DENKEN
UND
WIRKLICHKEIT.
VERSUCH EINER ERNEUERUNG DER KRITISCHEN PHILOSOPHIE,
AFRIKAN SPI R.
ERSTER BAND.
DAS UNBEDINGTE.
ZWEITE, UMGEARBEITETE AUFLAGE .
LEIPZIG.
J.G.FINDEL
1877. 


35
ZWEITES KAPITEL.
VON DER NATUR DER VORSTELLUNG UND DES ERKENNENDEN
SUBJECTS .
1. Was ist die Vorstellung?

Zuerst müssen wir die Frage aufstellen, was der Unterschied
von Wahrheit und Unwahrheit bedeutet und welche
Folgerungen sich aus demselben ergeben.
Der Unterschied von Wahrheit und Unwahrheit hat das
Eigenthümliche an sich, dass er nicht die Beschaffenheit eines
Gegenstandes selbst, sondern nur dessen Verhältniss zu etwas
Anderem betrifft. Wahrheit ist, wie man weiss, überall da,
wo ein Gegenstand - den wir im Allgemeinen mit A bezeichnen
können - gerade so, wie er wirklich ist, oder als das,
was er wirklich ist, d. h. in seiner eigenen Beschaffenheit,
nämlich eben als A vorkommt oder auftritt. *Wenn dagegen
von dem Gegenstande A etwas behauptet wird, was in ihm
nicht wirklich liegt, was ihm also fremd ist ; wenn der
Gegenstand A nicht als A, sondern als etwas Anderes, kurz
bezeichnet als B aufgefasst wird, so sagt man, diese Behauptung
und diese Auffassung sei unwahr. So wäre z. B. die
Behauptung, dass ein Mensch Flügel habe, unwahr, weil eben
der Mensch keine solchen hat, weil Flügel zwar zu der
Natur des Vogels gehören, aber beim Menschen fehlen, und
diesem damit also etwas angedichtet wäre, was seinem wirklichen
Wesen fremd ist. 


36
Erstes Buch. Zweites Kapitel.

Man möge sich diesen Zusammenhang zwischen dem Unterschiede
der Wahrheit und Unwahrheit und dem Unterschiede
des Eigenen und Fremden in Bezug auf die Beschaffen
heit der Gegenstände ernstlich und genau merken . Denn derselbe
ist oft verkannt worden und aus dieser Verkennung sind
manche Missverständnisse entstanden. In seiner eigenen Beschaffenheit
kann ein Gegenstand keine Unwahrheit enthalten,
denn die Unwahrheit besteht lediglich darin, dass von ihm
etwas behauptet wird, was zu seiner Beschaffenheit eben nicht
gehört. Wäre z . B. der Gegenstand A an sich, in seinem
eigenen Wesen auch B, so würde dieses keine Unwahrheit
ausmachen ; der Gegenstand A würde dann in Wahrheit zugleich
auch B sein . Die wahre und die eigene Beschaffenheit
eines Gegenstandes bedeuten also genau dasselbe ; es sind.
zwei Ausdrücke eines und desselben Begriffs. Nur wenn ein
Object A an sich kein B ist, aber irgend jemand als B erscheint,
kommt Unwahrheit zu Stande. Wo immer man also
von dem spricht, was ein Gegenstand an sich oder in Wahrheit
ist, kann darunter nichts Anderes verstanden werden,
als die eigene Beschaffenheit desselben.
Die Möglichkeit der Unwahrheit setzt nun das Vorhandensein
eines ganz eigenthümlichen Gebildes voraus, welches
man die Yorstellung nennt. Die Natur dieses Gebildes, der
Vorstellung, muss auf das sorgfältigste untersucht und festgestellt
werden, ehe man hoffen kann, in der Philosophie einen
festen Boden zu gewinnen. Hier zuerst muss man den Bohrer
ansetzen , wenn man bis zu der Quelle der richtigen Auffassung
selbst gelangen will . Bis jetzt herrschen aber leider
gerade über diesen Gegenstand unklare und widersprechende
Ansichten und es hat, so viel ich weiss, sich noch niemand
die Mühe gegeben, die Natur der Vorstellung mit der ganzen
nöthigen Aufmerksamkeit, Genauigkeit und Unbefangenheit zu
erwägen und zu erforschen. Dieses will ich nun versuchen
und zugleich auch einige der über diesen Gegenstand vorgebrachten
Meinungen einer Prüfung unterwerfen .



37
Die Natur der Vorstellung .

Nehmen wir sogleich einen concreten Fall. Es ist mir
ein realer Inhalt, z. B. eine blaue Farbe gegeben. Von diesem
Inhalte habe ich nun zwei sich gegenseitig widersprechende
Erfahrungen. Jedesmal nämlich wenn ich die blaue Farbe
sehe, scheint sie mir draussen zu liegen, als eine Eigenschaft
äusserer Gegenstände, die man deshalb selbst blaue nennt ;
andere Erfahrungen lehren mich dagegen, dass der reale Inhalt
oder die Qualität Blau in mir selber liegt. Welche von
diesen beiden widersprechenden Erfahrungen die wahre ist,
werde ich hier nicht auszumitteln suchen, denn das ist für
unsere gegenwärtige Betrachtung gleichgültig. Als richtig nehme
ich für diesen Fall die von allen denkenden Menschen anerkannte
und getheilte Ansicht an , dass der gegebene Inhalt oder die
Qualität Blau in uns selber liegt, unsere eigene Empfindung
ist. Es fragt sich nun : Welche Bedingungen oder Voraussetzungen
implicirt der Umstand, dass die in uns liegende
Qualität Blau als eine ausser uns existirende, als Eigenschaft
äusserer Gegenstände erscheint? Wie kann der gegebene Inhalt
als etwas erscheinen, das er nicht ist?
Das Einfachste wäre gewiss, zu behaupten, dass das so
gestaltete Erscheinen gar keiner weiteren Voraussetzungen bedarf,
dass der Inhalt oder die Qualität Blau selbst, ohne Be
theiligung anderer Factoren als eine Eigenschaft äusserer
Gegenstände erscheint. Allein diese Annahme ist vollkommen
unzulässig. Denn wäre derselbe identische Inhalt an sich
(d. h . in Wahrheit, in seiner eigenen Beschaffenheit) auch das,
als was er erscheint, so würde dieses eben kein blosses Erscheinen
mehr sein . Wenn wir in unserer Empfindung der
blauen Farbe zugleich ohne Rücksicht auf etwas Anderes finden
müssten, dass dieselbe auch eine Eigenschaft äusserer Dinge
sei, so würde sie nicht bloss als eine solche erscheinen ; vielmehr
würde sie dann selbst, in Wahrheit und Wirklichkeit
zugleich in und ausser uns liegen. Wenn sie dagegen in Wahrheit
nicht ausser uns liegt, sondern nur so erscheint, so muss
irgend etwas vorhanden sein, dem sie auf diese Weise erscheint .



38
Erstes Buch . Zweites Kapitel.

Nach jener einfachsten Auffassung des Erscheinens, welche
sich als eine unhaltbare erwiesen, nehmen wir eine andere,
nächsteinfache an . Das Erscheinende und dasjenige, dem es
erscheint, können nicht beide eins und dasselbe sein ; wir sehen
aber, wenigstens bis jetzt, auch keinen Grund zu behaupten,,
dass beide einander ganz fremd und von einander ganz unterschieden
wären. Wir nehmen also an, dass der Inhalt oder
die Qualität Blau selbst doppelt existirt, in einer doppelten Darstellung
vorhanden ist. Einerseits ist sie dasjenige, was als die
Eigenschaft äusserer Dinge erscheint . Diese Darstellung oder
diese Art Existenz des gegebenen Inhalts werden wir mit A
bezeichnen . Andererseits ist sie dasjenige, dem A als die Eigenschaft
äusserer Gegenstände erscheint. Diese letztere Darstellung
oder Daseinsweise des gegebenen Inhalts werden wir
mit a bezeichnen.
Wir müssen nun sehen, in welcher der beiden
Darstellun-gendesgegebenenInhaltsdieUnwahrheit,dasErscheinen
desselben als das, was er nicht ist, zu Stande kommt, ob in
A oder in a, ob in demjenigen, welches erscheint oder in demjenigen,
welchem es erscheint? Nach dem Vorhergehenden
kann die Antwort nicht zweifelhaft sein . Das Erscheinende
A hat an der Unwahrheit des Erscheinens gar keinen Antheil,
es kann sich nicht anders geben, als es ist. Im Gegentheil,
die Unwahrheit des Erscheinens besteht eben darin, dass das
auf A Bezogene der eigenen Beschaffenheit desselben nicht
wirklich entspricht. Die Natur des A ist eben dasjenige, was
die Norm zur Unterscheidung der Wahrheit oder Unwahrheit
des Erscheinens abgibt. Alle Unwahrheit fällt also der anderen
Darstellung (a) des gegebenen Inhalts zur Schuld . Indem
a dem A nicht entspricht, entsteht Unwahrheit.
Eine blosse Nichtübereinstimmung zweier Gegenstände
enthält aber nicht das Geringste von Unwahrheit in sich. Ein
Pferd und ein Haus unterscheiden sich gar sehr von einander,
was indessen nicht hindert, dass das Pferd ganz wahrhaft ein
Pferd und das Haus ganz wahrhaft ein Haus ist. Warum be-



3 9
Die Natur der Vorstellung.

d eutet denn die Nichtübereinstimmung jener vorausgesetzten
Darstellungen desselben Inhalts, A und a, eine Unwahrheit?
Und unter welchen Bedingungen kann die Nichtübereinstimmung
zur Unwahrheit werden? -- Offenbar nur in dem Falle, wenn
die Daseinsweise a des gegebenen Inhalts nicht als etwas Ansichbestehendes,
sondern ausdrücklich als der Repräsentant von
A da ist ; wenn A lles, was in a gesetzt oder vorhanden ist,
nicht -von diesem selbst, sondern von seinem Widerpart A
gelten soll. Bloss deshalb, weil Alles in a Vorhandene auf
A bezogen oder diesem angeeignet wird, ist seine Nichtübereinstimmung
mit diesem letzteren -- Unwahrheit. Ohne
diese eigenthümliche Beziehung könnte a von A himmelweit
abweichen und doch würde darin keine Unwahrheit, sondern
einfach nur ein Unterschied beider bestehen.
Diese Existenz eines gegebenen Inhalts, welche in ausdrücklicher
Beziehung auf einen entsprechenden, ausser ihr
liegenden Inhalt steht, und welche wir bis jetzt mit a be
zeichnet haben, ist eben die Vorstellung . Dasjenige dagegen,
worauf sich diese bezieht, und welches bis jetzt mit A bezeichnet
wurde, ist das reale oder objective Dasein des vorgestellten
Inhalts. Die Eigenthümlichkeit der Vorstellung besteht
darin, dass Alles, was in ihr vorhanden ist, nicht einfach
an sich, sondern als der Repräsentant von etwas Anderem
existirt ; darin, dass sie etwas von ihr selbst Unterschiedenes
- welches man ihren Gegenstand oder ihr Object nennt--
vorstellt. Um die Natur der Vorstellung als solcher zu begreifen,
muss man vor allen Dingen die Art, wie sie sich zu
dem Gegenstande verhält, untersuchen und sich klar machen.
Denn eben in dieser Art des Verhältnisses liegt der springende
Punkt, das Eigenthümliche, welches die Vorstellung zu dem
macht, was sie ist, und sie von allem Anderen unterscheidet.
Daher habe ich dieser Betrachtung fast das ganze gegenwärtige
Kapitel gewidmet.
Dass es so etwas, wie Vorstellungen gibt, kann keinem
Zweifel unterliegen. Denn der Zweifel setzt eben selbst die



40
Erstes Bach. Zweites Kapitel.

Möglichkeit der Unwahrheit und die Unwahrheit setzt das
Dasein von Vorstellungen, als in welchen sie allein zu Stande
kommen kann, voraus. Aber eine wahre Vorstellung unterscheidet
sich 'dem Wesen nach nicht von einer unwahren. Als
Vorstellungen sind sie gleicher Natur, dieselbe Art von Beziehung
auf Anderes (auf Gegenstände) charakterisirt beide.
Um dieses klar zu machen, werde ich zwei Fälle wahrer Erkenntnisse
anführen und betrachten, von welchen Niemand
zweifelt, dass die Vorstellung darin etwas von ihrem Gegenstande
Unterschiedenes sei, nämlich : 1) Die Erinnerung, die
Erkenntniss, welche wir von dem Vergangenen und Abwesenden
haben., und 2) die Erkenntniss, welche wir von anderen
Menschen haben.
Ich bemerke ausdrücklich, dass ich mich hier mit der
Art und Weise, wie diese Erkenntnisse zu Stande kommen,
noch nicht beschäftigen werde. Für unseren Zweck ist es
genug, dass Niemand die Wahrheit derselben im Allgemeinen
bestreitet.
Die Erkenntniss des Vergangenen ist selbst etwas Gegenwärtiges
und doch wird darin das Vergangene gerade als solches
erkannt. Nicht etwas mir wirklich Vorhandenes stelle
ich mir dabei vor, sondern etwas, das früher vorhanden war,
jetzt aber nicht mehr da ist. Ich erinnere mich z. B. an ein
gestern in einer bestimmten Strasse gesehenes Haus. Bei dieser
Erinnerung muss in mir natürlich ein Inhalt gegenwärtig
sein, nämlich irgend eine Wiederholung der gestern von dem
Hause empfangenen Eindrücke. Wenn ich aber diesem Umstande
nicht eine besondere Aufmerksamkeit zuwende, so denke
ich gar nicht an den gegenwärtig in mir vorhandenen Inhalt,
sondern unmittelbar an das gestern gesehene Haus. Man
Überlege nun die eigenthümliche Art, wie dieser gegebene
Inhalt dabei in mir existirt. Die wahren Umstände seines
Daseins, nämlich seine Gegenwart in mir, verwischen und
verbergen sich gleichsam. Er tritt nicht als er selbst, sondern
als etwas Anderes auf. In der Vorstellung des gestern



4 1
Die Natur der Vorstellung .

gesehenen Hauses ist mir dieses Haus selbst gegenwärtig. Wenn
ich auf Grund meiner Erinnerung irgend welche Betrachtungen
oder Berechnungen anstelle, so beziehen sich diese gewöhnlich
nicht auf den in mir gegenwärtig liegenden Inhalt, welcher der
Träger der Erinnerung ist, sondern auf den erinnerten Gegenstand .
Eine ähnliche Bewandtniss hat es nun auch mit einer
anderen Vorstellung, deren Uebereinstimmung mit ihrem Gegenstand
in den meisten Fällen ausser Zweifel steht ; ich meine
nämlich die Erkenntniss der Zustände und Eigenschaften anderer
Menschen. Die inneren Zustände eines anderen Menschen
liegen so ganz und gar ausser mir, dass ich mit derselben
nie in unmittelbare Berührung kommen kann ; dennoch
habe ich eine Erkenntniss nicht nur von dem Dasein, sondern
auch von der inneren Beschaffenheit anderer Menschen. Auf
welche Weise diese Erkenntniss entstanden, ist hier gleichgültig
; genug, sie ist eine Vorstellung, welche einen äusseren,
von ihr unterschiedenen Gegenstand im Allgemeinen richtig
vorstellt, und durch welche ich, ohne aus mir selber herauszugehen,
die Gewissheit des Gegenstandes habe. Alles, was
ich von einem anderen Menschen weis, liegt natürlich in
mir, ist ein Act oder ein Zustand meiner selbst ; aber dasjenige,
was darin oder dadurch zu Stande gebracht wird, der
Inhalt dieses inneren Zustandes oder Actes gibt sich nicht
für das, was er ist, sondern für Zustände und Bestimmungen
eines anderen Menschen . Wenn ich z . B . ein Kind schreien
höre, so weiss ich, dass dasselbe Unlust fühlt. Ich brauche
selbst dabei von wirklicher Unlust gar nichts zu verspüren,
im Gegentheil, ich kann mich gerade in dem Augenblicke
recht wohl fühlen ; aber die Unlust des Kindes ist doch auf
eine ganz eigenthümliche Weise in mir vorhanden, indem ich
dieselbe erkenne oder weiss. Diese eigenthümliche Art und
Weise des Daseins eines Inhalts oder eines Gegenstandes (in
der blossen Vorstellung) nennt man das ideale oder ideelle
Dasein desselben. Worin besteht nun die Eigenthümlichkeit
dieses ideellen Daseins?



42
Erstes Buch. Zweites Kapitel.

Zur Erläuterung nehmen wir die Wahrnehmung irgend
eines Gegenstandes, z. B. eines Blattes Papier.*) Es ist klar,
dass in meiner Vorstellung von dem Blatte Papier die weisse
Farbe desselben inbegriffen ist ; aber die Vorstellung selbst
ist nicht weiss. Die Ausdehnung und die Figur des Blattes
sind ebenfalls in meiner Vorstellung vertreten ; aber die Vorstellung
selbst ist nicht ausgedehnt und hat keine räumliche
Figur. Auch die Härte und die Schwere des Blattes sind in
meiner Vorstellung desselben ausdrücklich repräsentirt, denn
ich spreche ja eben von Härte und Schwere ; aber die Vorstellung
selbst an sich ist weder hart noch schwer. Kurz,
alle Gegenstände, welche mir bekannt sind, müssen doch in
meinem Bewusstsein vorhanden sein, sonst würde ich ja von
denselben nichts wissen können ; aber mein Bewusstsein ist
nicht selbst alle diese Gegenstände. Man sieht , das Wesen
der Vorstellung besteht im Allgemeinen darin , dass sie selbst
an sich nicht das ist, was sie vorstellt, d. h. dass Alles, was
in ihr liegt, nicht von ihr selbst, sondern von etwas
Anderem - von ihrem Gegenstande - gilt. Was an sich
eine ganze reale Welt bildet, findet sich ideell in dem Be-
Die Eigenthümwusstsein
eines einzigen Subjects zusammen, wird aber darin
gerade als eine ganze reale Welt erkannt.
lichkeit dieses ideellen Daseins der Gegenstände (in der Vor-
_______
") Ausdrücklich muss ich hier bemerken, dass in diesem Beispiel ein
Blatt Papier, also ein körperlicher Gegenstand nur der Anschaulichkeit
halber gewählt worden ist. Die Frage nach der Existenz der Körper
wird hier noch gar nicht berührt, da die Einsicht , welche ich jetzt ins
Licht zu stellen suche, nämlich, dass die Vorstellung ihrem Wesen nach
sich auf einen von ihr selbst verschiedenen Gegenstand bezieht, von jener
Frage ganz unabhängig ist. Ob die Körper existiren oder nicht , ist für
unsere gegenwärtige Untersuchung gleichgültig . Da aber im Bewusstsein
der meisten Menschen ein realer Gegenstand und ein Körper als durchaus
gleichbedeutend erscheinen, so muss man sorgfälti darauf aufmerksam
machen, dass es auch ausser den Körpern noch andere reale Gegenstände
giebt , welche von ihrer Erkenntniss oder Vorstellung verschieden sind,
wie es die beiden eben angeführten Fälle zeigen .



43
Die Natur der Vorstellung .

stellung) besteht also darin, dass es das reale, objective Dasein
derselben ausserhalb der Vorstellung ausdrücklich bejaht,
a ffirmirt.
Nur durch diese Natur der .Vorstellungen ist, wie wir
gesehen haben, Unwahrheit möglich, indem nämlich das in
der Vorstellung von dem Gegenstande Affirmirte mit dessen
Beschaffenheit nicht wirklich übereinstimmt .
Allein gerade diese fundamentale Eigenthümlichkeit der
Vorstellung wird mit einer seltenen Beharrlichkeit verkannt
und ignorirt. Aller Empirismus leugnet ja ausdrücklich, dass
die Vorstellung eine ursprüngliche, in ihrem Wesen selbst
liegende Beziehung auf Gegenstände enthalte. Wir werden
die Sache mit aller Sorgfalt Schritt für Schritt weiter prüfen
und untersuchen.

2. Unterschied der Vorstellung von dem Bilde. Das Wesen
der Vorstellung charakterisirt durch den Glauben .
Es ist sehr gebräuchlich, die Vorstellung ein Bild (image)
des Gegenstandes zu nennen. Und in der That, wenn die
Vorstellung wahr ist, so ist sie ein getreues Abbild des Gegen
standes . Man darf aber den tiefgreifenden Unterschied dieses
Bildes von anderen Bildern nicht übersehen. Die Gegenstände
in dieser Welt haben mehrere Eigenschaften und mehrere
Seiten. Ein gewöhnlich sogenanntes Bild stellt nun bloss eine
Seite oder doch nur wenige Seiten des abgebildeten Gegenstandes
dar. So erinnert uns ein Gemälde, auf welchem eine
Landschaft abgebildet ist, nur an den äusseren und sehr
spärlichen Eindruck, den alle dieselbe ausmachenden Gegenstände
auf uns in einer Entfernung hervorbringen . Jeder
einzelne Gegenstand würde, wenn in der Nähe betrachtet,
noch eine grosse Menge von Eindrücken liefern, welche alle
in der Entfernung und auf dem Bilde verloren gehen- nicht
züi sprechen von der inneren Structur der Gegenstände, von
dein, was nur mit Hülfe des Mikroskops an denselben be-

4 4
Erstes Buch. Zweites Kapitel.
 

merkt werden kann, und endlich, was durch andere Sinne,
als den Gesichtssinn wahrgenommen wird. Dies Alles kann
auf der gemalten Landschaft natürlich nicht vertreten sein.
Oder wenn wir eine Statue nehmen, welche einen Menschen
darstellt , so wiederholt diese auch nur die äussere Form desselben,
enthält dagegen -nichts von den unzähligen anderen
Eigenschaften und Seiten seines Wesens. Die Vorstellung ist
nun aber das einzige Bild ; in welchem alle Eigenschaften und
Seiten des abgebildeten oder vorgestellten Gegenstandes vertreten
sein können. Es ist nicht schwer, wenigstens die negative
Bedingung einzusehen, welche diese Fähigkeit allgemeiner
Repräsentation voraussetzt . Nur was keinen eigenen Inhalt
hat, vermag ohne Unterschied jeden gegebenen Inhalt abzuspiegeln
oder nachzubilden. Der eigene Inhalt eines Gegenstandes
kann noch so bildsam sein, so hat er doch nothwendig
eine bestimmte Natur, und diese Bestimmtheit ist ebenso nothwendig
eine Schranke seiner Receptionsfähigkeit und macht
eine Universalität derselben unmöglich.
An diesen Unterschied knüpft sich nun ein anderer, welcher
noch wesentlicher ist. Die gewöhnlich sogenannten Bilder enthalten
an sich, in ihrem eigenen Wesen keine Beziehung auf
den abgebildeten Gegenstand. Die gemalte Landschaft ist nur
für einen Zuschauer das Bild einer wirklichen Landschaft ; die
gemeisselte Statue ebenfalls nur für uns das Bild eines Menschen.
An sich enthalten die Farben, die Leinwand und der Marmor,
sie mögen geformt und zusammengesetzt sein, wie sie wollen,
nicht die geringste Beziehung auf irgend einen abzubildenden
Gegenstand. Daher gibt es in diesen Bildern nichts, was das
wirkliche Dasein des abgebildeten Gegenstandes verbürgte oder
irgendwie anginge. Wir können auch zwei Exemplare derselben
Thierspecies für Abbildungen von einander halten, z B .
die Kinder für Abbildungen ihrer Aeltern ; denn sie wiederholen
in der That eine grosse Menge der Eigenschaften ihrer
Aeltern . Nichtsdestoweniger hat ein Thier nichts von einem
Bilde an sich. Dasselbe ist zwar eine Wiederholung, aber



45
Die Natur der Vorstellung .

keine Abbildung des älterlichen Typus, weil es in keinem
repräsentativen Verhältnisse zu dem Wesen der Aeltern steht.
Selbst ein Bild im Spiegel ist nur für den Zuschauer ein Bild,
an sich aber vermuthlich bloss eine Art Bewegung der Körpertheilchen.
Im Gegensatze zu allem diesen ist nun die Vorstellung
Bild und Zuschauer in Einem. Alles, was in der Vorstellung
liegt, ist, wie schon erwähnt , mit der Affirmation
verbunden, dass dasselbe nicht von der Vorstellung selbst,
sondern von einem ausser ihr existirenden Gegenstande gilt,
dessen Dasein damit bejaht oder behauptet wird.'`)
Diese der Vorstellung innewohnende Affirmation eines Anderen
(eines Gegenstandes) kann man im Allgemeinen Glauben
(belief, croyance) nennen.
Dieses Wort kann indessen leicht Anlass zu Missverständnissen
geben; darum muss ich Folgendes bemerken. Das Geglaubte
fasst man in der Regel als das, Gegentheil des Gewussten
und namentlich des Bewiesenen auf ; aber in dieser Fassung
_______
*) wahrhaft überraschend ist die klare und präcis e Weise, in welcher
die richtige Ansicht bei Spinoza ausgesprochen sich findet. Er sagt
nämlich (Ethik. S. 95) : Man betrachtet die Vorstellungen wie stumme
Bilder auf einer Tafel, und von diesem Vorurtheil eingenommen, bemerkt
man nicht, dass die Vorstellung als solche die Bejahung oder Verneinung
in sich enthält." Doch auch schon bei Platon ist diese Einsicht ausgesprochen
. So heisst es in seinem Sophistes" : wenn dies (Bejahung
und Verneinung) nun der Seele in Gedanken vorkommt, stillschweigend,
weisst du es wohl anders zu nennen als Vorstellung?" Neulich hat noch
klarer Sigwart in seiner Logik, 1873, (I, 72-3) die richtige Ansicht,
dass von dem Wesen der Vorstellung der Glaube an den vorgestellten
Gegenstand unzertrennlich ist, ausgesprochen. Nur nennt Sigwart diesen
Glauben selbst eine Vorstellung des Seins" und dies kann, wie ich glaube
zu Missverständnissen führen . Es kann keine besondere, also abstracte
Vorstellung des Seins oder der Existenz vor der Erkenntniss einzelner
Gegenstände geben. Auch scheint Sigwart unter dem Sein" ein materielles
Sein, d. h. unter einem realen Object bloss einen Körper zu verstehen,
als ob beides dasselbe wäre, was, wie schon bemerkt worden,
auch sonst Vielen widerfährt.


46
Erstes Buch. Zweites Kapitel.

hat dasselbe zwei radical verschiedene Bedeutungen, die man
sich hüten muss zu verwechseln . Das Nichtbewiesene kann
nämlich sowohl dasjenige bedeuten, was keines Beweises bedarf,
d. h. unmittelbar gewiss ist, als auch dasjenige, was keines
ausreichenden Beweises fähig, d. h. gar nicht gewiss ist. Von
dem letzteren ist nun in dem Vorliegenden nirgends die Rede,
der Glaube im ersteren Sinne dagegen ist die Grundlage auch
alles Wissens. Der Punkt, auf welchen ich die Aufmerksamkeit
des Lesers besonders lenken möchte, ist der Umstand,
dass auch bei der unmittelbaren Gewissheit, ja bei der unmittelbaren
Wahrnehmung selbst kein Zusammenfallen der
Vorstellung mit ihrem Gegenstande statt findet. Dies erhellt
zu allererst daraus, dass die Gewissheit in allen Fällen gleichen
Wesens ist, einerlei ob es die Gewissheit des unmittelbar
Wahrgenommenen oder des bloss Erschlossenen ist . Weil nun
im letzteren Falle die Vorstellung von ihrem Gegenstande
offenbar verschieden und gesondert ist, da dieselbe auch in
dessen Abwesenheit besteht, so ist sie auch im ersteren Falle
von dem Gegenstande verschieden und gesondert. Aller Glaube
und alle Gewissheit haben mithin ihre Basis und Wurzel in
dem Wesen der Vorstellung selbst, der es von Hause aus
eigenthümlich ist, die Affirmation des Vorgestellten, den Glauben
an dessen Dasein ausser sich zu enthalten. Wenn Erkennendes
und Erkanntes unmittelbar und untrennbar eins wäre,
dann freilich würde jene Affirmation unnöthig sein . Wie würde
aber dann ein einziges Bewusstsein eine ganze Welt, Gegenwärtiges
wie Vergangenes und Zukünftiges, in sich enthalten ?
Und wie wäre dann Unwahrheit möglich? Wir wissen indessen,
dass bei uns überall und in Allem Unwahrheit möglich
ist. Daraus folgt nun nach den vorhergehenden Erörterungen,
dass bei Allem, was für uns existirt, die Vorstellung
etwas von ihrem Gegenstande Unterschiedenes und Getrenntes
ist. Nie kann ein Gegenstand in die Vorstellung selbst
kommen, sondern bleibt stets neben derselben liegen. »Ein
Gegenstand wird unmittelbar wahrgenommen« kann nichts



47
Die Natur der Vorstellung .

Anderes bedeuten, als dieses : »Zwischen dem Gegenstande
und der ihn percipirenden Vorstellung liegt nichts in der
Mitte«, oder auch : »Dem , Auftreten eines Inhalts in dem
Gegenstande geht unvermittelt und parallel das Auftreten eines
entsprechenden Inhalts in der Vorstellung« . Sogar sich selber
kann die Vorstellung nicht anders erkennen, als dadurch, dass
sie sich verdoppelt, dass die erkennende Vorstellung von der
erkannten verschieden ist und ihren Inhalt auf diese bezieht
oder von dieser affirmirt, welche Affirmation nur zu oft unwahr
ist, mit dem Wesen der erkannten Vorstellung nicht wirklich
übereinstimmt, wie es uns ja die vielen unrichtigen Theorien,
welche man über die Natur der Vorstellung selbst aufgestellt
hat, schlagend beweisen.
Der Glaube aber, die der Vorstellung innewohnende Affirmation
des Gegenstandes ist nicht etwas neben der Vorstellung
Bestehendes oder ihr von Aussen Mitgetheiltes, sondern gerade
das ursprüngliche Vorhandensein dieser Affirmation in ihr
macht sie eben erst zu einer Vorstellung. Sonst würde sie
bloss die Wiederholung oder das Abbild eines Gegenstandes;
aber nicht die Vorstellung desselben sein. Es gibt daher kein
anderes Princip oder Fundament der Gewissheit als die Kraft
der den Vorstellungen selbst innewohnenden Affirmation . Nie
kann unseren Vorstellungen der Glaube und dessen Gewissheit
von Aussen, von den Gegenständen kommen .
Wenn nun aber auch der Glaube bloss in Vorstellungen
möglich ist, so können wir doch eine Vorstellung haben, ohne
im geringsten zu glauben, dass derselben irgend ein Gegenstand
in der Wirklichkeit entspreche. Ich denke mir wohl Chimären
und Spukgeister, aber ein wirkliches Dasein schreibe ich denselben
nicht zu. Hier wird die Affirmation des Gegenstandes,
die seiner Vorstellung innewohnt, durch entgegenbesetzte
stärkere Affirmationen negirt und entkräftet, kann
aber trotzdem durch dieselben nicht ganz vernichtet werden.
Wenn ich eine Chimäre denke, so denke ich immer damit
nicht eine blosse Vorstellung oder einen Gedanken, sondern



48
Erstes Buch. Zweites Kapitel .

einen realen Gegenstand. Die Reflexion lehrt mich zwar, dass
kein solcher Gegenstand existirt, dass der Gedanke einer
Chimäre eben ein blosser Gedanke ist, ohne entsprechende
Wirklichkeit ; aber diese Reflexion ist nicht die Vorstellung
der Chimäre selbst, sondern etwas sich auf diese Beziehendes.
Wo die Wahrnehmung mit im Spiele ist, da wird dieser Unter
schied noch merklicher. Ich kann z. B. durch die Reflexion
noch so sehr überzeugt sein, dass die Farbe nirgends anders,
als in mir selber existirt ; nichtsdestoweniger, sehe ich , wo
ich nur immer eine Farbe sehe, sie als etwas ausser mir
Liegendes, als eine Eigenschaft äusserer Dinge. Hier vollzieht
sich die Negation *offenbar ausserhalb der directen Wahrnehmung
der Farbe ; diese Wahrnehmung behält selbst ihre
Affirmation des Gegenstandes ungeschwächt fort. Wie es überhaupt
kommen kann, dass die Vorstellung gar nicht existirende
Gegenstände vorspiegelt und wie das Bewusstsein der Unwahrheit
solcher Vorstellungen entstehen kann, davon werde ich
weiter unten zu reden haben .

3. Unterschied der Vorstellung von der Empfindung.

In unserer Zeit hat die Lehre, welche alles Erkennen
auf Empfindungen (sensations) zurückführt, einen neuen Aufschwung
genommen, und es muss daher die schon früher so
oft discutirte Frage nach dem Unterschiede der Empfindung
von der Vorstellung wieder auf's Tapet gebracht werden.
Psychologisch betrachtet, unterscheidet sich eine Empfindung
von einer blossen Vorstellung zuerst dadurch, dass sie
lebhafter ist als diese. . Wenn ich einen Gegenstand sehe, so
ist das Gesichtsbild viel lebhafter, als wenn ich einen
früher gesehenen Gegenstand mir im Gedächtniss wachrufe ;
wenn ich' eine Melodie höre, so ist auch der Eindruck viel
lebhafter, als wenn ich mich einer früher gehörten bloss
erinnere, u . s. w. Ferner unterscheiden sich die Empfindungen
von den Vorstellungen dadurch, dass die ersteren bei dem



49
Die Natur der Vorstellung.

Wechsel der äusseren Gegenstände und bei meinen eigenen
Bewegungen selbst wechseln, die letzteren dagegen nicht.
Wenn ein rother Gegenstand vor meinen Augen steht, so kann
ich nicht die Empfindung der gelben oder .der grünen Farbe
haben,` und wenn die Stelle des rothen Gegenstandes von
einem blauen eingenommen wird, so wird im Einklang damit
auch in mir die Empfindung des rothen durch die des blauen
verdrängt . Und da die Gegenstände in meinem Gesichtsfeld
auch in Folge meiner eignen Bewegungen wechseln, so hängt
der Wechsel meiner Empfindungen auch von meinen Bewegungen
ab. Drehe ich z . B. meinen Kopf nach rechts, so
erhalte ich bestimmte Gesichtsempfindungen , wende ich ihn
nach links, so verschwinden dieselben und es tauchen statt
ihrer neue auf. Dagegen geht die Succession meiner Vor-
stellungen und Gedanken unabhängig von dem Wechsel der
äusseren Gegenstände und von meinen eignen Bewegungen
vor sich Gehend oder sitzend, im Zimmer oder in der freien
Natur kann ich über dieselben Dinge nachdenken, kann dieselben
Reihen von Gedanken in meinem Bewusstsein vorüberziehen
lassen . Dies hängt mit dem physiologischen Unterschied
der Empfindung von der Vorstellung zusammen, weleher
darin besteht, dass die Empfindung äussere, oder genauer,
ausserhalb meines Leibes liegende Ursachen hat, die
Vorstellung dagegen bloss innere d. h. in meinem Gehirn .
selbst enthaltene.
Die Sensualisten behaupten nun, dass es keine anderen
Unterschiede zwischen Empfindung und Vorstellung gibt, als
die eben angeführten, dass beide nicht dem Wesen, sondern
nur dem Grade nach von einander verschieden sind ; dass die
Vorstellung nichts Anderes, als eine im schwächeren Grade
reproducirte Empfindung selbst ist.
Ueber diese Ansicht ist zunächst zu bemerken, dass auch
die actuellen Empfindungen selbst durch alle Grade der Lebhaftigkeit
vom Zero bis zum Unerträglichen gehen. Wie wäre
darnach eine Unterscheidung des Empfundenen von dem bloss



50
Erstes Buch. Zweites Kapitel.

Gedachten möglich? Man wird sagen i dass die Empfindung
bloss durch eine Einwirkung von Aussen, die Vorstellung dagegen
auch ohne eine solche entstehe . Aber was hat hier
die Verschiedenheit der Ursachen zu bedeuten, wenn man
ausdrücklich behauptet, dass die durch dieselben hervorgebrachten
Wirkungen (Empfindung und Vorstellung) dem Wesen
nach gleich sind? Heisst das nicht einen Unterschied heimlich
einschmuggeln wollen, den man öffentlich leugnet? Aber
die nächsten Ursachen sowohl der Vorstellung wie der Empfindung
sind noch obendrein dieselben, nämlich die physiologisehen
Vorgänge im Gehirn. Es muss also zwischen der
Empfindung und der Vorstellung noch. andere Unterschiede
von weit radicalerer Natur als die oben angeführten geben.
Diese Frage ist von so hoher. Bedeutung und Wichtig -
keit für die ganze Philosophie, dass alle redlichen Freunde
dieser Wissenschaft streben sollten , sich darüber ins Klare
zu setzen und zu verständigen. Daher möchte ich bitten,
die folgenden Bemerkungen zu beachten und sich innerlich
zu' beantworten
Sind diese zwei Arten von Thatsachen : »Es ist ein realer
Inhalt vorhanden« und »Ich erkenne, dass dieser Inhalt da
ist«, oder : >Es sind zwei verschiedene Dinge vorhanden«
und »Ich erkenne, . dass und worin diese Dinge von einander
unterschieden sind«, oder : »Es sind mehrere Zustände oder
Phänomena auf einander gefolgt« und »Ich erkenne die Succession
derselben« - sind also, frage ich, diese zwei Arten
von Thatsachen einer und derselben Natur, einer und derselben
Art oder nicht?
Ich glaube, jeder unbefangene Mensch wird ohne Zaudern
zugeben, dass diese zwei Arten von Thatsachen von einander
toto genere verschieden sind. Der mannigfaltigste reale In
halt kann auf die mannigfaltigste Weise zusammengestellt werden,
sich vermischen und meinetwegen sogar sich durchdringen
oder mit einander verwachsen ; aber keine Combination bloss
objectiver, physischer Vorgänge und Umstände kann das Be-



51
Die Natur der Vorstellung.

wusstsein erzeugen, dass etwas Reales da ist oder dass ein
gegebener Inhalt Aehnliches und Unähnliches darbietet . Diese
Affirmationen sind etwas neben dem objectiven Inhalte Bestehendes
und- von demselben Unterschiedenes, impliciren aber
den Glauben, dass sie von dem objectiven Inhalte gelten,
diesen betreffen, das Dasein und die Beschaffenheit desselben
angeben.- Ein solche, den Glauben ihrer objectiven Gültigkeit
mitführende Affirmation über Gegenstände ist - ein Urtheil.
Ganz . richtig sagt Stuart Mill : »Urtheile sind (mit Ausnahme
des Falls, wo der Geist selbst der behandelte Gegenstand ist)
nicht Behauptungen bezüglich unserer Ideen von den Dingen,
sondern Behauptungen bezüglich der Dinge selbst. Um zu
glauben, dass Gold gelb ist; muss ich in der That die Idee von
Gold und die Idee von Gelb haben, und etwas auf diese Ideen Bezügliches
muss in meinem Geiste Statt finden, aber mein Glaube'
bezieht sich nicht auf diese Ideen, sondern auf die Dinge selbst.«*)
Das fundamentale Versehen der Sensualisten besteht nun
darin, dass sie den in den Vorstellungen vorhandenen Glauben,
(las Urtheilen, das Affirmiren und Negiren für einen objecti
ven, gleichsam physischen Vorgang halten, welcher mit der
blossen Zusammenstellung eines verschiedenen realen Inhalts
entweder eins sein oder aus demselben nach physischen Gesetzen
folgen soll.**) Der scharfsinnige Denker, welcher in
_______
*) Mill's System der Logik, 1., S. 105 [p. 97]) . Die Citate aus diesem
Werke Mill's werden nach der Uebersetzung von Schiel (Braunschweig,
1868) gemacht und daneben die entsprechenden Seiten des Originals nach
der siebenten Auflage in Klammern gegeben.
**) So ist z. B . nach Wundt (Physiologische Psychologie, S. 465) Die
Beziehung der Vorstellung auf einen Gegenstand erst ein seeundärer Act' ',
das ursprüngliche Wesen derselben kann nur in der Verbindung einer
Mehrzahl von Empfindungen bestehen". Es ist zu bedauern, dass
Wundt gar nicht angedeutet hat, wie aus der Verbindung einer Mehrzahl
von Empfindungen" der Glaube an einen von diesen verschiedenen
Gegenstand entstehen kann. . Hätte Wundt dieses bezeigt, so würde er
damit eine der fundamentalsten Fragen der Philosopliie erledigt und den
Noologismus , die Lehre des Apriori auf immer beseitigt haben.



52
Erstes Buch. Zweites Kapitel .
 

dem oben angeführten Citat sich über das Urtheil so richtig
ausgesprochen hat, sagt z. B .über das Bewusstsein der Aehnlichkeit
und der Succession Folgendes : »Aehnlichkeit ist
nichts Anderes als unser Gefühl von Aehnlichkeit, Aufeinanderfolge
nichts als unser Gefühl von Aufeinanderfolge« (Log. I.,
S. 85 [p . 75]) . Das wollen wir aber näher betrachten .
Damit Dinge ähnlich sein können, müssen deren wenigstens
zwei da sein, denn Aehnlichkeit ist Uebereinstimmung in der
Diese letzteren können dabei Beschaffenheit mehrerer Dinge.
so weit wie möglich von einander entfernt sein, ja an den
entgegengesetzten Enden der Welt sich befinden , ohne dass
dieses ihrer Aehnlichkeit irgend einen Abbruch thäte. Dasjenige
dagegen, welches die Aehnlichkeit zweier oder mehrerer
Dinge erkennt, muss nothwendig eins sein. Denn nur indem
es die Dinge zusammen, mit ausdrücklicher Rücksicht auf
einander fasst , kann es die Aehnlichkeit oder Unähnlichkeit
derselben bemerken. Die Erkenntniss der Aehnlichkeit zweier
Dinge kann also unmöglich in diesen Dingen selbst enthalten
sein ; sie ist eine Affirmation, welche sich zwar auf die ähnlichen
Dinge bezieht, aber sich ausserhalb derselben vollzieht
oder zu Stande kommt . Noch offenbarer ist dieses bei der
Succession, der Aufeinanderfolge der Dinge oder Zustände.
Die Succession der Zustände ist natürlich nicht selbst etwas
neben und ausser diesen Bestehendes, - darin hat Mill ganz
Recht - wohl aber ist es die Erkenntniss oder das Bewusstsein
der Succession. Ich kann doch offenbar nicht wissen,
dass ein Zustand B auf einen anderen A gefolgt ist, ohne
diesen vergangenen Zustand A mir im Bewusstsein gegenwärtig
zu haben, - das wird niemand bestreiten. Damit ich einsehe
und erkenne, dass drei Zustände oder mehr aufeinandergefolgt
sind, muss ich sie alle in einem Bewusstsein, zusammen, also
zugleich haben, weil sie darin mit ausdrücklicher Beziehung
auf einander zusammengefasst werden . Wenn nun die an
sich successiven Zustände in ihrer Vorstellung zugleich sein
müssen, so ist klar, dass die Vorstellung ihrer Succession



53
Die Natur der Vorstellung .

etwas von ihrer Succession selbst Verschiedenes ist. Aber es
liegt noch mehr darin. Um (las Bewusstsein einer Aufeinanderfolge
zu erhalten, muss ich die vergangenen Zustände nicht
allein in meiner Vorstellung gegenwärtig haben, sondern dieselben
noch obendrein gerade als vergangene erkennen . Es
ist nun eine sehr verbreitete Ansicht, dass das Vergangene
unmittelbar erkannt werden könne. Kant selbst hielt, wie
man weiss, die Vorstellung der Zeit oder der Succession für
eine unmittelbare Anschauung, oder sogar für die Form eines
Sinnes, . also für eine Art Empfindung. Es gibt aber keine
andere Ansicht, welche gegen den gesunden Verstand mehr
und offenbarer verstiesse, als gerade diese. Denn das Vergangene
unmittelbar als vergangenes wahrnehmen heisst ja
doch : das Nichtseiende unmittelbar als nichtseiend wahrnehmen,
was gar keinen Sinn hat, da das Nichtseiende selbstverständlich
kein Gegenstand der Erfahrung sein kann. Die
Succession der inneren Zustände ist uns zwar mit diesen selbst
unmittelbar gegeben, aber das Bewusstsein oder die Erkenntniss
der Succession kann nichtsdestoweniger nur durch einen
Schluss, nie durch unmittelbare Wahrnehmung erreicht werden,
wie ich es im z. Bande dieses Werkes zeigen werde.
Es ist nicht zu leugnen, dass bei der Erinnerung an
früher gehabte Eindrücke oder Empfindungen die Erkenntniss
nicht eine einfache Wiederholung derselben, sondern eineVor
-stellung ist, welche von allen blossen Eindrücken oder Empfindungen
dem Wesen nach verschieden ist, indem sie eben
Affirmationen über frühere, vergangene, also offenbar ausser
ihr liegende Gegenstände enthält. Aber die Erkenntniss der
gegenwärtigen Eindrücke und Empfindungen kann ebenfalls
unter keinen anderen Bedingungen zu Stande kommen. Denn
der Vorgang ist in beiden Fällen dem Wesen nach derselbe,
und die Erkenntniss des Vergangenen als solchen ist. nur
möglich auf Grund der Erkenntniss des Gegenwärtigen als
solchen . Hier ist nun ein Punkt, wo der Sensualismus in
augenscheinlichem Widerspruch mit den Thatsachen erscheint.



54
Erstes Buch. Zweites Kapitel.

Nach der sensualistischen Voraussetzung kann nämlich einer
gegenwärtigen Empfindung in uns keine von ihr verschiedene
Vorstellung entsprechen, sondern die Empfindung soll unmittelbar
auch das Bewusstsein oder die Erkenntniss ihrer selbst
sein . Denn die Vorstellung ist ja nach dieser Ansicht nichts
Anderes, als die Empfindung selbst, nur nicht in der ursprünglichen
Stärke wiederholt. Sobald man zugibt, dass wir von
der gegenwärtigen Empfindung eine Vorstellung haben können,
gibt man eben -damit zu, dass diese letztere nicht die
wiedererweckte Empfindung selbst, sondern etwas neben dieser
Bestehendes, also von ihr dem Wesen nach Verschiedenes sei .
Das ist nun aber nachweislich der Fall . Nehmen wir z. B.
die bekannte Thatsache, dass der Mond uns am Horizont viel
grösser erscheint, als wenn er hoch am Himmel steht. Wir
wissen, dass die Eindrücke, welche wir vom Monde empfangen,
in beiden Fällen gleich sind; denn es gibt keinen Grund,
dass sie verschieden wären, und durch das Fernrohr betrachtet,
ist auch in der That die sichtbare Grösse des Mondes in .
beiden Fällen die gleiche. Wenn also unseren unbewaffneten
Augen der Mond am Horizont grösser erscheint, so ist dies
die Folge einer irrthümlichen Schlussfolgerung. Wir haben
also in diesem Falle drei gleichzeitige Data vor uns :' 1) Den
Gesichts-Eindruck oder die Gesichts-Empfindung, welche der
Mond in uns bewirkt, 2) eine gleichzeitige Vorstellung des
Mondes, in welcher dieser Eindruck vergrössert erscheint, und
3) die Erkenntniss, dass diese Vorstellung unwahr ist, d. h.
mit dem wirklichen Eindruck nicht übereinstimmt . - Hier
kann man schlechterdings nicht behaupten, dass die Vorstellung
bloss eine abgeschwächte Wiederholung des Eindrucks
sei, denn sie sind beide thatsächlich zugleich vorhanden und
stimmen obendrein noch . mit einander nicht. überein. Und
was soll erst das Dritte, unsere berichtigte Erkenntniss des
Mondes sein? Etwa eine abgeschwächte Wiederholung der
abgeschwächten Wiederholung eines Eindrucks? Die Täuschungen
des Gesichtssinns sind aber in der That äusserst zahlreich .



5 5
Die Natur der Vorstellung.

Es ist oft eine besondere Einübung dazu nöthig, um die gegebenen
Eindrücke, d. h. seine eigenen Empfindungen als
das zu erkennen, was sie wirklich sind oder auch um deren
Vorhandensein in sich nur . zu bemerken.
Die sämmtlichen Empfindungen nun, welche man die objectiven
nennen kann, weil wir in denselben nicht unsere
eigenen Zustände erkennen, wie Farben, Töne, Temperatur
u. s. w. werden als etwas ausser uns Liegendes erkannt, in
den Raum nach Aussen projieirt, während sie in der That
stets in uns bleiben und sind. -Diese Projection kann, wie
schon genügend dargethan worden, nu in Vorstellungen zu
Stande kommen. Der Inhält der Empfindungen . wird nicht
wirklich aus uns herausgeworfen, sondern er spiegelt sich nur
in der Vorstellung als ein äusserer ab . Zu diesem Behuf
muss er aber in der Vorstellung 'selbst (ideell) vorhanden sein ;
denn von dem, was sich in unseren Vorstellungen nicht vorfindet,
können wir auch nichts wissen.

4. Von der Erkenntniss innerer Zustände.

Was die objectiven Empfindungen (Farben, Töne u. s. w.),
welche stets als etwas dem Ich selbst Fremdes erkannt werden,
betrifft, so wird nach 'den vorhergehenden Erörterungen
hoffentlich Niemand behaupten wollen , dass sie von ihrer Erkenntniss
gar nicht unterschieden seien, dass Erkennendes
und Erkanntes darin unmittelbar eins sei. Aber es bleibt
noch 'die Frage übrig, ob auch unsere inneren Zustände, nämlich
die Gefühle der Lust und Unlust , die Affectionen des
Gemüths und die Willensregungen, welche doch das eigene
Wesen des Subjects ausmachen und äusseren Dingen nie beigelegt
werden,*; - ebenfalls nicht anders erkannt werden
_______
*) Das heisst, es können auch äusseren Dingen Gefühle von Lust und
Unlust beigelegt werden, aber nicht meine Gefühle von Lust und Unlust,
während ich meine eigenen Empfindungen der Farben u. ähnl. selbst als
Eigenschaften äusserer Dinge erkenne.



56
Erstes Buch . Zweites Kapitel.

können, als in Vorstellungen, welche von ihnen selbst unterschieden
sind. Es scheint wirklich paradox zu klingen., wenn
inan sagt dass unsere inneren Zustände von uns selbst gar
nicht gewusst werden können, also für uns gar nicht existiren,
wenn wir nicht noch eine besondere Vorstellung von denselben
besitzen. Daher haben auch mehrere Denker dieses entschieden
geleugnet. Brown, die beiden Mill, James und Stuart,
Hamilton und Andere sind darin einig. So sagt Janes Mili
»Ein Gefühl haben heisst, sich bewusst sein ; und sich
bewusst sein heisst , ein Gefühl haben. Sich eines Nadelstichs
bewusst sein heisst einfach, diese Sensation haben.
Und' obgleich ich diese verschiedenen Benennungen für meine
Sensation gebrauche, wenn ich sage : ich fühle den Stich der
Nadel, ich fühle den Schmerz des Stiches, ich habe die Sensation
eines Stiches , ich habe das Gefühl eines Stiches, ich
bin mir eines Gefühls bewusst, - so ist doch das Ding, welches
auf diese verschiedenen Weisen ausgedrückt wird ; eins
und dasselbe.«*)
Dass irgend ein Gegenstand unmittelbar auch die Erkenntniss
oder die Vorstellung seiner selbst sei oder dass
eine Vorstellung unmittelbar auch ihr Gegenstand sei, diese
vollkommene Einheit und Identität des Wissender und des
Gewussten. nannte Herbart das »reine Ich« und hat den in
dieser Annahme liegenden Widerspruch ausführlich nachzuweisen
gesucht (in seiner Psych. als Wiss. § 27) . Allein es
_______
') Analysis of the phenomena of the human mied (London, 1569)
1., p . 224. Doch haben Bain und Stuart Mill in ihren Anmerkungen
zu diesem Werke zugegeben, dass die Empfindung und die Erkenntniss,
die wir von derselben haben, zwei verschiedene Dinge seien . Bain sagt :
we may add to the mere fact of pleasure, the cognition of the state as
a state of pleasure, and as a state belonging to us a. the time . . . . .
1t is thus correct to draw a live between feeling and knowing that we
eel" (Eb. 1., 227) . Und Stuart Mill : There is a mental process, over
and above the mere having of a feeling, to which the Word Consciousness
is sometimes, and it can hardly be said improperly applied, viz . the refference
of the feeling to our Self," (Eb. p. 230.)



57
Die Natur der Vorstellung.

bedarf hier eigentlich keiner langen Auseinandersetzungen .
Der Gedanke, dass ein Gegenstand unmittelbar auch die Erkenntniss
dieses Gegenstandes sei, ist ebenso sinnleer, wie
die Behauptung , dass ein Ochse unmittelbar auch ein Hund
sei . Ein. und derselbe identische Gegenstand kann nicht zweierlei
zu gleicher Zeit sein.*) Und ausserdem würde es sich
noch fragen, warum denn nicht aller und jeder Gegenstand
unmittelbar zugleich auch die Erkenntniss seiner selbst und
mithin ein Ich ist? Doch es gibt noch greiflichere Gründe.
Dass auch die Vorstell-ung der inneren Zustände etwas von
diesen selbst Unterschiedenes ist, beweist erstens der Umstand,
dass dieselben unter einander verglichen, ihre Verhältnisse
und ihre Successionen erkannt werden, was nachweisbar nicht
in den fliessenden inneren Zuständen selbst, sondern nur in
einem Bewusstsein , welches dieselben fixirt, zugleich und zusammen
erfasst, zu Stande kommen kann. . Noch entschiedener
beweist dies die Thatsache, dass auch bei der Auffassung
innerer Zustände Unwahrheit und Schein möglich ist, und in
einigen Hinsichten sogar regelmässig eintritt . Ein Beispiel
davon liefert die Localisation unserer Gefühle. Ich glaube
oder scheine . einen Schmerz im Fusse., oder im Zahne, oder
in der Spitze des Fingers zu fühlen. Niemand wird meinen
Schmerz als etwas wirklich ausser mir Liegendes oder auch
nur als etwas mir Fremdes betrachten . Die Ursache desselben
kann wohl eine äussere und fremde sein, aber das Gefühl
selbst ist das Eigenste und Innerste, was wir überhaupt in
_______
*) Th . Brown glaubte umgekehrt, in der Unterscheidung des innerenGefühls
von der Erkenntniss desselben einen Widerspruch zu sehen :
To suppose the mind to exist in two different states, in the same mo
ment, is a manifest absurdity", sagt er und es würde in der That eine
offenbare Absurdität impliciren, wenn "mind", wie Brown es nimmt,
eine einfache Seelensubstanz wäre . Aber die Annahme einer solchen kann
überhaupt mit den Thatsachen des Bewusstseins nicht und am aller-
wenigsten mit der Voraussetzung der Identität des Wissen den und des
Gewussten in Einklang gebracht werden.



58
Erstes Buch. Zweites Kapitel.

uns antreffen können. Wenn also der gefühlte Schmerz nicht
selbst ausser mir liegt, was bedeutet es, dass er mir im
Zahne oder im Fusse zu liegen scheint? Er wird nur so vorgestellt.*)
Aber wenn der. Schmerz selbst und die Vorstellung
desselben unmittelbar eins ist, dann gibt es ja keinen
Unterschied zwischen dem , was er ist, und dem , als was er
vorgestellt wird. Doch ich werde nicht ausführlich wiederholen,
was ich über die Möglichkeit der Unwahrheit gesagt
habe. Unwahrheit gibt es nur da, wo die Vorstellung mit
ihrem Gegenstande nicht übereinstimmt, also nothwendig von
diesem verschieden ist. Es ist aber Thatsache , dass die Erkenntniss
unserer selbst und unserer inneren Zustände in jeder
Hinsicht dem Irrthum ebenso sehr unterworfen ist, wie jede
andere Erkenntniss, oder noch mehr. Von jeher erscholl dem
Menschen der Ruf »Erkenne dich selbst« , ohne dass er je
erfüllt wäre, und es gibt dennoch Denker, welche ernstlich
glauben , dass in uns Erkenntniss und Gegenstand unmiftelbar
eins seien. Wo' gibt es denn mehr Meinungsverschiedenheit,
mehr Schwanken und Unklarheit als gerade in der
Psychologie, der Wissenschaft, in welcher die Erkenntniss
und ihr Object ganz und gar ununterscheidbar sein sollen
Alle anderen Wissenschaften . sind ja mündig geworden, während
diese noch immer in den Windeln liegt. Würde wohl.
sonst noch Gelegenheit da sein , über die fundamentalsten
Punkte im Wesen des Ich zu streiten ?
Das Merkwürdigste an der Sache ist, dass diese Denker,
Hamilton, Stuart Mill und Andere, welche behaupten, dass
Erkennendes und Erkanntes im Ich unmittelbar und ununter
scheidbar eins seien, zugleich mit grosser Entschiedenheit die
Lehre von der Relativität alles Wissens festhalten, ja dieselbe
für die Hauptlehre der Philosophie erklären. Wo aber
das Wissen und der Gegenstand des Wissens unmittelbar eins
_______
*)Amputirte glauben oft einen Schmerz in dem fehlenden Gliede zu
fühlen .



59
Die Natur der Vorstellung .

sind , - da kann es ja gar keine . Relation beider, mithin auch
keine Relativität des Wissens geben. -Das Wissen des Ich
von sich selber und das Dasein des Ich überhaupt würde
nach dieser Voraussetzung kein relatives, sondern ein
abso-lutessein.Dennzu.einerRelationgehörendochnothwendig
wenigstens zwei Dinge, zwischen denen dieselbe Statt findet.*)

5. Resumirung der vorhergehenden Betrachtungen.

Unter einer Empfindung versteht man einen. im Bewusstsein
vorhandenen Inhalt, welcher keine innere Bziehung auf
Dinge ausserhalb des Bewusstseins, keine Affirmation über
_______
*) Uebrigens hat Stuart Mill an einigen Stellen den Unterschied von
Wissendem und von Gewusstem auch in der Selbsterkenntniss des Ich
sehr wohl eingesehen und - kräftig behauptet. So sagt er auf S . 405
seines Werkes An Examination of Sir W. Hamilton's Philosophy
(London, 1867) : Der wahre (real) Gegenstand des Glaubens ist nicht
der Begriff oder irgend eine Relation des- Begriffs, sondern die gedachte
(conceived) Thatsache. Die Thatsache braucht nicht ein äusseres Factum
zu sein, es kann auch eine Thatsache der inneren oder mentalen
Erfahrung sein. Aber selbst dann ist die Thatsache ein Ding, und der
Begriff derselben ein anderes Ding, und das Urtheil betrifft die Thatsache,
nicht den Begriff." Ja, Mill behauptet sogar, dass das Bewusstsein
des Ich von sich selber gar nicht einmal ein ursprüngliches und
un-mittelbaressei,sondern selbsterschlossen, im Laufe der Zeit erworben
werden müsse . Dass hier ein widersprach obwaltet, ist offenbar und
man muss Mill die Gerechtigkeit widerfahren lassen, dass er diesen
Widerspruch nicht übersehen hat. Auf Seite 242 des oben citirten Werkes
sagt er, dass das Ich (Mind or Ego) zwar eine Reihe von Gefühlen
(feelings) sei, aber eine Reihe, welche ihrer selbst, als vergangener und
zukünftiger bewusst ist, und wir sind zu der Alternative gedrängt, entweder
zu' glauben, dass das Ich etwas Verschiedenes sei von einer Reihe
der Gefühle oder der Möglichkeiten derselben, oder die Paradoxie anzunehmen,
dass etwas, das ex hypothesi nichts als . eine Reihe von Gefühlen
ist, seiner selbst als einer einer Reihe bewusst sein könne." -Etwas
. unten fügt er hinzu, dass die Schwierigkeit hier möglicherweise
nicht in irgend einer Theorie des Factums sondern in dem Factuum
selbst liegt.



60
Erstes Buch . Zweites Kapitel.

dergleichen Dinge enthält. Solcher Art ist die pure Empfindung
einer Farbe, eines Tons, eines Geschmacks, eines Geruchs und
dgl . Unter einer Vorstellung dagegen versteht . man einen
im Bewusstsein vorhandenen Inhalt, welcher die Affirmation
von Dingen ausser sich, nämlich den Glauben an das objective
Dasein oder Gewesensein des in ihm Vorgestellten enthält.
Solcher Art ist die Vorstellung der Farbe als einer Eigenschaft
gesehener Dinge, die Erinnerung an unsere eignen vergangenen
Erlebnisse und Aehnliches . Es fragt sich nun, ob die
Empfindung unter irgend welchen Umständen zur Vorstellung
werden kann, d. h. ob ein Gegenstand, der ursprünglich, seinem
eignen Wesen nach keine Affirmation über andere Gegenstände,
keinen Glauben an deren Dasein enthält, durch irgend welche
äussere Einwirkung dahin gebracht werden kann, diesen Glauben
in sich zu erzeugen? Die Noologisten sagen, dass dieses
unmöglich ist, dass der den Vorstellungen innewohnende Glaube
an Gegenstände etwas schlechthin Ursprüngliches und Eigenartiges
ist, was kein Analogon in der ganzen Welt der Gegenstände
findet und auch keinen Grund in derselben haben kann.
Die Empiristen behaupten das Gegentheil. Es liegt also den
Empiristen ob, zu zeigen, wie Glaube und Unglaube und überhaupt
-alle intellectuellen und logischen Functionen aus nichterkennenden,
physischen, objectiven Vorgängen und Elementen
entstehen. Kein Empirist hat aber auch nur den Versuch gemacht,
dies wirklich zu zeigen ; sie behaupten stets, dass die
Vorstellung etwas Abgeleitetes sei, bleiben aber den Beweis
davon immer schuldig. Die eigenthümliche Beziehung auf Gegenstände;
welche das unterscheidende Wesen der Vorstellung
ausmacht, setzen sie , implicite voraus, während sie sie ostensibel
leugnen . Hume hat einen schwachen Anlauf genommen,
den Glauben als die Folge der Association der Vorstellungen
darzustellen,*) musste aber denselben zu diesem Behufe für
_______
*) Und zwar wohlgemerkt, nur den Glauben an einen Zusammenhang
der Objecte unter einander, nicht den Glauben an deren Dasein



61
Die Natur der Vorstellung.

ein mehr als gewöhnlich »lebhaftes Gefühl« erklären, was so
viel heisst, als die Sache gänzlich verfehlen, was auch Hume
selbst nicht ganz verborgen blieb . Der Glaube ist ja offenbar
gar kein Gefühl, da er sich auf abwesende, ja gar nicht
existirende - vergangene oder zukünftige - Gefühle und
Gegenstände beziehen kann. Bei zwei Empiristen, Herbart
und H. Spencer findet man wenigstens die Absicht, die
Er-kenntnissselbstzuerklären;aberbeidezeigen,dasssieauch
nicht das leiseste Bewusstsein davon haben, um was es sich
eigentlich handelt. Herbart glaubte genug gethan zu haben,
wenn er in den inneren Zuständen des Subjects eine gewisse
Abbildung, wenn nicht der Qualitäten, doch wenigstens der
Verhältnisse der vorausgesetzten äusseren »realen Wesen«
nachwiese.") Und ebenso glaubt H. Spencer, dass das Wissen
erklärt sei, wenn man eine Correspondenz zwischen den Vorgängen
in der äusseren Welt und den Vorgängen im Bewusstsein
zeigt. ") Allein wenn auch eine solche Correspondenz
ohne alle apriorischen Bedingungen möglich wäre, was, wie
später gezeigt wird, nicht der Fall ist, so wäre dadurch das
Wissen, die Erkenntniss, das Wesen der Vorstellung noch
gar nicht begründet und begreiflich gemacht. Eine Correspondenz
besteht allemal zwischen der Ursache und ihrer Wirkung,
wenn. auf alle Veränderungen der Ursache nach einem beständigen
Gesetze entsprechende Veränderungen der Wirkung
folgen und kein störender Einfluss .dazwischen tritt.***)
_______
selbst, welchen Hume für unerklärlich hielt. Allein gerade auf diesen
letzteren kommt es an.
*) Man vergleiche das Kapitel Von der Möglichkeit des Wissens"
in dem z . Bande seiner Allg . Melaphysix.
*') Man vergleiche seine Prine. of Psych. vol. I ., parts III. und IV.,
betitelt General Synthesis und Special Synthesis.
***) Am besten veranschaulichen dieses Verhältniss die Apparate,
welche die Variationen der Temperatur, des barometrischen Luftdrucks
werden hier u. ähnl. selbst registriren. Alle Variationen der Ursache
von entsprechenden Veränderungen der Wirkung beleitet, welche letzte- 



62
Erstes Buch. Zweites Kapitel.

Die Wirkung kann sogar in gewisser Hinsicht eine genaue
Abbildung der Ursache sein, wie das Bild im Spiegel oder ein
photographisches Bild. Nichtsdestoweniger hat sie keine Spur
von einer Vorstellung in sich. Die gewöhnliche Wirkungperci-pirtnichtihreUrsache,dasphotographischeBildglaubtnicht
an das Dasein seines Originals. Die Empiristen müssen zeigen,
wie *es kommt, dass einige Wirkungen ihre Ursachen vorstellen,
während andere es nicht thun. Sie müssen zeigen,
durch welche Einwirkung und Bearbeitung ein Gegenstand
oder ein objectiver Vorgang - es sei eine Empfindung oder
etwas Anderes - dahin gebracht werden kann, dass er das
Dasein anderer Gegenstände ausser sich affirmirt (nach der.
Ausdrucksweise der Metaphysiker : setzt, ponirt) oder negirt,
vergleicht, urtheilt und Schlüsse zieht. Was der logischen
Affirmation in der Wirklichkeit entspricht, ist das blosse
Dasein von Gegenständen und Verhältnissen ; was der logischen
Negation in der Wirklichkeit entspricht, ist das blosse Nichtsein,
die Abwesenheit von Gegenständen und Verhältnissen.
Man muss nun zeigen, wie das blosse Dasein eines Gegenstandes
sich zur Bejahung an derer Gegenstände, zum Glauben
an das Dasein dieser Gegenstände steigern kann. Ja, man
muss den noch verzweifelteren Versuch machen, zu zeigen wie
das Dasein eines Inhalts im Subject zur Negation
vonGegen-ständen,zumBewusstsein,dassetwasnichtexistirt,verwendet
werden kann, wie z. B ein Gegenwärtiges zum Bewusstsein
eines Vergangenen als solchen sich umwandeln kann.
Bei der geringsten Reflexion wird jedem einigermassen
denkenden und nicht voreingenommenen Menschen die vollständige
Unmöglichkeit klar, die logischen Functionen und
Eigenschaften der Vorstellung aus objectiven, physischen*)
_______
ren aber unverwischbar fixirt werden und auf diese Weise die Constatirung
der ersteren auch nach ihrem Verlaufe möglich machen.
*) Ich bemerke hier ausdrücklich ; dass ich das Wort physisch"
nicht als gleichbedeutend mit materiell" gebrauche, sondern um alles
Objective überhaupt zu bezeichnen, im Gegensatze zum Logischen, wel-



63
Die Natur der Vorstellung .

Vorgängen abzuleiten, von welchen sie dem ganzen Wesen
nach 'verschieden sind. Nur ist gerade in diesem Punkte die
Voreingenommenheit bei Manchen ganz unüberwindlich und
man sieht das Resultat davon. Es kann in der That keinen
grösseren Contrast geben, als den zwischen der ängstlichen
Genauigkeit . und Sorgfalt, mit welcher die Thatsachen der
äusseren Erfahrung untersucht werden und deren wahre Natur
constatirt wird, und der Sorglosigkeit, die bei der Untersuchung
der Thatsachen der inneren Erfahrung herrscht, und
infolge deren die Natur eines für die gesammte philosophische
Betrachtung so höchst wichtigen Datums, wie die Vorstellung,
noch nicht festgestellt ist. Weil die Anhänger des Apriori
sich alle möglichen Erfindungen erlaubt, weil sie die ganze
Welt aus ihren Voraussetzungen deducirt haben, will man jetzt
von dem Vorhandensein apriorischer Elemente der Erkenntniss
überhaupt nichts wissen . Es ist nun einmal ein Gesetz
des menschlichen Geistes, von einem Extrem immer zum
anderen, entgegengesetzten getrieben zu werden . Aber, wie
die Franzosen sagen, les extremes se touchent, und so sehen
wir denn, dass die Empiristen, welche vor den leeren Deutefeiender
Metaphysiker so grosse Scheu haben, bei der Erklärung-
der meisten Thatsachen des Bewusstseins selbst in
leere Deuteleien verfallen. Die in der Philosophie leider so
oft angewandte traurige Kunst, aus Nichts 'Etwas zu machen,
wird von den Empiristen am wackersten ausgeübt, wie wir
es hier des öfteren sehen werden.
Thatsache ist dieses
1) Die Vorstellung enthält eine wesentliche Beziehung auf
Gegenstände, eine Beziehung ganz eigenthümlicher Art, wie sie
sonst nirgends vorkommt. Die Vorstellung trägt nämlich ihren
Gegenstand selbst in sich, aber nur ideell, d. h. sie enthält
_______
ches nur in den Thatsachen und den Eigenschaften des Vorstellens Platz
hat. Daher nenne ich die Empfindungen physische Vorgänge oder Gegenstände
und die Gesetze derselben physische Gesetze, weil sie von anderen
physischen Gesetzen nicht verschieden sind.



64
Erstes Buch. Zweites Kapitel.

nicht allein eine Wiederholung gleichsam der Beschaffenheit
des Gegenstandes, sondern auch den Glauben an dessen reales
Dasein, die Affirmation desselben ausser sich.
2) Trotzdem dass sie den Gegenstand genau reproduciren
kann, ist doch die Vorstellung weit davon entfernt, eine blosse
Abbildung desselben zu sein, sondern bleibt vielmehr an sich
von allen seinen Eigenschaften unberührt, participirt in keiner
Weise an diesen . So ist, -wie schon früher erwähnt worden,
die Vorstellung des Successiven nicht selbst successiv,
die des Viereckigen und räumlich Ausgedehnten selbst nicht
viereckig und nicht ausgedehnt, die Vorstellung des Schmerzes
ist selbst nicht schmerzhaft, die der Sünde nicht sündhaft
u. s. w.
3) Die Vorstellung ist in ihrem eigenthümlichen Wesen
ein ursprüngliches Factum , wie die Farbe und der Ton. Die
Eigenschaften der Vorstellung . können aus keinen gegebenen
Eigenschaften und Verhältnissen existirender und uns bekannter
Gegenstände abgeleitet werden. Dies bedeutet Leibnizens
Zusatz Nisi intellectus ipse zu dem bekannten Dictum Nihil
in intellectu, quoll non in sensu. Dieser- Zusatz besagt, dass
der Intellect (die Vorstellung) zwar keinen anderen Inhalt
haben kann als den seiner unmittelbaren Objecte, d: h. der
Empfindungen, dass aber in demselben dieser Inhalt auf eine
ganz eigenthümliche Art und Weise existirt, welche aus keiner
Einwirkung oder Zusammensetzung der Empfindungen entstehen
kann.*)
_______
Herr Adolf Ilorwicz, der die Erkenntnisslehre sammt der Psychologie
auf die Physiologie zu gründen sich bemüht und durch meine
obigen Erörterungen, wie es scheint, unangenehm berührt worden ist , hat
in seinem Werke Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage
(2. Theil, "h. llälfte, 1875) über dieselben ein Verdammungsurtheil
gefällt. Nach ihm behaupte ich die Ursprünglichkeit des Glaubens in
der Vorstellung auf keinen besseren Grund hin, als auf den negativ
kritischen Nachweis, dass es den Empiristen und Sensualisten bis jezt nicht
gelungen sei, aus der Empfindung die Erkenntniss abzuleiten" (S. 55-6)



65
Die Natur der Vorstellung.
 


6. Prüfung der Lehre, welche die Empfindung in der Vor-
stellung aufgehen lässt.

Wenn zwei Dinge für eins gehalten werden, so kann
diese irrthümliche Auffassung zwei entgegengesetzte Richtungen
einschlagen. Jedes der beiden verwechselten Dinge
_______
Darauf erlaube ich mir Herrn H. in aller Ergebenheit zu bemerken, dass ich
meinen Satz aus ursprünglich nicht erkennenden Elementen kann nie Erkenntniss
hervorgehen, oder mit anderen Worten, in einem blossen Object
kann nie der Glaube an ein anderes Object entstehen" gar . nicht zu beweisen
brauche, ebenso wenig wie ich zu beweisen brauche, dass aus einem Grashalm
nie ein Kameel erwachsen oder dass ein Kreis nie viereckig sein kann.
Dies versteht sich vielmehr von selbst. Diejenigen, welche das Gegentheil
behaupten, müssen für ihre Behauptung Beweise bringen, und meine Hindeu-.
tung auf die totale Unzulänglichkeit aller derartigen versuchten Beweise ist
bloss eine beiläufige Bestätigung meines Satzes, nichts mehr, da der Satz.
nichts Weiteres bedarf. Auf diese Kritik hin war ich nun gespannt zu sehen,
was Herr Horwicz selbst Positives über den verhandelten Punkt vorbringen
wird, und habe wirklich den folgenden Aufschluss darüber gefunden
: Wenn jeder Erkenntnissakt seinerseits wieder Erkenntniss
voraussetzt, wie ist dann ein Anfang des Erkennens überhaupt denkbar?
Doch nur so, wenn die Erkenntniss aufgefasst wird als allmählige Umformung
einer anderen Seelenthätigkeit, die nur scheinbar etwas Anderes
ist. Den Anfang aller Seelenthätigkeit bildet die. Empfindung, diese ist
der erste, früheste Bewusstseinsakt . Sollen wir nun nicht der theoretischen
Erkenntniss zu Liebe neue Seelenthätigkeiteneinführen, so bleibt
Nichts übrig als die Annahme, dass bereits die Empfindung Erkenntniss
sei, wenn auch noch keine theoretische" (p. 116-7). Kritik zu üben ist
hier unnöthig. Von dem grossen und so wichtigen Unterschiede zwischen dem
Logischen und dem Physischen oder Objectiven, welchen ich hier möglichst
ins Licht zu stellen suche, hat Herrn H . ebenso wie von den anderen
Lehren meines Werkes offenbar gar nichts verstanden . Daraus
mache ich ihm nun keinen Vorwurf. Denn es kann allerdings nicht Jedermann
diese Lehren verstehen, trotzdem dass sie klar und einfach genug
sind . Aber es hat mich befremdet, zu sehen, dass Herr H. in seiner
kurzen Auslassung über mein Werk nicht weniger als fünf factisch unwahre
Aussagen vorgebracht hat. Es ist traurig, solchen Dingen bei
einem Schriftsteller zu begegnen, der auf einige Respectabilität Anspruch
macht.



 66
Erstes Buch. . zweites Kapitel.

kann nämlich seinerseits als das einzige und wesentliche in
den Vordergrund gestellt werden ; das andere wird dann als
eine blosse Function desselben gefasst, als etwas in ihm Eingeschlossenes
oder' Implicirtes . So geschieht es auch in den
Theorien über die inneren Elemente der- Erkenntniss. Es
wird entweder die Empfindung (die Sensation) als das Einzige
und Ursprüngliche anerkannt, und die Vorstellung wird dann
als eine blosse Modification derselben gefasst. Es kann aber
" auch umgekehrt die Vorstellung allein anerkannt und die Empfindung
für ein blosses Moment derselben gehalten werden .
Die oben citirten Denker haben - nur Sinn für das Individuelle,
für das Objective, das stoffliche Element der Erkenntniss ;
es gibt daher nach ihnen nur Empfindungen und Reproductionen
der Empfindungen , welche den bloss objectiven, physischen
Causalgesetzen der Association unterworfen sind. Kant
repräseritirt die entgegengesetzte Richtung ; er hatte nur Sinn
für das Allgemeine, das Subjective, das vorstellende Element
der Erkenntniss ; er liess daher die Empfindung in der
Vor-stellungaufgehenundkanntenurapriorischeGesetzedesErkennens.
In ihrem Gegensatze beleuchten diese Theorien ihre
'beiderseitige Unrichtigkeit am besten.
Die ungenaue Ausdrucksweise und die vielen Widersprüche
in den Schriften dieses grossen Denkers lassen es schwer erscheinen,
was man für seine eigentliche Ansicht zu halten hat ;
doch darf man bestimmt behaupten, dass Kant ausserhalb
der Vorstellungen keinen denselben entsprechenden Inhalt im
Ich anerkannte. - Er hat zwar eine Seite der Receptivität im
Erkennen angenommen, welche er Sinnlichkeit nannte ; aber
diese Sinnlichkeit soll nach ihm , bloss »die
Fähigkeit,Vor-stellungendurch dieArt,, wiewir vondenGegenständenafficirt
werden, zu bekommen« sein. (K. d. r. V., S. 71 .) Er dachte
sich also, dass Vorstellungen unmittelbar durch die äusseren
Gegenstände afficirt . oder auch bewirkt werden . Einen Unterschied
zwischen Vorstellung und Empfindung kannte er nicht.
So heisst es bei ihm : >Die Wirkung eines Gegenstandes auf



67
Die Natur der Vorstellung

die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben afficirt
werden, 'heisst Empfindung« (Eb.). An einer anderen Stelle
wird die Empfindung ebenfalls als eine species des genas
Vorstellung angeführt (Eb. S. 308). Kurz, Kant hat unter
Empfindung den Inhalt, den_ Stoff oder wie er es nannte, die
Materie der Vorstellungen verstanden. Dass auch die bloss
reproducirten Gedanken und die Erinnerungen früherer . Eindrücke
ebenfalls nicht ohne Inhalt sein können und doch von
den actuellen Eindrücken sehr verschieden sind, das scheint
Kant nicht beachtet zu haben. Nach ihm sind also die Vorstellungen
zwar durch wirkliche Gegenstände bewirkt, aber
diesen letzteren durchaus nicht ähnlich. So weit ist seine
Ansicht auch 'die der Sensualisten. Aber Kant hat ein ursprüngliches
Vermögen des Subjects, Gegenstände vorzustellen,
angenommen . Nur sollen nach Kant diese vorgestellten und
erkannten Gegenstände . nicht etwa die wirklichen .Gegenstände
sein, welche die Vorstellungen verursachen, sondern etwas
ganz Anderes . Da Kant in diesem Punkte sich selber widersprochen
hat, so muss man genau constatiren, dass dieses und
nichts Anderes seine fundamentale Ansicht war. Die erkannten
Gegenstände heissen bei ihm überall Erscheinungen, Erscheinungen
heissen aber wiederum stets Vorstellungen. Das
erkannte Object ist für Kant der blosse Gedanke von Etwas,
in welchem die verschiedenen Vorstellungen mit einander verbunden
werden. So sagt er denn an einer Stelle ausdrücklich,
dass Vorstellungen, »sofern sie nach Gesetzen der Einheit
der Erfahrung verknüpft und bestimmbar sind, Gegenstände
heissen« (Eb. S. 409). Auch an einer anderen Stelle steht
die folgende ziemlich deutliche Aeusserung : »Wenn wir untersuchen,
was denn die Beziehung auf einen Gegenstand unseren
Vorstellungen für eine neue Beschaffenheit gebe und welches
die Dignität sei, die sie dadurch erhalten, so finden wir, dass
sie nichts weiter thue, als die Verbindung der Vorstellungen
auf eine gewisse Art nothwendig zu machen und sie einer
Regel zu unterwerfen« (Eb . S. 214). Uebrigens liegt diese



68
Erstes Buch. Zweites Kapitel.

Annahme oder Auffassung seiner ganzen sogenannten Deduction
der Kategorien und allen den vermeintlichen »Beweisen« der
Grundsätze zu Grunde.
Es sollen also nach Kant sowohl . die objectiven Empfindungen
wie, Farben, Töne u. s. w.; als auch die Gefühle der
Lust und Unlust und andere innere Zustände einen dem er
kennenden Subjecte selbst eigenen Inhalt darstellen. Die objectiven
Empfindungen erscheinen uns nur deshalb als etwas
Fremdes, als ein Nicht-Ich, weil sie infolge einer apriorischen
Disposition des. Subjects im Raume vorgestellt, nach Aussen
projicirt werden. Aus diesem Grunde allein gehören sie .nach
Kant zu einem »äusseren Sinne«, welchem die Raumanschauung
eigen ist, ohne im geringsten etwas wirklich Aeusseres vor-zustellen.
Da nun nach Kant's Annahme die erkannten Gegenstände
nichts waren, als die eigenen Vorstellungen des Subjects, so
folgte daraus nothwendig, dass für ihn die Gesetze der er
kannten Welt nichts Anderes sein konnten, als die Gesetze
des erkennenden Subjects. In diesem Punkte stimmt Kant
ebenfalls mit den Sensualisten überein. Aber gerade an diesen
gemeinsamen Punkt knüpft sich der schärfste Gegensatz der
beiden Lehren. Denn nach den Sensualisten sind die Gesetze
des erkennenden Subjects selbst allein die objectiven, physischen,
aposteriorischen, dem erkannten Inhalte innewohnenden
Gesetze der Association ; Kant behauptete dagegen umgekehrt,
dass das Subject seine eigenen Gesetze der Natur a priori
vorschreibe und erklärte dieses gleich dadurch, dass die Natur
ja nirgendwo anders, als im Subjecte existire (Eb . S . 160-1,
auch S . 681) . Er sagt, dass »uns zwar die Materie aller Erscheinung
nur a posteriori gegeben, die Form derselben aber
müsse zu ihnen insgesammt im Gemüthe a priori bereit liegen
und dahero abgesondert von. aller Empfindung können betrachtet
werden« (Eb. S. 72) . Nicht allein also ignorirte Kant
vollkommen den Zusammenhang des reproducirten Inhalts der
Vorstellungen durch Association, obgleich diese schon von



69
Die Natur der Vorstellung.

Hunne Ziemlich ins Licht gestellt worden war, und hatte von
der Rolle, welche die Induction bei dem Zustandekommen der
Erkenntniss spielt, fast gär keine Ahnung ; - sondern er
dachte sich wunderbarer Weise sogar, dass die-Gesetze, nach
welchen unsere Empfindungen selbst in uns auftreten und
unter einander Zusammenhängen , und welche Zu erforschen
eben die Aufgabe der Naturwissenschaft ist, erst durch die
Begriffe und Functionen des Verstandes Zu Stande kommen.
Er hat Zwar manchmal das Bewusstsein gehabt, dass der Verstand
einen Zusammenhang in den Erscheinungen gar nicht
würde erkennen können, wenn in denselben keiner vorhanden
wäre*), und mehrmals auch gesagt, dass die empirischen Naturgesetze
nicht J priori aus dem Subjecte abgeleitet werden
können ; nichtsdestoweniger behauptete er aber steif und fest,
am auffallendsten in seiner Lehre von der Causalität, dass
alle Verbindung der Erscheinungen vom Subjecte komme.
Und doch liegt diesen Behauptungen Kant's eine richtige .
Ahnung Zu Grunde, welche nur von den verkehrten Zuthaten
befreit werden muss: Die Objecte (nämlich Zunächst die Em
pfindungen) stehen Zwar selbst unter einander in einem
Zusammenhange, welcher ihnen nicht von dem erkennenden
Subjecte verliehen werden kann ; allein sie können nicht verbunden
in das Bewusstsein des Subjects gelangen. Denn
wahrgenommen werden nur die einzelnen Empfindungen, nicht
aber die Verbindung derselben. Diese letztere muss erst erschlossen
werden. Dass dieser Schluss und die Erkenntniss
der Gegenstände überhaupt nicht ohne apriorische, dem Sub --
_______
*) So setzt Kant den Fall voraus, dass z. B. in der Reihenfolge
der Erscheinungen sich nichts darböte, was eine Regel der Synthesis an
die Hand gäbe und also dem Begriffe von Ursache und Wirkung ent
spräche, so dass mithin dieser Begriff also ganz leer-, nichtig und ohne
Bedeutung wäre" (Eb. S. 133) ; was in die gewöhnliche Sprache übersetzt
bedeutet, dass der Begriff der Causalität nichtig wäre, wenn uns in
der Erfahrung selbst keine regelmässigen, unveränderlichen Successionen
gegeben wären.



70
Erstes Buch. Zweites Kapitel.

jecte selbst ursprünglich eigene Gesetze und Bedingungen
möglich ist, das war es, worin Kant Recht hatte gegen die
Sensualisten, welche behaupten, dass alle Verbindung des Verschiedenen
im Bewusstsein und alle Erkenntniss überhaupt
durch blosse Association zu Stande komme. Hier zeigt es
sich gerade am deutlichsten, dass das Bewusstsein oder die
Erkenntniss der Gegenstände (nämlich der Empfindungen) etwas
von diesen selbst Unterschiedenes ist. Denn wäre in den Empfindungen
selbst auch die Erkenntniss oder das Bewusstsein
derselben gelegen, so brauchte ihr Zusammenhang nicht erst
erschlossen zu werden, da dieser ja nicht ausserhalb derselben
liegen kann.
Wir sehen also Folgendes . Nach Kant sind die von uns
erkannten Objecte nirgends ausserhalb unserer Vorstellungen
vorhanden. Nach den Sensualisten sind die Vorstellungen, die
wir von den Gegenständen haben, selbst Gegenstände, nämlich
gewisse innere Zustände (die Empfindungen), welche von Hause
aus keine Disposition . haben, andere Gegenstände vorzustellen . .
Kant's Ansicht führt, consequent gefasst, . zu' der Folgerung,
dass auf dem . Gebiete des erfahrungsmässigen Wissens überhauet
keine Unwahrheit, kein Irrthum, keine Nichtübereinstimmung
zwischen der Vorstellung und ihrem Gegenstande
möglich ist, da die Vorstellung überhaupt keinen Gegenstand
hat, mit dem sie verglichen werden und von dem sie abweichen
könnte . Die Ansicht der Sensualisten führt, consequent gedacht,
zu der Folgerung, dass wenigstens in der Erkenntniss,
die wir von uns selber haben, kein Irrthum, keine Nichtübereinstimmung
zwischen der Vorstellung und ihrem Gegen-
Stande möglich ist, da beide eins und dasselbe sein sollen .
Die Sensualisten können nicht zeigen, wie ein Gegenstand
dahin gebracht werden kann, andere Gegenstände vorzustellen.
Kant kann' umgekehrt nicht zeigen, wie es zu denken ist,
dass die Vorstellungen sich' auf Objecte beziehen, wahrend es
nach ihm keine Objecte gibt. Er glaubte dieser in der Natur
der Vorstellungen liegenden Forderung entsprechender Objecte



71
Die Natur der Vorstellung .

durch die Annahme von »Dingen an sich« Genüge zu thun,
welche von den Vorstellungen radical verschieden sind. Aber
die »Dinge an sich« sind nach Kant nicht -erkennbar, werden
also von unseren Vorstellungen factisch gar nicht vorgestellt,
entsprechen folglich denselben in keiner Weise. Es war ein
offenbares . Missverständniss ; was Kant veranlasst hat, zu behaupten,
das eigentliche Object unserer Erkenntnisse sei ein
X, ein unbestimmtes und unbekanntes Etwas, das sich jeder
näheren Präcisirung entziehe.
Die unmittelbaren Objecte der Vorstellungen sind die Empfindungen
. Es kann wohl einzelne Vorstellungen geben,
welchen keine Gegenstände in der Wirklichkeit entsprechen,
aber die Vorstellung Überhaupt kann ohne solche nicht gedacht
werden. Denn ihr Wesen besteht eben darin, dass sie
selbst, an sich nicht das ist, was sie vorstellt, darin, dass sie
Affirmationen über andere, von ihr unterschiedene Gegenstände
enthält. Wenn die Vorstellung überhaupt keinen Gegenstand
hätte, so würde sie eben nichts vorstellen, also keine Vorstellung,
sondern selbst ein Gegenstand sein.
Man muss sich aber hüten, auch nicht in das entgegengesetzte
Extrem zu verfallen, wie es manchem wackeren .Denker,
der sich einen Realisten nennt, widerfahren ist. Sobald man
nämlich einsieht, dass das Dasein von Vorstellungen im Allgemeinen
das Dasein auch entsprechender Gegenstände verbürgt,
geht man bisweilen sogleich zu der Behauptung über, dass es
das Dasein entsprechender äusserer Gegenstände im Raume
verbürge. Dieses zu behaupten haben wir aber keinen Grund
. und kein Recht. Denn die Vorstellung bezeugt unmittelbar
nur ausser ihr, der Vorstellung, liegende Gegenstände. Allein
»ausserhalb der Vorstellung« heisst noch nicht : »ausserhalb
unseres Ich«, und noch weniger bedeutet es ein reales Dasein
im Raume. Was wirklich ausser uns liegt, das können wir
doch nicht wahrnehmen und können auch dessen nicht unmittelbar
gewiss sein. Sowohl Behauptung, wie Verneinung
sind hier Sache der Schlussfolgerung und können nicht an



72
Erstes Buch. Zweites Kapitel.

das unmittelbare Zeugniss des Bewusstseins oder der Vor-'
stellung appelliren. Unmittelbar gewiss ist nur, dass bei jeder
Perception oder Wahrnehmung der Vorstellung eine gegenwärtige
Empfindung ausser ihr entspricht, und dass sich in
der Vorstellung überhaupt kein Inhalt vorfinden kann, welcher
nicht in Empfindungen vorhanden gewesen wäre. Der ursprüngliche
. und über allen Zweifel erhabene Realismus ist
also nur der Glaube, dass die Objecte unserer Vorstellungen
real, d. h. von unseren Vorstellungen selbst verschieden, nicht
aber dass diese Objecte Körper oder überhaupt äussere Dinge
im gewöhnlichen Sinne sind .

7. Von dem erkennenden Subjecte.

Bis jetzt habe ich die Vorstellung, um die Betrachtung
nicht zu verwickeln, stets als etwas Einzelnes aufgeführt, welches
nur zu einem Gegenstande in Beziehung steht. Es bleibt noch
zu untersuchen übrig, ob eine Vorstellung wirklich - vereinzelt
stehen kann, oder ob sie nicht vielmehr Moment eines Anderen,
Allgemeineren ist. In manchen Fällen ist das letztere ganz
klar. Es kann zwei Vorstellungen von zwei Stühlen geben ;
wenn aber die Stühle mit einander verglichen werden sollen,
so müssen sie nothwendig in einer Vorstellung zusammengefasst
werden. Die Stühle selbst werden freilich nicht zusammengefasst,
denn sie bleiben ja ausser der Vorstellung und von dieser
unberührt. Und nicht einmal die Eindrücke, welche von den
Stühlen herrühren, werden zusammengefasst ; denn diese können
nur nacheinander, nie zugleich sich dem Bewusstsein oder der
Vorstellung darbieten. Nur die Vorstellung selbst kann infolge
der Reproductionsfähigkeit ihres Inhalts, sich Verschiedenes
zugleich gegenwärtig halten. In der Vorstellung kann also
ein verschiedener Inhalt verglichen werden . Aber sie ist dann
eben nur eine Vorstellung oder ein Bewusstsein, der betreffende
Inhalt mag so mannigfach sein, wie er will, und auf noch so
viele Gegenstände bezogen werden . Ebensowenig kann eine



 73
Die Natur der Vorstellung .

einzelne Vorstellung Schlussfolgerungen vollziehen. Denn In
einer Schlussfolgerung geht entweder eine Affirmation aus anderen
hervor, oder sie wird durch andere negirt oder eingeschränkt.
Dieses muss offenbar in einem Etwas statt finden,
in welchem verschiedene Affirmationen verglichen und abgewogen
werden können . Und wenn wir auch sagten, dass eine
einzelne Vorstellung Affirmationen, Urtheile über einen Gegenstand
implicirt oder enthält, so ist doch thatsächlich auch dieser
Gegenstand stets ein seht mannigfaltiges Ding (wie ein Stuhl,
ein Haus, ein Mensch u . s. w.), in dessen Erkenntniss also nothwendig
mehrere Affirmationen verglichen und verbunden sind.
Es gibt in der That gar kein Inhalts-Element im Erkennen,
welches nicht mit anderen Elementen verbunden wäre. Daraus
folgt, dass es einzelne Vorstellungen eigentlich gar nicht gibt
sondern nur einen einzelnen (individuellen) Inhalt derselben
und dass die Vorstellungen sich nur durch ihren Inhalt von
einander unterscheiden und einen Anschein der Individualität
erhalten. Das eigentlich Vorstellende, Vergleichende, Urtheilende
. und Schlussfolgernde ist also nothwendig eine Einheit, welche
einen mannigfaltigen Inhalt in sich fasst und alle Operationen,
welche wir bei der Vorstellung constatirten, an demselben vollführt.
Diese Einheit nennt man das erkennende und denkende
Subject.
Eine unmittelbar gewisse Thatsache ist das zweifache
Bewusstsein seiner selbst und der äusseren Welt. Wir
glauben uns selber und andere ausser uns existirende Dinge
zu erkennen ; wir unterscheiden in dem gegebenen Inhalte
einen uns eigenen und einen uns fremden Theil, welche
als das Innere und das Aeussere einander gegenüberstehen.
Gerade an dieser Thatsache stellt sich die Einheit des Subjects
am klarsten heraus. Eigenes und Fremdes, ebenso wie Inneres
und Aeusseres, sind nämlich blosse Relation
sbegriffe,welche einegewisseBeziehungaufeinegemeinsameEinheit
ausdrücken. Zwei Dinge können sich nicht unmittelbar, an
sich wie Eigenes und Fremdes oder wie Inneres und Aeusseres



74
Erstes Buch. Zweites Kapitel.

von einander - unterscheiden, sondern nur in Rücksicht auf
ein drittes Ding, welchem eben das eine eigen, das andere
fremd, das eine innerlich, das andere äusserlich ist. . Auch
wissen wir, dass die Erkenntniss oder das Bewusstsein des
Unterschiedes zweier Dinge etwas von diesen Dingen selbst
Verschiedenes ist. Hier ist nun offenbar der Fall, dass eben
das Bewusstsein oder das Subject, welches Eigenes und Fremdes
oder Inneres und Aeusseres an dem Gegebenen unterscheidet,
auch selbst den Beziehungspunkt für diese Unter
scheidung abgibt. Wenn ich in dem gegebenen Inhalte etwas
als mir eigen erkenne, so beziehe ich (der Erkennende) es
offenbar auf mich selber, und ebenso wenn ich etwas als mir
fremd erkenne, denn dann negire ich es eben von mir selber.
Es werden von uns bekanntlich die Gefühle .der Lust und
Unlust als uns eigene und innere .Zustände erkannt, dagegen
die objectiven Empfindungen (wie Farben, Töne u. s. w.) als
etwas uns Fremdes und Aeusseres. Hätte' es ein erkennendes
Subject. gegeben, welches umbekehrt die objectiven Empfindungen
als sich eigen, die Gefühle dagegen als sich fremd
erkennen müsste, so würden bei diesem Subjecte Farben' und
ähnliche Dinge für das Innere, Lust und Unlust für das
Aeussere gelten: Da nun aber Alles, was wir erkennen, entweder
als 'etwas . Inneres oder als etwas Aeusseres erkannt
wird, so ist das erkennende Subject in uns die gemeinsame
und stets dieselbe Einheit, welche nicht nur das gegenwärtig
Vorhandene, so verschieden und vielfach es auch sei, sondern
mit demselben. auch das Vergangene und das Zukünftige im
Bewusstsein vereinigt. Es ist möglich, dass wir uns von dieser
Einheit, wie von der Einheit des Ich überhaupt, . nie einen
genügenden Begriff werden machen können ; aber wir dürfen
deshalb diese Einheit nicht leugnen. Denn die Einheit des
erkennenden Subjects leugnen, heisst ja, sich selber leugnen,
und dies ist, gelinde gesagt, das. Wunderlichste, was einem
denkenden Menschen je passiren kann .
Die Vorstellungen sind also nicht gleich geistigen oder



75
Die Natur der Vorstellung.

psychischen Atomen, die sich unmittelbar bekämpfen und zusammensetzen,
sondern sie sind Acte des erkennenden Subjects.
Unter Activität oder Spontaneität versteht man den ursächlichen
Antheil einer Einheit -an einem vielfachen Geschehen ;
ein solcher ist nun in den Urtheilen; den Schlüssen und allen
Gestaltungen des Vorstellens und Erkennens nachweisbar. Man
muss folglich begreifen, dass die Gesetze des vorstellenden
und erkennenden Subjects selbst von den Gesetzen des Inhalts,
welcher im Subjecte vorkommt, verschieden sind .
Soweit der . Inhalt der Vorstellung durch gegenwärtige
Empfindungen bestimmt wird, ist sein Auftreten natürlich den
Gesetzen der Empfindungen unterworfen, deren Mittelpunkt
ausserhalb des individuellen Ich liegt und von dem erkennenden
Subjecte vollkommen' unabhängig ist. Der reproducirte
Inhalt der Vorstellungen dagegen erscheint und verschwindet
nach Gesetzen des Zusammenhangs, den er erst in dem erkennenden
Subjecte selbst, nämlich infolge der Association
der Vorstellungen , eingegangen hat. Aber weder die eine
noch die andere Art dieser Gesetze können die erkennende
Function , deren eigenthümliche Beziehung auf die Gegenstände
bedingen . Zu den gegenwärtig vorhandenen Empfindungen
steht der ihnen entsprechende Inhalt der Vorstellung in . dem
-.Verhältnisse einer Wirkung zu ihrer Ursache oder eines Abbilds
zu dessen Urbilde. Käme nichts zu diesem Verhältnisse
hinzu, so würde auch nichts als eine blosse Wiederholung der
Gegenstände in dem Vorstellen zu Stande- kommen. Bei dem
reproducirten Inhalte , bei der blossen Erinnerung fällt aber
selbst dieses causale und abbildliche Verhältniss weg und das
innerhalb der Vorstellung Liegende bleibt ohne alle Beziehung
zu den Gegenständen draussen. Die infolge der Association
innerhalb des Subjects erst entstandenen Gesetze können natürlich
je nach der individuellen Beschaffenheit des Subjects und
nach den Umständen, in welche dasselbe gestellt ist, verschieden
ausfallen, was eine Uebereinstimmung mit den Gegenständen
nicht. allein nicht verbürgt, . sondern geradezu ver-



7 6
Erstes Buch. Zweites Kapitel.

hindert. Alle Affirmationen über Gegenstände, welche sich
an den vorbestellten Inhalt knüpfen, . sind daher nicht etwas
diesem Inhalte selbst Inhärirendes, sondern sind vielmehr Acte
des Subjects, welches bei aller Verschiedenheit des Vorgestellten
dasselbe ist und bleibt. Glaube und Unglaube, Zweifel
und Gewissheit sind daher nicht Zustände und Bestimmungen
des vorgestellten Inhalts, sondern Zustände des vorstellenden
Subjects. Welcher Art oder Natur müssen nun
die Gesetze sein . welche dem Subjecte selbst ; dessen erkennender
Function eigen sind?
Sobald wir einsehen, dass es zu dem Wesen des Subjeets
gehört, den in ihm vorkommenden Inhalt auf Gegenstände
zu beziehen, nach der Beschaffenheit desselben über
das Dasein und die Natur der Gegenstände Urtheile, nicht
allein unmittelbar, sondern auch mittelbar, durch Schlüsse, zu
bilden, - wird es klar, dass die Gesetze des erkenn.enden
Subjects selbst eine nothwendige Beziehung auf die Gegenstände
und deren Auffassung impliciren, dass dieselben eben
nichts Anderes sein können, als allgemeine Principien von
Af fi rmationen über Gegenstände, d. h. eine innere Nothwendigkeit,
etwas von Gegenständen Pu glauben. Solcher Art
Gesetze nennt man logische Gesetze und dieselben sind von
den objectiven, physischen Gesetzen, - zu welchen auch die
Gesetze der Association gehören, dem innersten Wesen nach
verschieden. Um diesen Unterschied klarer zu machen, müssen
wir sehen, was die Association allein zu leisten vermag.
Es gibt bekanntlich zwei Grundgesetze der Association:
1) Nach der Aehnlichkeit des vorgestellten Inhalts und 2) nach
dem öfteren Zusammenvorkommen (was die Engländer Contiguity
nennen) desselben . Die mir gegenwärtigen Vorstellungen
haben die Tendenz, frühere ihnen .ähnliche ins Gedächtniss
zu rufen . d. h . dem Bewusstsein ebenfalls gegenwärtig
zu machen. Alles Wiedererkennen, alle Erinnerung und Vergleichung
des Früheren mit dem Gegenwärtigen wäre offenbar
ohne dieses Gesetz der Reproduction nicht möglich. Aber



 77
Die Natur der Vorstellung.

auch ein unähnlicher Inhalt verbindet sich infolge seines öfteren
Beisammenseins im Bewusstsein auf eine Weise, . dass die
Vorstellung des Einen auch die Vorstellung des Anderen nach
sich zieht. Beispiele davon bietet uns das Leben in Jedem
Augenblicke: Wenn ich einen Gegenstand, z . B . ein Pferd
oder einen Hund sehe , so ist mir dabei unmittelbar nichts
als Gesichtseindrücke gegeben. Zu diesen gesellt sich aber
sogleich die Vorstellung von den anderen Eigenschaften des
Pferdes oder des Hundes , welche ich aus früheren Erfahrungen
kennen gelernt habe und deren Vorstellung mit dem Gesichtsbilde
dieser Thiere in meinem Bewusstsein unzertrennlich
verwachsen ist. Es fragt sich nun, ob die Association
des reproducirten Inhalts allein, ohne Betheiligung anderer
Factoren und Bedingungen Urtheile und Schlüsse zu Stande
bringen kann?
Nehmen wir das einfachste Beispiel eines Urtheils und
eines Schlusses. Wenn ich erkenne und behaupte, dass zwei
Dinge, A und B, mit einander verbunden sind so ist dieses
ein Urtheil. Wenn mir .aber bloss das eine der beiden Dinge,
gegeben ist und ich infolge jener Erkenntniss behaupte,
dass auch das andere Ding (B) gegenwärtig sei, so ist dieses
ein Schluss. Was leistet nun die Association dabei? Ihre
ganze Verrichtung besteht offenbar einzig und allein darin,
dass das Erscheinen des Inhalts A in mir, in meinem Bewusstsein
auch das Erscheinen von B nach sich zieht oder
zur Folge hat. Dass dieses kein Urtheil und kein Schluss
ist, sieht Jedermann . Die Association ist eben ein rein objectives
Causalgesetz, dem Wesen nach ganz ähnlich den
anderen Causalgesetzen, welche in der Natur vorkommen.
Sobald aber das Vermögen des Subjects hinzukommt, seinen
Inhalt auf Gegenstände zu beziehen, führt die Association
nothwendig zu Urtheilen und Schlüssen. Denn das Erscheinen
eines Inhalts in meinem Bewusstsein ist dann eben mit der
A ffirmation oder dem Glauben verbunden, dass ein, entsprechender
Gegenstand in Wirklichkeit existire. Erst dadurch



78
Erstes Buch. Zweites Kapitel.

wird die Verbindung, die Association der Vorstellungen von
A und B in meinem Bewusstsein zu einem Erkenntnissgrunde,
nach welchem ich aus dem Vorhandensein des Dinges A auch
das Vorhandensein des Dinges B folgere. Die Beziehung des
Inhalts auf Objecte ist also allein der Grund der Möglichkeit
von Urtheilen und Schlüssen. Aber gerade diese Beziehung
konnte niemals durch Association entstehen. Denn damit
zwischen zwei Dingen eine Verbindung durch Association zu
Stande komme, müssen eben beide zusammen und zwar oft
dem Bewusstsein gegeben sein oder in demselben vorkommen.
Aber der Gegenstand, das Object der Erkenntniss kann nie
selbst in dem Bewusstsein, in der Vorstellung angetroffen
werden, mithin auch keine Association mit dem Inhalte derselben
eingehen. Will man indessen behaupten, dass der
Gegenstand der Erkenntniss von dieser selbst gar nicht unterschieden
sei, wohlan, dann kann von einem Gegenstande der
Erkenntniss üherhaupt nicht mehr .die Rede sein, also. auch
nicht von Urtheilen und Schlüssen, da diese eben ein Hinausgehen
der Vorstellung oder des Subjects über sich selber bedeuten
. Dann würde es im Bewusstsein nur einen verschiedenartigen
Inhalt geben, dessen Verschwinden und Wiedererscheinen
nach physischen Gesetzen erfolgte, weiter aber
. nichts .
Wenn .man die Theorien betrachtet, welche
dieSen-sualisten überdieThatsachen derErkenntniss aufgestellt
haben, dann zeigt . es sich auch gleich; dass dieselben stets
implicite das voraussetzen, . was sie ostensibel leugnen, nämlich
die ursprüngliche Beziehung des erkennenden Subjects auf
Gegenstände, eben die Fähigkeit, Gegenstände zu erkennen,
welche in keinem realen Inhalte, sei er in mir oder ausser
mir, liegen und auch nicht nach bloss physischen Gesetzen,
wie diejenigen der Association, erfolgen kann . Weiter unten
werde ich Gelegenheit haben, dieses näher nachzuweisen ; jetzt
soll bloss die Einsicht eingeprägt werden , dass die Gesetze
der Association unmittelbar bloss Gesetze des vorgestellten



79
Die Natur der Vorstellung

Inhalts allein sind und nur mittelbar auch zu denen des erkennenden
Subjects werden können. Die eigenen Gesetze des
erkennenden Subjects sind ganz anderer Art, denn sie beziehen
sich auf die Auffassung -von Gegenständen, welche
ausser der Vorstellung liegen ; sie sind ursprüngliche Normen
der Erkenntniss, Principien von Affirmationen, logischer, nicht
physischer . Natur.*)
Die in der eigenen Natur des Subjects liegenden Erkenntniss-
Elemente, -Gesetze oder -Bedingungen pflegt man nun
seit Kant Elemente und Bedingungen a priori zu nennen, im
Gegensitze zu allem Dem, was dem Subjecte selbst nicht eigen,
in seiner Natur nicht ursprünglich gelegen oder aus dieser
ableitbar, sondern in das Subject von Aussen gekommen , bewirkt
oder irgendwie von demselben im Laufe seines Lebens
erworben wird. Diese letzteren Erkenntnisselemente nennt
man a posteriori oder empirisch. Dazu gehört erstens der
sämmtliche Inhalt der Erkenntniss, da es eben in der Natur
des erkennenden Subjects liegt, keinen eigenen Inhalt zu haben.
Empirisch sind ebenfalls die Gesetze des Zusammenhangs der
Empfindungen, die Gesetze, nach welchen in der objectiven
Welt, gerade diese bestimmte Wirkung aus dieser bestimmten Ursache
folgt und gerade dieser bestimmte Complex zugleichseiender
Eindrücke das Wesen eines Dinges (einer Münze, eines Baumes,
eines Tisches u. s. w.) offenbart, - kurz , die - objectiven
Gleichförmigkeiten in den Successiönen und dem Zugleichsein
der Phänomena. Empirisch . ist aber auch der Zusammenhang,
welcher in dem reproducirten Inhalte des Bewusstseins durch
_______
*) Ein physisches Gesetz ist eine unveränderliche Art und Weise des
Zugleichseins oder der Aufeinanderfolge von Erscheinungen oder realen
Vorgängen . Ein logisches Gesetz dagegen ist die innere Disposition etwas
von Gegenständen zu glauben . Die physischen Gesetze beherrschen die
reale Aufeinanderfolge der Begebenheiten in der Ordnung der Zeit, die
logischen Gesetze beherrschen die logische Aufeinanderfolge der Gedanken
in der Ordnung des Begründens. Man sieht klar, dass beide durchaus
verschiedener Natur sind.



80
Erstes Buch . Zweites Kapitel.

Association. im Laufe des Lebens zu Stande kommt. Diese
drei Arten von Daten : 1) Der Inhalt des Erkennens, 2) der
objective Zusammenhang desselben nach Naturgesetzen und
3) der subjective Zummenhang desselben in der Reproduction,
-bilden das dem Subjecte Gegebene, welches nicht aus ihm
hervorgeht; aber dasselbe erfüllt und vielfach bestimmt.
Alle Elemente der Erkenntniss habe ich in diesem einleitenden
Kapitel so weit ins Licht zu setzen versucht, als
zum Verständniss und zur Begründung des Nachfolgenden
nöthig schien, und ich hoffe, dass niemand diese Erörterungen
zu weitläufig finden wird, wenn er überlegt, wie wesentlich
von der richtigen Auffassung gerade dieses Punktes die ganze
Richtung und, man kann sagen, das ganze Schicksal der Philosophie
abhängt.