DENKEN
UND
WIRKLICHKEIT.
VERSUCH EINER ERNEUERUNG DER KRITISCHEN PHILOSOPHIE,
AFRIKAN SPI R.
ERSTER BAND.
DAS UNBEDINGTE.
ZWEITE, UMGEARBEITETE AUFLAGE .
LEIPZIG.
J.G.FINDEL
1877. 


24
ERSTES BUCH.
VORBEREITUNG.
25
ERSTES KAPITEL.
DAS UNMITTELBAR GEWISSE.
Als selbstverständlich setze ich hier voraus, dass das
Ziel der Philosophie, wie dasjenige einer jeden Wissenschaft,
die Gewissheit ist, d . h. die richtige und mit dem Beweise
ihrer Richtigkeit versehene Erkenntniss der Wirklichkeit . Ja,
bei der Philosophie ist dieses noch in höherem Grade als bei
anderen Wissenschaften der Fall ; denn von ihr gerade erwartet
man den Aufschluss darüber, wie wir überhaupt Gewissheit
erlangen und unter welchen Bedingungen dieselbe
ber echtigt ist. Das Streben der echten Philosophen - ich
erinnere nur an Deseartes, Locke, Kant - war daher ausgesprochenermassen
auf die Erlangung der Gewissheit gerichtet.
Man weiss nun von vornherein, dass etwas bloss auf zweifache
Weise gewiss sein kann, nämlich entweder unmittelbar
oder mittelbar. Mittelbar gewiss ist dasjenige, dessen Ge
wissheit eben durch etwas Anderes vermittelt, d. h . von
Anderem entlehnt ist. Mittelbar gewiss ist etwas, wenn ich
dessen Richtigkeit aus seinem Zusammenhange mit etwas Anderem,
vorher Festgestellten einsehe. Ohne etwas unmittelbar
Gewisses könnte es also auch nichts mittelbar Gewisses,
mithin überhaupt gar keine Gewissheit geben . Wenn ich die
Gründe, durch welche die Wahrheit meiner Ansicht dargethan
werden soll, immer durch neue Gründe unterstützen müsste,
wenn das Suchen nach demjenigen, welches die Richtigkeit

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Erstes Buch . Erstes Kapitel.

der angeführten Gründe verbürgen soll, immer weiter rückwärts
schreiten müsste, - so würde die ganze Reihe oder
Kette von Gründen und Folgen nicht das Mindeste von Gewissheit
enthalten. Sie würde, wie man sich oft ausdrückt,
im Leeren oder in der Luft schweben, d. h . des Fundaments
entbehren. Denn da in diesem Falle jeder der successiven
Gründe nur unter der Bedingung Beweiskraft haben würde,
dass vorher etwas Anderes als richtig nachgewiesen und anerkannt
ist, und diese Bedingung sich ohne Ende immer von
neuem wiederholen würde, so würde offenbar damit auch der
Besitz der gehofften Gewissheit ohne Ende hinausgeschoben
sein, ohne je zur Wirklichkeit zu werden . Sobald wir dagegen
in diesem Regressus der Begründung auf etwas kommen,
dessen Richtigkeit unmittelbar einleuchtet und keiner
weiteren Bürgschaft bedarf, erhält die ganze niedersteigende
Reihe auf einmal Kraft und Gültigkeit. Was vorher nur ein
müssiges Aneinanderreihen von Gedanken gewesen, bekommt
dadurch bis in seine fernsten Glieder Leben und Bedeutung
die Gedanken werden zu Einsichten, deren Richtigkeit klar
am Tage liegt. Das unmittelbar Gewisse ist also die Quelle
aller Gewissheit überhaupt. Die erste Aufgabe der Philosophie
besteht folglich darin, das unmittelbar Gewisse aufzusuchen .
Diese Aufgabe ist nun nicht so leicht zu lösen ; nicht
etwa deshalb, weil es uns an unmittelbar gewissen Einsichten
fehlte, sondern weil wir oft geneigt sind, auch dasjenige für
unmittelbar gewiss zu halten, was bloss erschlossen ist. Ja,
man kann manchmal sogar auch in den entgegengesetzten
Fehler verfallen und an dem unmittelbar Gewissen selbst
herummäkeln. Die Schwierigkeit besteht also darin, das
unmittelbar Gewisse aus der Masse des Fürwahrgehaltenen
herauszusondern und von allem Abgeleiteten zu unterscheiden.
Bekanntlich hat es Desearies zuerst mit dem in dieser Frage
nöthigen Nachdruck ausgesprochen, dass das Denken oder das
Bewusstsein sich selber unmittelbar gewiss sei . Das Dasein
des Denkens selbst , so argumentirte er, kann weder geleugnet


27

Das unmittelbar Gewisse.

noch bezweifelt werden ; denn diese Leugnung oder dieser
Zweifel sind eben selbst Zustände des Denkens oder des Bewusstseins,
ihr eigenes Vorhandensein beweist also das, was
sie in Abrede stellen, und benimmt ihnen folglich jede Bedeutung.
Es ist schwer zu glauben, dass diese Argumentation
missverstanden werden könnte, und doch wurde sie missverstanden
und zwar auf die vielfältigste Art . Ich hoffe, dass
alle Missverständnisse in dieser Fragebeseitigt werden können
durch die folgende Betrachtung.
In allem Wissen, oder allgemeiner gesagt, in jeder Vorstellung
ist zweierlei zu unterscheiden, das, was die Vorstellung
selbst ist, und das, was sie vorstellt, mit anderen Wor
ten, das, was in einer Vorstellung gegeben, und das, was in
ihr (von Gegenständen) behauptet wird. Das letztere kann
unwahr oder zweifelhaft sein, das erstere nie. Man sieht darnach,
wie unhaltbar die Einwendung derjenigen war, welche
behaupteten, anstatt des Descartes'schen Satzes »Ich denke,
also bin ich«, könne man ebensogut den Satz stellen »Ich
singe oder ich laufe, also bin ich.« Diese Leute hatten gerade
den Nerv der Sache verfehlt ; sie übersahen eben den Umstand,
dass das Dasein von Zweifel und Unwahrheit auf der doppelten
Natur der Vorstellungen beruht, welche Gegenstände vorstellen,
die sie nicht selbst sind, dass folglich die unmittelbare.
Beseitigung alles Zweifels, oder mit anderen Worten, die
unmittelbare Gewissheit nur in dem angetroffen werden kann,
was die Vorstellungen selbst (das Cogito), unabhängig von ihrer
Beziehung auf Gegenstände bieten . Der Descartes'sche Satz
Cogito, ergo sum muss, allgemein und präcis ausgedrückt, so
lauten
Alles, was ich in meinem Bewusstsein vorfinde, ist als
blosse Thatsache des Beivusstseins unmittelbar gewiss.
Wenn ich einen Gegenstand sehe, so kann es zweifelhaft
sein, ob der gesehene Gegenstand ausserhalb meines Bewusstseins
existirt ; aber es unterliegt keinem Zweifel, dass ich die
gegebenen Gesichtseindrücke habe , welche bei mir die Vor-



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Erstes Buch. Erstes Kapitel.

stellung eines gesehenen Gegenstandes ausser mir erwecken .
Wenn ich einen Ton höre, so kann es zweifelhaft sein, ob
derselbe eine ausser mir liegende Ursache hat ; aber es unterliegt
keinem Zweifel, dass in meinem Bewusstsein ein bestimmter
Ton existirt, welcher mir, je nach den Umständen,
von rechts oder von links, von vorne oder von hinten zu
kommen scheint. Dasselbe gilt von dem ganzen Inhalte unseres
Bewusstseins. Zweifelhaft ist es, ob diesem Inhalt irgend
etwas ausser uns irgendwie entspricht, aber der gegebene
Inhalt des Bewusstseins selbst steht ausser allem Zweifel. In
dem Inhalte unseres Bewusstseins haben wir also alle und jede
unmittelbare Gewissheit factischer Natur.*)
Es war eine ewig ruhmvolle That Descartes', dass er
zuerst mit Entschiedenheit die Forderung ausgesprochen hat,
die Philosophie, welche diesen Namen verdient, müsse mit
dem Anfang, d. h. mit dem unmittelbar Gewissen anfangen,
und dass er mit richtiger Intuition in dem Inhalte unseres
Bewusstseins selbst das unmittelbar Gewisse factischer Natur
entdeckt hat. Aber mehr als den richtigen Anfang hat Descaries
nicht gemacht und die daran von ihm selbst und von
Anderen geknüpften Fortsetzungen sind nach allen Himmelsgegenden
auseinandergegangen.
Die ersten Fragen, welche sich uns vor jedem weiteren
Schritte entgegendrängen, sind diese : Das unmittelbar Gewisse
factischer Natur ist der Inhalt unseres eignen Bewusstseins ;
wie kann uns etwas ausserhalb unseres Bewusstseins Liegendes
gewiss werden? Ferner, das unmittelbar Gewisse factischer
Natur ist stets ein Einzelnes, ein bestimmter Gesichtseindruck
oder ein bestimmter Ton, eine individuelle Geschmacks- oder
Geruchsempfindung u. s . w. ; wie können wir, von diesen Einzelheiten
ausgehend, zu allgemeinen Einsichten von vollkommener
Gewissheit gelangen ? Die Philosophie hat die Aufgabe,
_______
*) Den Grund dieser restringirenden Bezeichnung wird man bald
weiter unten erfahren .



29

Das unmittelbar Gewisse.

diese beiden Fragen zu beantworten ; der Beantwortung dieser
Fragen ist daher auch das vorliegende Werk gewidmet und
ich will hier schon den Gang der in demselben befolgten Entwicklung
andeuten . Dies wird hoffentlich das Verständniss
des Nachfolgenden erleichtern .
Da das unmittelbar Gewisse factischer Natur, wie oben
erwähnt worden, nur in den Vorstellungen selbst angetroffen
wird, so muss vor allem Anderen die Natur der Vorstellung
selbst untersucht werden. Das ist offenbar der erste Schritt
den man vernünftigerweise thun muss, um den Boden für
weiteres Fortschreiten selbst zu recognosciren und sicher zu
machen . Diese Untersuchung, wie sie in dem nächstfolgenden
Kapitel angestellt ist, ergibt nun das Resultat, dass die eigenthümliche
Beziehung auf Gegenstände, die von ihr selbst verschieden
sind, das Wesen der Vorstellung selbst ausmacht,
woraus folgt, dass die Natur der Vorstellung selbst das Dasein
von Gegenständen ausser ihr verbürgt, und was noch mehr
ist, dass es in der Natur der Vorstellung (oder des Denkens)
selbst begründete Gesetze (Principien) geben muss, welche die
Erkenntniss der Gegenstände bedingen. - Die in dem 3. Kapitel
geführte Untersuchung darüber, wie etwas auf mittelbare
Weise gewiss werden könne, oder mit anderen Worten,
wie ein Fortschreiten der Erkenntniss möglich sei, ergibt ihrerseits
das Resultat, dass das unmittelbar Ge wisse individueller,
factischer Natur allein zu keinen allgemeinen Einsichten mit
Gewissheit führen, kurz, dass in den Daten der Wahrnehmung
allein kein rationeller Grund für die Gültigkeit der darauf
gebauten Inductionen gefunden werden kann .
Damit wird ein Punkt festgestellt, nämlich, dass es ausser
unmittelbar gewissen Thatsachen auch unmittelbar gewisse
Principien der Erkenntniss geben muss, welche nicht auf'r
Einzelne, sondern auf's Allgemeine gehen. Diese sind die
Quelle der rationellen Gewissheit, in ihrem Unterschied von
der factischen Gewissheit, welche den Daten und Thatsachen
des Bewusstseins zukommt. Hier 'aber bricht der leitende



30

Erstes Buch. Erstes Kapitel.

Faden ab und wir müssen wieder einen neuen Anfang machen.
Denn eine Anweisung oder eine Regel zur Auffindung des unmittelbar
Gewissen kann es nicht geben. Wir müssen uns
darauf besinnen, ob wir einen allgemeinen Satz kennen, welcher
unmittelbar gewiss, durch sich selbst einleuchtend, kurz selbstverständlich
ist . Wie man schon längst weiss, gibt es in der
That einen solchen, nämlich den Satz der Identität . In diesem
letzteren müssen wir also den Ausdruck des Grundgesetzes
unseres Denkens sehen. Dass man dies bis jetzt nicht erkannt,
das hat, wie ich glaube, seinen Grund hauptsächlich
darin, dass man bei philosophischen Untersuchungen es überhaupt
nicht gewöhnt ist, einen streng logischen -und methodischen
Gang des Denkens einzuhalten. Um so mehr Sorgfalt
müssen wir dieser fundamentalen Frage widmen . Die zwei
letzten Kapitel des 1 . Buchs und das ganze z. Buch dieses
Bandes sind bestimmt, zu beweisen, dass der Satz der Identität
das Grundgesetz, das oberste Princip unseres Denkens
ausdrückt und dass die objective Gültigkeit dieses Princips
durch das Zeugniss der Thatsachen selbst verbürgt ist.
Die zwei letzten Kapitel des 1 . Buchs sind einleitender
oder vorbereitender Natur. Dieselben behandeln die wichtige
Frage nach dem Ursprung unserer Erkenntniss der Körper
welt, und zwar darum, weil an dieser Thatsache des Erkennens
am anschaulichsten gezeigt werden kann, dass die Data
der Wahrnehmung allein keine Erfahrung, wie die unsere ergeben
können. Die sorgfältige Analyse unserer Erkenntniss
der Körperwelt wird schon das Gesetz des Denkens deutlich
durchblicken lassen, welches derselben zu Grunde liegt. Das
ganze z . Buch, welches den Titel Grundlegung" führt, hat
dann zur Aufgabe, zu beweisen, dass dieses Grundgesetz des
Denkens, welches die Erkenntniss der Körper bedingt und in
dem Satze der Identität seinen Ausdruck findet, ein unserem
Denken ursprünglich innewohnender Begriff von dem eignen,
unbedingten Wesen der Dinge ist, mit welchem die Data der
Erfahrung sämmtlich nicht übereinstimmen - da die Er-



3 1

Das unmittelbar Gewisse.

fahrung eben nichts Unbedingtes bietet - aber gerade durch
diese Nichtübereinstimmung die objective Gültigkeit desselben
bezeugen. Darin wird dieser Begriff als das gemeinsame
Princip der Logik und der Ontologie nachgewiesen . Die zweite
Hälfte des 1 . Bandes und der ganze z . Band sind bestimmt,
die logischen Folgen des vorher festgestellten obers ten Begriffs
oder Denkgesetzes auseinanderzusetzen.
Die in dem vorliegenden Werke gebotene Anschauung
der Dinge hat also zum Ausgangspunkt und zur Grundlage
die zweifache unmittelbare Gewissheit, welche einerseits die
Thatsachen des Bewusstseins selbst und andrerseits das Grundgesetz
des Denkens bieten . Jede Schlussfolgerung, welche
hier vorgebracht wird, hat zu einer Prämisse das Grundgesetz
des Denkens und zur anderen Prämisse eine Thatsache des
Bewusstseins, oder eine aus diesen Prämissen vorher schon
gezogene Folgerung. Wie die eine dieser fundamentalen Prämissen,
das Grundgesetz des Denkens, auf seine Gewissheit
und Gültigkeit geprüft und gesichtet werden wird, das habe
ich schon oben angedeutet. Was die Grundprämissen anderer
Art, die Thatsachen des Bewusstseins betrifft, so wird überall
Sorge getragen, diese Thatsachen nur ganz rein, unvermischt
mit den durch den Einfluss der Gewohnheit daran haftenden
Folgerungen und Erklärungen zu verwenden . Die Schlussfolgerungen
selbst werden nach diesem Grundsatze gezogen
Von zwei identischen oder übereinstimmenden Dingen kann
dasselbe, von zwei nicht identischen oder nicht übereinstimmenden
Dingen kann nicht dasselbe prädicirt werden.
schlechthin fest und sicher und dessen
Auf diese Weise wird ein Gedankengebäude errichtet,
dessen Grundlagen
Theile alle sowohl mit den Grundlagen - dem obersten Princip
des Denkens und den Thatsachen des Bewusstseins - als
auch unter einander vollkommen zusammenstimmen.
Mit der Naturwissenschaft kann eine so gewonnene Philosophie
nie in Conflict gerathen. Die Veranlassung aller Conflicte
zwischen Naturwissenschaft und Philosophie lag in der



32

Erstes Buch. Erstes Kapitel

Voraussetzung der Philosophen, das Unbedingte, welches sie
sich zum Gegenstande machten, enthalte den zureichenden
Grund der erfahrungsmässigen Welt, deren Erforschung Gegenstand
der Naturwissenschaft ist, und sei als der letzte Erklärungsgrund
der Welt zu betrachten und zu gebrauchen .
Nun wird es sich uns aber in dem weiteren Verlaufe der Untersuchung
zeigen, dass diese Voraussetzung eine irrthümliche .
ist und die Prätension der Philosophen, die Naturwissenschaft
zu schulmeistern, darum eine übel angebrachte war. Nicht,
das Unbedingte ist der zureichende Grund der erfahrungsmässigen
Welt, wohl aber ist der Begriff des Unbe dingten,
welcher allein den Gegenstand der wirklichen, kritischen Philosophie
bildet, die Grundlage auch des erfahrungsmässigen
Wissens . Dies, ergibt ein ganz anderes Verhältniss zwischen
Naturwissenschaft und Philosophie, bei welchem sich die beiden
gegenseitig ergänzen, anstatt sich anzufeinden . Denn wo das
Gebiet der einen aufhört, da fängt erst das der andern an.
Die Naturwissenschaft fragt z. B. nicht darnach, wie es kommt,
dass wir aus dem Inhalte unseres eigenen Bewusstseins die
Erkenntniss einer Körperwelt ausser uns ziehen . Die Naturwissenschaft
kann . auch diese Frage nie beantworten, (la sie
die Erkenntniss der Körperwelt zu ihrer letzten, obersten
Voraussetzung hat ; wohl aber muss diese Frage die Philosophie
beantworten, indem sie zu diesem Behufe auf das unmittelbar
Gewisse selbst zurückgeht. Die Naturwissenschaft
fragt nicht darnach, mit welchem Recht sie den von ihr constatirten
Naturgesetzen universelle und zu allen Zeiten unwandelbare
Gültigkeit beilegt. Die Naturwissenschaft kann
dies auch niemals rechtfertigen, da die blosse Erfahrung nie
lehren kann, dass irgend etwas schlechthin unmöglich ist ;
wohl aber muss die Philosophie die rationellen Gründe angeben,
welche die Gültigkeit der wissenschaftlichen Inductionen
verbürgen . Darum kann zwischen diesen beiden nie ein Streit
entstehen. Wie die Physiologie nie eine Thatsache entdecken
wird, welche den von der Physik oder der Chemie constatirten



33

Das unmittelbar Gewisse.

Gesetzen widerspricht, so wird auch die Naturforschung überhaupt
nie eine Thatsache entdecken, welche der wahren Philosophie
widerspricht. Ein solches Ergebniss der Naturwissenschaft
würde ja ihre eignen Grundlagen umstossen, und
dies ist nicht möglich. Denn das Wirkliche widerspricht sich
nicht.
In dem ganzen Gebäude der Wissenschaft bildet die Philosophie
zugleich das Fundament und die Krönung. Denn das
Einfachste und Elementarste, mit dem sie sich befasst, ist zu
gleich das Tiefste und Erhabenste. Weiter unten werden
wir sehen, wie ein und derselbe Satz, welcher, oberflächlich
betrachtet, eine blosse Trivialität auszudrücken scheint, bei
tieferer Untersuchung als Ausdruck einer über die Grenzen
der Erfahrung hinausgehenden Einsicht sich erweist. Darum
sind hier Missverständnisse so leicht zu begehen und die
wahre Einsicht trotz ihrer äussersten Einfachheit und Familiarität
so schwer zu erlangen und . festzuhalten . Nach unzähligen
verschiedenen Richtungen hin wird das Denken durch
die Gewalt seiner eingelebten Gewohnheiten fortgezogen und
der einzige Weg des streng logischen Verfahrens wird nie
betreten, weil derselbe, obgleich von dem anhebend. was dem
Denken das Nächste und das Natürlichste ist, ja dessen Nerv
und Seele bildet, doch in seinem weiteren Verlaufe zu Ergebnissen
führt, welche von den gewohnten Anschauungen weit
abliegen . Sogar die Selbstverständlichkeit des unmittelbar
Gewissen ist ein Hinderniss für dessen wirkliches Verständniss .
Denn dieselbe macht eben, dass man mit der Sache von vornherein
im Reinen zu sein glaubt, selbst wenn man sie noch
keiner Untersuchung unterworfen hat und von ihrem wahren
Sinne kein klares Bewusstsein besitzt.
Damit der Leser, welcher entschlossen ist, meinen weiteren
Auseinandersetzungen zu folgen, seine Zeit nicht unkleinen
Schrift
fruchtbar verschwende , möchte ich ihm daher die Worte in
Erinnerung bringen, welche J. G. Fichte an die Leser seiner
»Sonnenklarer Bericht über das eigentliche



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Erstes Buch. Erstes Kapitel.

Wesen der neuesten Philosophie. Ein Versuch, den Leser
zum Verständniss zu zwingen« (Berlin, 1801) gerichtet hat
»Sollte dir beim Lesen dieser Blätter begegnen, was den heutigen
Lesern zuweilen begegnet, dass du noch fortläsest, ohne
fortzudenken, dass du zwar noch die Worte auffasstest, nicht
aber ihren Sinn ergriffest ; so kehre um, verdoppele deine
Aufmerksamkeit, und lies von der Stelle an, da sie abglitschte,
noch einmal ; oder auch, lege für heute das Buch auf die
Seite, und lies morgen mit ungestörten Geisteskräften weiter.
Lediglich von dieser Bedingung auf deiner Seite hängt die
Erfüllung des stolzen Versprechens auf dem Titel ab, dich
zum Verständniss zu zwingen.«

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