunft« *). Der Glaube beruht auf den logischen Gesetzen des Denkens, welche auf Gegenstände und deren richtige Auffassung sich ursprünglich beziehen und von den bloss physischen oder psychologischen Naturgesetzen desselben durchaus verschieden und unabhängig sind. Wenn das Denken in seiner Function nur durch die logischen Gesetze bestimmt wäre, so würde Unwahrheit in der Erkenntniss nicht vorkommen. Wäre dagegen das Denken bloss den physischen Gesetzen. der Association oder anderen unterthan, so würde Wahrheit der Erkenntniss nur als ein blosser Zufall eintreffen und durch kein Mittel mit Gewissheit zu constatiren sein. Ja, ohne ein logi-sches Gesetz könnte, wie schon gezeigt, nicht einmal das Bewusstsein von dem Unterschiede wahrer und unwahrer Vorstellungen entstehen. Nur weil das Denken unter dem Einflusse von zweierlei Art von Gesetzen steht, kommt es, dass wir zwar leicht irren, aber auch einen Leitfaden zu richtigen Auffassungen finden können.
Die Verkennung dieses Umstandes ist aber leider in unserer Zeit fast zu einem Dogma erhoben worden. Es ist jetzt eine ausgemachte Sache, dass die Wissenschaft des Geistes ein Zweig der Physiologie sei. Um die Gesetze des Denkens zu erforschen, muss man das Gehirn seciren und allerlei Ex
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*) In einer Anmerkung zu dem Werke James Mill's Analysis etc. I., p. 407_ Um so mehr wird man befremdet, wenn man bei ihm die Behauptung antrifft, dass die Logik, die Lehre von den Gesetzen des richtigen Denkens ein blosser Zweig der Psychologie sei und ihre theoretischen Gründe von dieser entlehne (An Examination etc. p. 445). Man kann doch die Gesetze der richtigen Auffassung der Gegenstände im Allgemeinen nicht durch Erforschung nur einer besonderen Klasse von G.egenständen, nämlich der psychologischen feststellen. Und ausserdem, was kann uns denn die Richtigkeit unserer psychologischen Forschungen selbst verbürgen , so lange die Regeln des richtigen Forschens überhaupt nicht feststehen? Das ist ein offenbarer circulus vitiosus.



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perimente mit demselben anstellen. So nützlich und fruchtbar für die Psychologie ein solches Experimentiren auch ist, für die Logik und die eigentliche Erkenntnisslehre kann dasselbe nichts beitragen. Man möge doch Folgendes überlegen ; Die richtige Erkenntniss oder Auffassung eines Objects besteht darin. dass das Object gerade so erkannt oder aufgefasst wird, wie es ist. Bei der richtigen Erkennntiss ist also die Natur, die Beschaffenheit des Objects, nicht die des Subjects, das Bestimmende. Da aber das erkennende Subject nicht durch fremde, anderen Dingen innewohnende, sondern nur durch eigene, in seiner Natur liegende Gesetze in seiner Function bestimmt und geleitet werden kann, so müssen also offenbar diese seine eigenen Gesetze eine ursprüngliche Beziehung auf die richtige Auffassung der Objecte haben, von Hause aus darauf eingerichtet sein. Und das sind eben die logischen Gesetze und Elemente des Denkens, welche demselben a priori innewohnen und weder durch Sectionen des Gehirns noch durch blosse psychologische Beobachtung der inneren Zustände erforscht werden kiinnen. Alles in der Natur dos Subjects dagegen, was auf die .richtige Auffassung der Objecte keine Beziehung hat, kann für dieselbe auch keinerlei Bedeutung haben und auf keine Weise maassgebend sein. Und dazu gehören vor Allem die physiologischen, cerebralen Bedingungen des Denkens, welche nicht Principien allgemeiner Erkenntniss, sondern locale Bewegungserscheinungen sind. Diese stehen selbstverständlich zu der Natur der erkannten Objecte in keinerlei Beziehungund können darum auch für die Erkenntniss derselben nicht maasgebend sein. Dass 2 x 2 = 4 ist, das würde wahr bleiben, auch wenn unser Denken an einen Strohsack, anstatt eines Gehirns, gebunden wäre. Die Entscheidung darüber, welche Folgerung aus den gegebenen Prämissen die richtige sei, hängt nicht im mindesten davon ab. ob das Denken der Prämissen in einem Ganglion oder einer Windung der grauen Substanz vor sieh geht: und ob jeder Gedanke durch eine kreisende oller eine vibrirende Bewegung der Moleküle bedingt ist.



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Physiologische und psychologische Bedingungen müssen von der Erkenntnisslehre hauptsächlich nur als störende und irreführende Elemente in Betracht gezogen werden; ihre eigentlichen Principien sind von ganz anderer Art. Doch wir wollen dies lieber nachweisen, als darüber discutieren.