FÜNFTES KAPITEL.

DIE ERSCHEINUNG UND DER SCHEIN.

 

Was das Wesen einer Erscheinung ist und warum die empirischen Objecte als blosse Erscheinungen gedacht werden müssen, habe ich schon in einem vorhergehenden Kapitel gezeigt. Jetzt muss ich noch zeigen, wie sich die Erscheinung von dem Schein unterscheidet und worin das Wesen dieses letzteren besteht.

 

»Ein täuschender Schein«, sagt Helmholtz, »tritt nur da ein, wo die normale Erscheinungsweise eines Gegenstandes mit der eines anderen vertauscht wird«.*) Dies ist vollkommen richtig. Der Schein besteht, wie der Irrthum überhaupt, darin, dass ein Object uns als etwas erscheint, was es in der That nicht ist. Von dem gewöhnlichen Irrthum unterscheidet sich der Schein nur dadurch, dass er auch dann fortbesteht, wenn seine Irrthümlichkeit eingesehen und erkannt worden ist, was nur durch die Gewalt, welche die Associationen einer gegenwärtigen Wahrnehmung ausüben, möglich ist. Daher kann es nur in Wahrnehmungen einen Schein geben, nicht aber, wie Kant meinte, in dem reinen Denken. Wenn uns z. B. flache Bilder in dem Stereoskop Relief zu haben scheinen, wenn uns unsere eigne Empfindung der Farbe ausser uns zu liegen, oder wenn uns das Ufer, an dem wir vorüberfahren, sich zu bewegen scheint, – so sind das eben Fälle

 

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*) Helmholtz, populäre wissensch. Vorträge, 2. Heft, 1871, S. 55.

 

 


 

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eines eigentlichen Scheins. Es hilft uns nichts zu wissen, dass die Bilder in dem Stereoskop flach sind, oder dass die Farbenempfindung lediglich in uns selbst existirt; wir können es dadurch nicht verhindern, die Bilder in dem Stereoskop als erhabene Figuren und die Farbenempfindung als ausser uns liegend zu sehen. Es ist also klar, dass der Schein, wie der Irrthum überhaupt, nur im Vorstellungen möglich ist, weil darin etwas den Objecten zugeschrieben oder von diesen affirmirt wird, was denselben in der That fremd und fern ist.

 

Die Vorstellung hat überhaupt zwei Seiten. Sie kann betrachtet werden nach dem, was sie ist, und nach dem, was sie vorstellt. Da nun jede Vorstellung etwas vorstellt, was sie selbst nicht ist, so kann man sogar die Vorstellung überhaupt als einen Schein ansehen. Denn auch in dem Falle, wenn die Vorstellung mit ihrem Gegenstande übereinstimmt, ist sie doch an sich von ihm verschieden, wie schon bewiesen worden ist. Das Dasein eines Gegenstandes in der Vorstellung (das Vorgestelltsein desselben) ist daher in der That stets eine Art von Schein, dem Schein wesensverwandt. Doch wird nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch nur dasjenige Vorgestelltsein Schein genannt, welchem kein wirkliches, objectives Dasein entspricht.

 

Dagegen an sich, als ein realer Vorgang betrachtet, ist die Vorstellung selbst etwas Wirkliches, Objectives. Doch ist dieselbe auch in dieser Hinsicht kein Ding an sich, keine Substanz; sie gehört vielmehr zu der Welt der »Erscheinung«, welche mithin von dem eigentlichen Schein durchaus verschieden ist. Da das Reale an sich eins ist, da es also keine Vielheit von Dingen an sich oder von Substanzen in der Wirklichkeit gibt, so folgt daraus, dass die Welt der Erfahrung uns nie und nirgends etwas Anderes, als Erscheinungen bietet. Sowohl unsere Vorstellungen selbst, als auch die von uns erkannten empirischen Objecte sind, soweit sie wirklich existiren, Erscheinungen. Aber die Welt der Erfahrung für einen blossen Schein oder eine irrthümliche Meinung zu halten, wie

 

 


 

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es die Eleaten, die vedantischen und die buddhistischen Metaphysiker gethan haben, ist nicht zulässig. Denn damit etwas überhaupt scheinen kann, müssen die Vorstellungen, in welchen allein ein Schein zu Stande kommt, ganz ernstlich und wirklich existiren. Aber die Natur der Vorstellung verbürgt das Dasein entsprechender Gegenstände. Also gibt es auch wirkliche Gegenstände, welche blosse Erscheinungen sind. Wären die Gegenstände der Erkenntniss Dinge an sich, dann würde freilich all unser Erkennen blosser Schein sein. Denn dass wir von Dingen an sich nichts wissen können, ist ein allgemein zugegebener Satz. Das, was wir zu erkennen vermeinen, würde also unter dieser Voraussetzung gar keine objective Existenz haben, die Erkenntniss wäre mithin lauter Schein. Allein wir wissen, dass es wirkliche Objecte unserer Erkenntniss gibt, dass die Vorstellung ohne Gegenstand widersprechend ist. Nur sind diese wirklichen Objecte keine Dinge an sich, sondern empirische Gegenstände, nämlich unsere Empfindungen. Dass wir unsere Empfindungen oder vielmehr deren Gruppen als unbedingte Gegenstände im Raume erkennen, das ist eine durch die Natur des Subjects bedingte Vorstellungsart derselben, welche mit ihrem wahren gegebenen Wesen durchaus nicht übereinstimmt. Unsere Erkenntniss der Korper bietet daher in der That einen blossen Schein, denn es entspricht derselben nichts in der Wirklichkeit.

 

Doch ist auch diese letztere Behauptung nicht ganz genau. Es existiren zwar in Wirklichkeit keine Körper, wie wir sie erkennen, oder vielmehr, ist dasjenige, was wir als solche erkennen, keine Körperwelt, sondern unsere eignen Sinnesempfindungen und deren Gruppen. Aber unsere Sinnesempfindungen würden wir nicht als Körper erkennen können, wenn sie nicht von Natur dieser ihrer Auffassung durch das Subject angepasst wären. Man vergleiche darüber das oben (S. 142 ff.) Gesagte. Unsere Erkenntniss der Körper ist daher zwar ein blosser Schein, aber doch ein Schein, welchem etwas in der Wirklichkeit entspricht, nämlich die Natureinrichtung und die

 

 


 

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dadurch bedingte Ordnung unserer Empfindungen selbst. Darum constituirt die Beständigkeit und Gesetzmässigkeit dieses Scheins eine Art bedingter Wahrheit, welehe Kant »empirische Realität« nannte. Für unsere Erfahrung existiren die Körper wirklich, wie für unsere Wahrnehmung die Himmelskörper sich wirklich von Osten nach Westen bewegen; und die Naturwissenschaft hat vollkommen Recht, Voraussetzungen über das Wesen der Körper zum Behufe der Erkläruag der Erscheinungen zu machen. Im engeren Sinne versteht man daher unter Schein nicht dasjenige, was nach den allgemeinen Gesetzen der Erfahrung uns zu sein scheint, was also für alle Sinne und alle erkennenden Subjecte auf übereinstimmende Weise sich als äusseres Object präsentirt, sondern nur dasjenige, wo der Schein des äusseren Daseins bloss durch die Associationen des Wahrgenommenen entsteht, wie in den Hallucinationen, oder wo durch die Macht dieser Associationen die Erscheinungsweise eines empirischen Objects mit derjenigen eines anderen verwechselt wird, wie in den früher angeführten Fällen der stereoskopischen Bilder u. s. w. Hier wird die Empfindung eines Sinnes im Zusammenhange mit Empfindungen anderer Sinne gedacht, mit denen sie in Wirklichkeit nicht verbunden ist.

 

Dagegen ist das Gegebene selbst, d. h. unsere Empfindungen, ganz und gar kein Schein, sondern es sind wirkliche Objecte, von denen eine vollkommen wahre, objectiv gültige Erkenntniss möglich ist, nämlich wenn man sie gerade für das nimmt, was sie sind, d. h. für Empfindungen in uns, und die Gesetze ihres thatsächlichen Zusammenhangs erforscht. Dies ist die Seite der Erfahrung, welche eine wirkliche Wissenschaft möglich macht. Selbst die Skeptiker geben, wie Lewes (Hist. of Ph. I., p. 339) berichtet, zu, dass die »Phänomena wahr sind als Phänomena«, d. h. doch wohl, dass von denselben als Phänomenen eine wahre Erkenntniss möglich ist. Wenn also die empirische Erkenntniss in ihrem Grundwesen selbst dennoch etwas Unwahres enthält, wenn die empirischen

 

 


 

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Gegenstände dennoch als blosse Erscheinungen, Phänomena, gefasst werden müssen, so liegt hier das Element der Unwahrheit in den empirischen Gegenständen selbst und nicht bloss in der Erkenntniss derselben.

 

Leichten Kaufs meint man über die Schwierigkeiten hinwegzukommen, welche in dem Begriffe einer bloss phänomenalen Existenz liegen, indem man alle Phänomenalität und alle Unwahrheit in die Vorstellungen des Subjects verlegt. Ein wirkliches Object, meint man, könne auf keine Weise etwas Unwahres in sich tragen, es könne auf keine Weise Erscheinung eines andnen Objects sein, als nur so, wie überhaupt eine Wirkung Erscheinung ihrer Ursache ist, wenn alle Modificationen der Ursache nach einem beständigen Gesetze von bestimmten Modificationon der Wirkung begleitet werden. Allein ich habe gezeigt, dass nicht einmal das Verhältniss der Vorstellung zu ihrem Object, geschweige denn dasjenige des Phänomenon zum Noumenon, als eine bloss ursächliche Beziehung gedacht werden kann. Und sind denn die Vorstellungen nicht selbst etwas Wirkliches? Also auch, wenn man annimmt, alle Unwahrheit liege bloss in der Auffassung des Subjects, welches die Dinge (als Noumena verstanden) anders erkennt, als sie an sich sind, so wird doch dadurch die Schwierigkeit um kein Haar geringer. Denn die Thatsache der Unwahrheit kann in keinem Fall aus dem wahren Wesen der Dinge abgeleitet werden.

 

Man glaubt zwar die Möglichkeit der Unwahrheit sich sehr wohl begreiflich zu machen, wenn man einsieht, wie wir durch die Macht der Gewohnheit oder der Association, durch den Einfluss praktischer Interessen, durch Missverständniss, Unachtsamkeit u. s. w. dazu kommen, uns Dinge anders vorzustellen, als sie wirklich sind. Allein das ist bloss empirische Unwahrheit, Nichtübereinstimmung unserer Vorstellungen, mit den empirischen Gegenständen. Man darf doch nicht vergessen, dass diese zweierlei voraussetzt: 1) Den fertigen Gegensatz von Subject und Object des Erkennens, und 2) dass

 

 



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dieser Gegensatz dem ursprünglichen Wesen der Dinge fremd ist. Nur durch diesen Umstand ist die relative Unabhängigkeit des Subjects von den Objecten möglich, welche macht, dass in demselben sich Gestaltungen bilden können, welche mit der Wirklichkeit der Objecte nicht übereinstimmen. Gehörte es dagegen zum wahren Ansich der Dinge, von einem Subjecte erkannt zu sein, so würde bei denselben Sein und Erkanntwerden eben ganz unzertrennlich und ununterscheidbar sein. Die Dinge würden dann gar nicht anders erkannt werden können, als wie sie an sich wären. Gerade dass dieses nicht der Fall ist, dass die Entgegensetzung von Subject und Object dem unbedingten Wesen der Wirklichkeit fremd ist, bildet die fundamentale, nach Kant’scher Ausdrucksweise »transcendentale« Unwahrheit, welche die Erscheinung von dem Dinge an sich scheidet und deren Ableitung aus dem letzteren unmöglich macht. Die ewige Nichtbeachtung dieses Umstandes hat ihren Grund darin, dass wir die gegebenen Objecte in unserer gewöhnlichen Erfahrung als Dinge an sich, als selbstexistirende Gegenstände im Raume vorstellen. Denn nie will man das Bewusstsein festhalten, dass diese letzteren mit dem wahren Dinge an sich oder Noumenon nichts Gemeinsames haben. Ja, so gross ist die Neigung, unter einem Objecte überhaupt ein unbedingtes, selbstexistirendes Object zu verstehen und es mit den in der Erfahrung scheinbar erkannten Objecten zu identificiren, dass man fast verzweifeln muss, die Sache einleuchtend zu machen.

 

Um klar zu sehen, muss man sorgfältig dreierlei unterscheiden: l) Die empirischen Objecte, welche uns wirklich in unserer Erfahrung gegeben sind, nämlich unsere Empfindungen, deren Gesetze und deren Modificationen durch Einwirkung anderer, thierischer und menschlicher, Subjecte. Das sind die wirklichen Dinge für uns, welche von unseren Vorstellungen derselben unterschieden sind, aber nicht unabhängig von diesen bestehen. Diese sind die eigentlichen Erscheinungen. 2) Die Art, wie wir diese unsere Empfindungen,

 

 


 

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oder deren beharrliche Gruppen als reale selbstexistirende Substanzen oder Dinge im Raume erkennen, welcher Erkenntniss aber nichts in der Wirklichkeit entspricht. Dies ist der in unserer Erfahrung enthaltene Schein. 3) Das wahre Ding an sich oder Noumenon, welches unabhängig von uns existirt und der ganzen gegebenen Wirklichkeit zu Grunde liegt, von dem uns aber in unserer Erfahrung nichts gegeben ist.

 

Durch unsere Untersuchungen werden wir also zu dem Satze geführt, welcher Herbart (All. Met. I, S. 285) so ungereimt zu sein schien, nämlich dass die Erscheinung sich selber erscheint. Wem könnte sie sonst erscheinen, wenn nicht sich selber? Sie zerfällt eben in zwei Factoren, das Subject und das Object der Erkenntniss, welche nur in ihrer gegenseitigen Relation bestehen können. Aber gerade dieses Zerfallen und diese Relativität ist dem Dinge oder dem Realen an sich fremd. Dasselbe kann also in keinem Sinne weder als Subject noch als Object des Erkennens gefasst und aus dessen Wesen kann die Beschaffenheit des Erkennbaren nicht abgeleitet werden. Es ist eine unbegreifliche Naivetät, wenn Schopenhauer (W. a. W. u. V. II, S. 204) meint, dass die Erscheinung »die Manifestation desjenigen sei, was erscheint, des Dinges an sich«, und es daher zum Ziele der Metaphysik macht, das Ding an sich aus der Erscheinung herauszudeuten. Man nennt die empirischen Objecte zwar mit Recht Phänomena, Erscheinungen, aber nicht deshalb, weil in denselben ein Noumenon erschiene, sondern weil sie selbst uns erscheinen, während das Noumenon es nicht thut. Schopenhauer liess sich offenbar durch die Associationen des Wortes »Erscheinung« und durch die unvertilgbare Voraussetzung, dass das Unbedingte den zureichenden Grund des Gegebenen enthalten müsse, irre führen. Doch hatte er wenigstens einige lichte Augenblicke, wo er einsah, dass die Erscheinung keine Manifestation des Dinges an sich sei und zu der Erkenntniss desselben nichts beitragen könne.

 

Erscheint denn nicht das Reale selbst in der gegebenen

 

 


 

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Wirklichkeit? Ja wohl, allein es erscheint eben nicht, wie es an sich ist, und das ist so gut, als wenn es gar nicht erschiene. Die Erscheinung ist ebensowenig die Manifestation des Dinges an sich, als das Wasser die Manifestation des sie constituirenden Sauerstoffs oder Wasserstoffs ist. Wie die chemischen Elemente in ihren Verbindungen eine ganz neue, ihnen ursprünglich fremde Beschaffenheit erhalten, aus welcher ihr eigenes Wesen gar nicht erkannt werden kann, so tritt auch das Reale in der Erscheinung unter einer ihm an sich fremden Form auf, aus welcher sein wahres Wesen nicht erkannt werden kann. Da nun diese fremde Form oder Erscheinungsweise aus dem eigenen Wesen des Realen selbstverständlich nicht abzuleiten ist, so können wir auch von dem Verhältnisse des Realen an sich zu dessen Erscheinung uns schlechterdings keine Vorstellung bilden. Das Einzige, was wir davon wissen können, ist, wie in einem früheren Kapitel gezeigt worden, dass dieses Verhältniss mit keinem der uns bekannten eine Analogie habe und am allerwenigsten zur Erklärung und Vermittlung der letzteren gebraucht werden dürfe. Die Erscheinungswelt ist aus einem Guss, ist in allen ihren Theilen homogen, nämlich durch keine Uebergriffe des Dinges an sich verquickt.*) Alles in dieser Welt steht und

 

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*) Zwar gibt es wohl Uebergriffe oder Andeutungen des Dinges an sich, d. h. des wahren, höheren Wesens der Dinge in der Welt der Erfahrung, aber dieselben sind nicht physischer, sondern ästhetischer und moralischer Natur. Solcher Art ist in der äusseren Welt die Schönheit und in der inneren Welt die Poesie, die Moralität und die Religiosität. Diese sind nicht das Product eines Wirkens des Dinges an sich, des Noumenon, sondern die Folge des Umstandes, dass die Welt der Erfahrung mit dem Noumenon oder dem Unbedingten nach einer Seite ihrer Wesens verwandt ist, an der höheren Natur der Dinge inneren Antheil hat, von der erhabenen einen Substanz etwas in sich trägt, weil sie eben doch Erscheinung derselben ist. In diesem Verhältniss ist jedoch nichts Physisches enthalten, nichts von dem Zwang, mit welchem eine Ursache ihre Wirkung nach sich zieht. Dieses Verhältniss ist supraphysischer Natur und eröffnet das Reich der Freiheit.

 

 



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fällt nach Gesetzen des Zusammenhangs, welche den Erscheinungen selbst inhäriren. Das wahre Ding an sich auf irgend eine Weise selbst unter diese Gesetze bringen heisst, dasselbe zu einem empirischen Gegenstande machen, also seinen Begriff verleugnen oder aufgeben. Gibt man aber diesen Begriff auf, dann hat man keinen Grund mehr, ausser dem Gegebenen noch irgend etwas anzunehmen.