DRITTES KAPITEL.

DAS VERHÄLTNISS DER WELT ZU DEM UNBEDINGTEN.

 

1. Dieses Verhältniss ist keinem uns bekannten gleich.

 

Wir haben im 2. Buche als die unmittelbare allgemeine Schlussfolgerung, die sich aus der Zusammenstellung der Data der Erfahrung mit der Aussage unseres Denkgesetzes ergibt, die Einsicht erhalten, dass die Erfahrung uns die Dinge nicht so zeigt, wie sie an sich, ihrem eignen, unbedinten Wesen nach beschaffen sind, so dass wir aus der Erfahrung das Wesen der Dinge an sich nicht erkennen können. Diese Einsicht enthält nun Alles, was wir von dem Verhältnisse zwischen der Welt der Erfahrung, dem Bedingten, und dem eignen Wesen der Dinge, dem Unbedingten wissen können, und es gilt jetzt, dasselbe ausführlich, sowohl negativ wie positiv, so weit es eben möglich ist, auseinanderzusetzen.

 

Die Welt der Erfahrung ist nicht die Welt der Dinge an sich. Dieses bedeutet mit anderen Worten, dass die Erfahrung nicht eine unabhängige, in sich allein beruhende Daseinsweise der Dinge enthält, dass die Welt der Erfahrung mithin eine anderweitige Basis (nämlich in dem Wesen der Dinge an sich) haben muss. Das Bedingte ist eben darum ein Bedingtes, weil es nicht unabhängig auf sich allein beruht, sondern von einem Anderen (dem Unbedingten) wesentlich abhängt.

 

Wenn ein Gegenstand von einem anderen wesentlich ab

 

 


 

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hängt, so kann man ihn die Function dieses anderen nennen. Ich glaube nun, dass uns im Ganzen bloss fünf elementare Arten und Weisen bekannt sind, wie etwas die Function eines Anderen sein kann. Es kann nämlich etwas nur:

 

1) Entweder die Eigenschaft, oder 2) der (vorübergehende) Zustand, oder 3) ein Theil, oder 4) eine Wirkung, oder 5) eine Vorstellung eines Anderen sein. Alle anderen Weisen lassen sich auf diese zurückführen. Mir ist wenigstens kein Verhältniss der wesentlichen Abhängigkeit bekannt, welches nicht entweder unter eine jener fünf Arten gehörte oder aus einigen derselben zusammengesetzt wäre.

 

Die Abhängigkeit realer Gegenstände unter einander, wie die des Sohnes von seinem Vater, des Knechtes von seinem Herrn, einer Armee von ihrem Führer, gehört, ausdrücklich nicht unter diese Kategorie. Denn man kann nicht sagen, dass der Sohn eine Function seines Vaters oder die Armee eine Function ihres Führers sei. Die wirkliche Abhängigkeit besteht denn auch nicht zwischen einem realen Gegenstande und einem anderen, sondern bloss zwischen den Zuständen des einen und denen des anderen, und löst sich bei näherer Betrachtung in Wirkungen und Vorstellungen auf. Aber zwischen dem Gegebenen und dem Unbedingten dürfen wir keine solche Wesensgleichheit, wie sie zwischen dem Sohne und dem Vater oder zwischen dem Armeechef und seinen Soldaten besteht, annehmen. Diese Annahme ist schon vermöge der Gründe ausgeschlossen, welche einen Schluss von dem Bedingten auf das Unbedingte überhaupt nothwendig machen.

 

Das Einzige nämlich, was wir von dem Unbedingten, dem Ding an sich oder Noumenon wissen, ist dieses, dass dasselbe mit sich selbst vollkommen identisch und mithin nicht so beschaffen ist, wie die Wirklichkeit, welche wir in unserer Erfahrung erkennen. Der einzige denkbare und mögliche Grund Noumena anzunehmen, ist eben der, dass die gegebene Wirklichkeit nicht selbst unbedingt, also von dem Unbedingten verschieden ist. Da nun das Bewusstsein ihres Unterschiedes

 

 


 

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die einzige Basis für die Auffassung ihres Verhältnisses abgibt, so ist klar, dass wir dieses Verhältniss eigentlich bloss negativ bestimmen können, d. h. wir können im Grunde bloss ausmitteln, was dieses Verhältniss nicht ist, nicht aber was dasselbe ist.

 

Es kann denn auch ohne Schwierigkeit eingesehen werden, dass das Verhältniss des Phänomenon zum Noumenon zu keiner von jenen oben erwähnten fünf Arten gehört, dass das Bedingte weder eine Eigenschaft noch ein Zustand, noch ein Theil, noch eine Wirkung, noch eine Vorstellung des Unbedingten ist.

 

Die Annahme, dass die gegebene Welt die Eigenschaften und Zustände des Unbedingten enthalte, kann auf zweifache Weise verstanden werden, entweder mit Spinoza unter der Voraussetzung, dass das Unbedingte Eins sei, oder mit dem gewöhnlichen Bewusstsein unter der Voraussetzung, dass das Unbedingte eine Mehrheit von Dingen oder Substanzen sei.

 

Nach Spinoza sollen bekanntlich Denken und Ausdehnnng, trotzdem dass sie völlig disparat sind, Attribute einer einzigen Gottessubstanz, welche ausserdem noch sehr viele uns unbekannte Attribute besitzt, und die einzelnen Dinge sollen modi oder Zustände der einen Substanz sein. Aber die Annahme vieler Eigenschaften und Zustände in dem einen Unbedingten ist logisch widersprechend. Denn in dem Unbedingten würde dieses Verschiedene unmittelbar, an sich eins sein (vgl. oben S. 189 ff.), und dies anzunehmen, ist ungereimt. Solche Annahmen, wie die Spinoza’s können nur von einem durchaus unkritischen Denken kommen, welches seine eignen Gesetze nicht kennt. Uebrigens werde ich auf die Lehre Spinoza’s in einem späteren Kapitel noch einmal zurückkommen.

 

Die gewöhnliche Ansicht, dass die gegebenen Erscheinungen Eigenschaften und Zustände vieler wirklicher Substanzen seien, beruht offenbar auf dem sinnlichen Schein, der uns in unseren eignen Sinnesempfindungen eine Welt von Substanzen (Körpern) vorspiegelt und welcher schon von uns

 

 


 

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beleuchtet worden ist. Würden wir die Eigenschaften und Zustände wirklicher Substanzen, also unbedingter Wesen kennen, so würden wir ja eben darin das Unbedingte selbst erkennen, was gerade nicht der Fall ist.

               

Dass das Bedingte nicht ein Theil des Unbedingten sein kann, erhellt ohne Weiteres von selbst. Denn in dem Theile eines Dinges würde man, zum Theil wenigstens, das Ding selbst erkennen, was factisch nicht statt findet.

 

Dass das Bedingte nicht eine Vorstelleng des Unbedingten ist, das braucht ebenfalls nicht weiter erwiesen zu werden. Denn wir haben eben von dem Unbedingten keine Vorstellung, oder vielmehr unsere Vorstellung des Unbedingten hat keinen realen Inhalt. Ausserdem besteht die gegebene Welt nicht allein aus Vorstellungen, sondern auch aus wirklichen vorgestellten Gegenständen, welche also nicht selbst als Vorstellungen von etwas Anderem gefasst werden können.

 

Bleibt noch die Annahme übrig, dass das Unbedingte die Ursache des Bedingten sei, dass das Verhältniss zwischen Noumenon und Phänomenon dasjenige von Ursache und Wirkung sei. Das ist die eigentliche Grund- und Hauptvoraussetzung, auf welcher alle Metaphysik beruht. Dieselbe ist dem menschlichen Bewusstsein so geläufig und natürlich und ihre Gewalt so unwiderstehlich, dass, wie ich weiter unten zeigen werde, selbst diejenigen Denker, welche die Anwendung des Causalbegriffs auf Noumena entschieden verwarfen, dieselben dennoch für die Ursachen der Phänomena hielten.

 

Das Verhältniss zwischen dem Bedingten und dem Unbedingten, zwischen der Welt der Erfahrung und dem Wesen der Dinge an sich kann nicht ein Verhältniss von Ursache und Wirkung oder von Grund und Folge sein. Denn die Erfahrung stellt uns ja die Dinge nicht so dar, wie sie an sich beschaffen sind, d. i. sie enthält Elemente, welche der Natur der Dinge an sich fremd sind und welche folglich ihren Grund in derselben nickt haben können. Demgemäss sehen wir denn auch, dass das Bedingte nicht als die Wirkung des

 

 


 

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Unbedingten und dieses nicht als die Ursache von jenem gedacht werden kann.

 

Es gibt bloss zwei bekannte Arten und Weisen, wie Objecte Ursachen und Wirkungen von einander sein können.

 

l) Eine Erscheinung, welche auf eine andere stets und unveränderlich folgt, deren Dasein in der Succession durch diese bedingt ist, nennt man die Wirkung derselben und diese letztere die Ursache jener.

 

2) Wenn ein Object A auf ein Object B einen modificirenden Einfluss ausübt, so nennt man den durch diesen Einfluss veränderten Zustand des B ebenfalls eine Wirkung von A und A die Ursache desselben.

 

Dass die letztere Art von der ersteren im Grunde gar nicht unterschieden ist, dass die eigentliche Ursache einer Veränderung nur eine andere Veränderung sein kann und dass das Causalverhältniss in nichts Anderem, als einer Unveränderlichkeit der Succession besteht, ist schon früher gezeigt worden. Hier will ich aber beide Fälle besonders betrachten.

 

Erstens nun ist klar, dass das Unbedingte sich zu dem Bedingten nicht wie ein Antecedens zu seinem Consequens verhalten kann. Denn da das Unbedingte ein ewiges Antecedens ist, so müsste dasselbe auch ein ewiges Consequens haben, wodurch also die Succession der beiden und mit dieser das Bedingtsein des einen durch das andere ausgeschlossen wäre. Einzelne Bestimmungen in der Welt des bedingten Daseins entstehen zwar fortwährend und haben auch ihre Ursachen oder beständigen Antecedentien innerhalb derselben Welt, aber von einem Entstehen dieser Welt selbst kraft irgend einer Ursache auch nur zu reden, ist widersprechend. Denn man nehme ein erstes Entstehen, eine erste Veränderung an, so müsste sie nothwendig unbedingt oder ursachlos sein. Es liegt ja auf der Hand, dass ein unveränderliches Object nicht das beständige Antecedens dieser Veränderung sein kann, da dasselbe vor dem Eintreten dieser unter genau

 

 


 

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gleichen Umständen eine unbestimmte, ja unendliche Zeit hindurch existirt hat, ohne sie zur Fole zu haben. Will man aber sagen, dass das Unbedingte die Ursache und doch nicht das beständige Antecedens des Bedingten sei, so weiss man selber nicht, was man behauptet. Denn man nimmt dann ein causales Verhältniss an, welchem in der Wirklichkeit gerade dasjenige abgeht, worin eine causale Verbindung zweier Dinge sich überhaupt geltend machen und woran man eine solche allein erkennen kann, nämlich die Unveränderlichkeit der Succession dieser Dinge. Eine Wirkung, welche nicht die beständige Folge ihrer vorausgesetzten Ursache ist, enthält nichts in sich, was eine Abhängigkeit von der letzteren ausdrückte. Sie Behauptung einer solchen ist daher vollkommen leer und sinnlos.

 

Wenn man also das Unbedingte als Ursache fassen will, so muss man es auf die zweite der oben angeführten Weisen thun. Darnach soll nicht das Unbedingte als solches das beständige Antecedens des Bedingten als solchen sein, sondern nur ein Zustand eines (unbedingten) Dinges soll das beständige Antecedens eines Zustandes in einem anderen Dinge sein. Das ist denn auch die gewöhnliche Ansicht. Denn man spricht zwar meistens von Dingen selbst als Ursachen, aber meint unter dieser Ursächlichkeit der Dinge stets eine causale Verbindung ihrer Zustände. So nennt man z. B. die Sonne Ursache des Tages oder die Flintenkugel Ursache des Todes des von ihr getroffenen Thieres, und meint damit bloss, dass das Erscheinen der Sonne den Tag zur nothwendigen Folge hat und der Stoss der Kugel den Tod des von ihr getroffenen Thieres. Man kann sich sehr wohl denken, dass das Feuer der Sonne erloschen sei, dann würde die Sonne nicht mehr Ursache des Tages sein, keinen Tag bewirken oder herbeiführen. Und noch leichter kann man sich die Flintenkugel in Ruhe denken oder in einer Bewegung, welche auf kein lebendes Wesen gerichtet wäre; dann würde die Kugel nicht Ursache des Todes sein. Es sind also nicht

 

 


 

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diese Dinge selbst, sondern nur bestimmte Zustände derselben, welche die Ursachen der erwähnten Wirkungen sind.

 

In dieser Auffassung ist nun das Unbedingte als solches nicht mehr die Ursache des Bedingten, sondern bloss der Träger oder die Substanz desselben. Das Bedingte bedeutet hier die Zustände der Dinge, welche nicht durch das Wesen der betreffenden Dinge selbst, sondern durch Zustände anderer Dinge bedingt sind. Wäre ein Ding selbst die Bedingung seiner eigenen Zustände, so würde offenbar darin der Unterschied der Bedingung und des Bedingten und mithin auch das Bedingtsein der Zustände wegfallen. Die eigenen Zustände eines Dinges können doch von diesem selbst nicht unterschieden sein, würden also ebensowenig wie dieses selbst bedingt sein, wenn sie nicht von etwas ausser dem Dinge abhingen. Daher nennt man diese bedingten Zustände eines Dinges blosse Accidenzien desselben, womit man aussagen will, dass dieselben zu dem Wesen des Dinges an sich nicht gehören, sondern diesem zufällig sind, also ein ihm fremdes Element enthalten. Aber dieses Aeussere, welches die Zustände eines Dinges bedingt, d. h. die unveränderlichen Antecedentien derselben abgibt, kann nicht das beharrliche eigene Wesen eines anderen Dinges oder mehrerer solcher sein. Denn beharrliche Antecedentien würden, allein genommen, nur ebenso beharrliche Folgen haben. Die Ursache eines Accidens in einem Dinge kann also nur ein Accidens eines anderen Dinges sein, und dieses Verhältniss setzt, wie oben bewiesen worden, eine Verbindung der Dinge und ihrer Zustände nach gemeinsamen unwandelbaren Gesetzen voraus.

 

Aber eine Verbindung unbedingter Gegenstände nach gemeinsamen Gesetzen, also auch causale Verhältnisse unter denselben widersprechen, wie wir wissen, dem Begriffe eines unbedingten Gegenstandes selbst, dem alle Relativität nothwendig fremd ist. Und gesetzt auch, eine Einwirkung wirklicher Dinge auf einander sei anzunehmen, so würde doch dadurch für die Beantwortung der Frage: Wie das uns in

 

 



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der Erfahrung Gegebene zu dem unbedingten Wesen der Dinge sich verhalte? welche Function desselben es sei? gar nichts gewonnen sein. Denn die Verhältnisse der Dinge unter einander können sein, welche sie wollen: eins ist gewiss, dass von denselben in unserer Erfahrung sich gar nichts vorfindet. Denn wo die Dinge selbst nicht vorkommen, da können natürlich auch keine Verhältnisse derselben angetroffen werden, da ein blosses Verhältniss doch nicht ausserhalb der sich verhaltenden Dinge bestehen kann. Ein causales Verhältniss zweier Dinge, A und B, bedeutet, dass ein Zustand des A das beständige Antecedens oder die beständige Folge eines Zustandes des B ist. Allein nirgends und niemals ist uns ein Zustand eines wirklichen Dinges gegeben. Denn mit ihren Zuständen würden uns ja die Dinge selbst gegeben sein, was notorisch nicht der Fall ist. Das unmittelbar Gegebene bilden, wie von allen Seiten anerkannt und zugegeben wird, unsere eigenen Empfindungen und inneren Zustände, und kein verständiger Mensch wird in diesen eine wirkliche Substanz, sei es eine innere Seelensubstanz oder eine äussere Körpersubstanz, anzutreffen glauben.

 

Die fundamentale Voraussetzung der Metaphysiker, dass das Unbedingte den zureichenden Grund des Bedingten, der Welt der Erfahrung enthalte und dass letztere aus demselben abgeleitet werden könne, ist also durchaus unhaltbar.

 

2. Nähere Präcisirung des Verhältnisses zwischen der Welt der Erfahrung und dem Unbedingten.

 

Im Vorhergehenden habe ich gezeigt, dass das Verhältniss der Welt der Erfahrung zum Unbedingten keinem uns bekannten Verhältnisse gleich ist. Aber die Erfahrung bietet dennoch ein Verhältniss, welches mit dem jetzt verhandelten zwischen »Ding an sich« und »Erscheinung«, zwischen dem Noumenon und dem Phänomenon einige Analogie hat. Das ist nämlich das Verhältniss, welches zwischen einem Gegenstand

 

 



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und einer unwahren Vorstellung desselben besteht. Wir werden daher das erstere am besten begreifen, wenn wir uns klar machen, worin es dem letzteren gleich ist und worin es sich von demselben unterscheidet.

 

Die Erfahrung stellt uns die Dinge nicht so dar, wie sie an sich beschaffen sind; dieselbe enthält Elemente, welche der Natur der Dinge an sich, fremd sind. Auf gleiche Weise stellt auch eine unwahre Vorstellung den Gegenstand nicht so vor, wie er an sich, in Wirklichkeit besehaffen ist; auch diese enthält Elemente, welche dem vorgestellten Gegenstande fremd sind.

 

In früheren Zeiten hat man z. B. die Erde für eine flache Ausdehnung gehalten, welche irgend wo in ungemessener Ferne ihre Grenzen hat und den Mittelpunkt des ganzen Universums bildet. Wir wissen nun, dass diese Vorstellung unwahr ist, dass der Erde darin Eigenschaften zugeschrieben werden, die sie in der That nicht besitzt, die ihr also fremd sind. Weder ist die Erde eine ebene Fläche noch bildet sie den Mittelpunkt der Welt.

 

Soweit ist die Analogie zwischen dem Verhältnisse einer unwahren Vorstellung zu ihrem Gegenstand und demjenigen der gegebenen Welt zum Unbedingten vollkommen, und man darf sagen, dass Kant zwischen diesen beiden Verhältnissen keinen Unterschied gemacht oder bemerkt hat. Denn bei Kant war das Wort »Erscheinung« gleichbedeutend mit »Vorstellung«; er dachte sich also unter Erscheinungen der Dinge an sich unwahre, mit deren Wesen nicht übereinstimmende Vorstellungen der letzteren. Allein diese Ansicht ist unhaltbar. Denn die Welt der Erfahrung besteht nicht bloss aus Vorstellungen, sondern auch aus Gegenständen. Zur Erscheinung gehört nicht bloss ein Subject, sondern auch ein Object. Schon im 2. Kapitel des ersten Buchs habe ich bewiesen, dass die Natur der Vorstellung selbst das Dasein ihr entsprechender Gegenstände verbürgt, dass namentlich unsere Sinnesempfindungen und Gefühle als wirkliche, von ihrer Vor-

 

 



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stellung verschiedene Gegenstände betrachtet werden müssen, obgleich sie keine »Dinge an sich«, keine unbedingten Gegenständw oder Substanzen sind. Nur dadurch kann unseren Erkenntnissen Wahrheit, d. h. Uebereinstimmung mit ihren Gegenständen zukommen. Eben dadurch ist aber auch in unseren empirischen Vorstellungen Unwahrheit, d. h. Nichtübereinstimmung mit ihren Gegenständen möglich. Gäbe es keine anderen wirklichen Gegenstände als »Dinge an sich«, so würden unsere Vorstellungen ganz ohne Gegenstand sein. Denn von Dingen an sich wissen wir nichts, ausser was in unserem Begriffe a priori davon liegt. Es würde dann folglich weder Wahrheit noch Unwahrheit, weder Uebereinstimmung noch Nichtübereinstimmung der empirischen Vorstellungen mit Gegenständen möglich sein. Wir können  aber mit Sicherheit Fälle nachweisen, wo unsere empirische Erkenntniss wahr ist, und wieder andere Fälle, wo sie sich als unwahr erwiesen hat. Es gibt also Gegenstände, an denen wir unsere Vorstellungen prüfen können, und diese Gegenstände sind natürlich empirische, in der Welt der Erfahrung liegende Objecte. Folglich besteht die Welt der Erfahrung nicht bloss aus Vorstellungen, sondern auch aus Gegenständen.

 

Wer glaubt, dass die Objecte unserer Erkenntniss Dinge an sich seien, der muss alles dem Wesen dieser Fremde oder mit demselben Nichtübereinstimmende in unsere Erkenntniss allein verlegen. Daher muss unter dieser Voraussetzung jedes dem Ansich der Dinge fremde Element in unserer Erfahrung als etwas gar nichts Objectives, sondern bloss Vorgestelltes aufgefasst werden. So sehen wir denn auch, dass Kant z. B. die Succession, den Wechsel der Erscheinungen für eine bloss subjective Form der Anschauung erklärte und gleichfalls den Grund der Relativität der Erscheinungen, ihres Zusammenhangs nach Gesetzen in der Natur des erkennenden Subjects suchte. So war auch Herbart bestrebt, den Wechsel des Gegebenen als einen blossen Schein hinzustellen und dessen Relativität als eine ihm an sich zufällige Bestimmung. Allein

 

 



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diese Ansichten Kant’s und Herbart’s sind unhaltbar. Sowohl die wesentliche Relativität der Erscheinungen als auch die Successionen derselben sind unzweifelhafte objective Facta. Wenn darin etwas dem Wesen der Dinge an sich Fremdes enthalten ist, so liegt dieses Fremde also in den gegebenen Gegenständen selbst, nicht bloss in unserer Erkenntniss derselben.

 

Aus alle dem ist nun zu ersehen, dass es auch wirkliche Objecte gibt, welche blosse Erscheinungen sind, einen der Vorstellung verwandten Zug enthalten, nämlich den, dass sie etwas von Unwahrheit in sich tragen. Dieses darf uns um so weniger überraschen, als auch eine Vorstellung selbst, ihrem realen Wesen und Dasein nach betrachtet, ebenfalls ein wirklicher Gegenstand ist. Auch eine Vorstellung kann man ja nicht für ein Nichts halten; dieselbe ist auch ein Object in der Wirklichkeit, wiewohl kein Ding an sich. Aber der Unterschied zwischen einer Vorstellung und einem eigentlichen empirischen Object ist der, dass die Vorstellung in der Erscheinungswelt einen Gegenstand hat, den sie so, wie er ist, vorstellen kann, während ein empirischer Gegenstand, eben weil er kein Ding an sich ist, das wahre Wesen der Dinge nicht (wie es ist) repräsentirt, obgleich er auf dasselbe hinweist.

 

Die empirischen Objecte, die »Erscheinungen« – nämlich die Sinnesempfindungen und die Gefühle der Lust und Unlust – könnte man daher opake Vorstellungen nennen, während die Vorstellungen ihrerseits gleichsam translucide Objecte sind. Daher kommt es auch, dass unsere Gefühle, wie wir oben (S. 221 ff.) gesehen haben, eine eigne Sprache reden, dass sie von etwas ausser ihnen Liegendem zeugen, eine dunkle Ahnung davon enthalten, welche allerdings nur in der Vorstellung zur klaren Einsicht werden kann. Dagegen ist freilich bei den objectiven Sinnesempfindungen, die wir als eine Körperwelt erkennen, die Opacität vollständig, so dass dieselben keine eigne Sprache reden, sondern in Allem einer Auslegung und Auffassung durch den intellect, bedürfen.

 

 



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Unsere Vorstellungen – mit Ausnahme des Begriffs a priori – beziehen sich also auf die empirischen Objecte, nämlich die Sinnesempfindungen und was sich aus diesen ergibt, wie Naturverhältnisse, -Gesetze, -Energien u. s. w. einerseits und andrerseits die Gefühle und was sich aus diesen ergibt, wie Wünsche, Bedürfnisse, Affecte, Leidenschaften u. s. w. Die empirischen Objecte aber beziehen sich auf das Wesen der Dinge an sich, sollen dieses repräsentiren, thun es jedoch nicht, weil sie weder selbst Dinge an sich, noch Vorstellungen solcher sind.

 

Wie nun – um bei dem einmal gewählten Beispiel eines Irrthums stehen zu bleiben – die Erde nicht daran schuld war, dass man sie früher für flach und für den Mittelpunkt der Welt gehalten hat, wie der zureichende Grund dieser irrthümlichen Vorstellung nicht in dem erkannten Gegenstande, der Erde selbst liegen konnte, – so kann auch der zureichende Grund der Erscheinungswelt nicht in dem Wesen der Dinge an sich liegen. Die Erscheinungswelt ist eben darum nicht die Welt der Dinge an sich, weil sie Elemente enthält, welche der Natur der Dinge an sich fremd sind. Aber was der letzteren fremd ist, das kann selbstverständlich seinen Grund in ihr nicht haben.

 

Als solche, der Natur der Dinge an sich fremde Elemente in der Erscheinungswelt haben wir bis jetzt die Relativität der empirischen Objecte, den Wechsel (die Veränderung) und das Uebel kennen gelernt. Von allen diesen enthalten die Dinge an sich nicht den zureichenden Grund, also auch nicht von dem Dasein der Erfahrungswelt selbst, deren Beschaffenheit durch jene Elemente wesentlich bestimmt ist. Und da nur dasjenige Ursache von etwas genannt werden darf, was den Grund seines Entstehens enthält, und alles Entstehen, d. h. alle Veränderung dem Wesen der Dinge an sich fremd ist, so sind dieselben mithin nicht die Ursache der Erscheinungen.

 

Das wahre Wesen der Wirklichkeit muss zu der Er-

 

 



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scheinung desselben in irgend einem Verhältnisse stehen; aber von dem, was dieses Verhältniss ist, können wir uns keinen Begriff machen. Sehr richtig sagt darüberKant: »Vom übersinnlichen Substrat der Natur.... können wir nichts bejahend bestimmen, als dass es das Wesen an sich sei, von welchem wir bloss die Erscheinung kennen« (Kritik der Urtheilskraft, herausg. von Kirchmann, S. 304).*)

 

Um sich davon zu vergewissern, brauchen wir nur dieses Verhältniss mit dem zwischen einer unwahren Vorstellung und ihrem Gegenstande bestehenden zu vergleichen. Auch eine unwahre Vorstellung enthält Elemente, welche dem vorgestellten Gegenstande fremd (irrthümlich) sind und ihren Grund in demselben nicht haben können. Aber wir können uns das Vorhandensein des Irrthums in der Vorstellung sehr wohl aus anderen Gründen erklären. Den Grund des Irrthums sehen wir in dem erkennenden Subjecte selbst und in den Einflüssen, welche dessen Urtheil irregeleitet haben. Hielt man früher die Erde für flach, so kam es daher, weil man sich zu sehr an das unmittelbar Erscheinende hielt, welches allerdings den Eindruck einer flachen Ausdehnung macht, und sich nicht fragte, warum die sichtbare Fläche stets rund begrenzt ist und bei Besteigen von Bergen sich immer mehr erweitert. Erst eine Rundreise um die Welt hat endlich den Irrthum beseitigt. Aber eine ganz andere Bewandtniss hat es mit der Welt der Erscheinung und den Elementen derselben, welche dem Wesen der Dinge an sich fremd sind und in diesem ihren Grund nicht haben. Für diese Elemente einen Grund aufzufinden, ist schlechterdings nicht möglich, da es ausser dem Wesen der Dinge selbstverständlich nichts gibt, woraus sie abgeleitet und erklärt werden könnten. Die Beschaffenheit der gegebenen

 

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*) Leider hat Kant im Widerspruch zu seiner besseren Einsicht den Dingen an sich Causalität zugeschrieben und in denselben mit der Menge den zureichenden Grund der Erscheinungswelt vorausgesetzt.

 

 


 

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Welt und ihr Verhältniss zum Unbedingten, zu dem Wesen der Dinge an sich ist also der Natur der Sache selbst nach unerklärlich und unbegreiflich.

 

Selbst wenn wir mit Kant annehmen würden, dass die Welt der Erscheinung aus blossen Vorstellungen bestehe, welche die Dinge nicht so vorstellen, wie sie an sich beschaffen sind, so würden wir niemals angeben können, woher diese Unwahrheit des Vorstellens kommt. Sagten wir, wie Kant, dass die Unwahrheit ihren Grund in dem Antheil des Subjects selbst an dem Erkennen, im den apriorischen Gesetzen desselben habe, so würden wir doch niemals zu begreifen vermögen, wie diese irreführenden Gesetze aus der wahren Natur der Dinge sich ergeben können. Ginge das erkennende Subject selbst mit allen seinen Eigenschaften und Gesetzen aus der Natur der Dinge an sich hervor, so müsste auch die Unwahrheit in seiner Auffassung der Dinge daraus hervorgehen, und dies ist schlechthin undenkbar. Denn die Dinge können nicht in ihrem wahren Wesen den Grund enthalten, auf eine Weise, wie sie an sich nicht sind, zu erscheinen. Es kann nicht, wie Hegel behauptet hat, in dem wahren Wesen der Dinge liegen, sich selbst zu verleugnen und in das Gegentheil umzuschlagen. Das Selbstverleugnen eines Gegenstandes ist vielmehr der factische Beweis dafür, dass derselbe nicht die normale Beschaffenheit hat, dass er Elemente enthält, welche dem wahren Wesen der Dinge fremd sind. Denn an sich, ihrem wahren oder eignen Wesen nach sind die Dinge mit sich selbst vollkommen identisch. Das Sichselbstverleugnen für die normale, ursprüngliche, unbedingte Eigenschaft der Dinge zu halten, ist der vollendete Nonsens. Der logische Widerspruch ist nicht, wie Hegel gelehrt hat, die wahre Form der Erkenntniss und des Denkens, sondern der Tod, die Selbstvernichtung desselben. Hier haben wir aber bloss die Wahl zwischen logischen Widersprüchen, d. h. einem Selbstmord des Denkens einerseits und der Anerkennung der Unbegreiflichkeit der Welt andrerseits. Wenn

 

 


 

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wir also wirklich denken wollen, ohne uns mit leeren Worten abzuspeisen, so müssen wir uns für das letztere entscheiden.

 

Als das Schlussergebniss dieses Kapitels können wir Folgendes hinstellen:

 

Es gibt überhaupt bloss zwei denkbare Wege zum Hinausgehen über das Gegebene, nämlich:

 

Erstens, durch den Schluss von dem Bedingten auf die Bedingung, oder was dasselbe ist, – denn alles Bedingte ist, wie wir wissen, blosses Geschehen – von der Wirkung auf die Ursache.

 

Zweitens, durch das Bewusstsein, dass die Dinge an sich, in Wahrheit nicht so beschaffen sind, wie wir sie in der Erfahrung erkennen.

 

Der erstere ist der Weg der Metaphysiker, der zweite ist der Weg der kritischen Philosophie. Nun hat es sich aber gezeigt, dass diese Wege niemals zusammenfallen können. Wo der eine hinführt, dahin kann der andere nicht führen, und was der eine leistet (oder zu leisten scheint), das kann der andere nicht leisten. Die fundamentale Voraussetzung der Metaphysiker ist, dass das Unbedingte den zureichenden Grund des Bedingten enthalte; sie machen es daher zu ihrer Hauptaufgabe, das Bedingte aus dem Unbedingten abzuleiten. Allein der Schluss auf die Ursache oder die Bedingung kann nie über die Erfahrung hinausführen und nie das Unbedingte erreichen, wie ich das oben schon gezeigt habe und weiter unten noch ausführlicher zeigen werde. Alles, was die Metaphysiker leisten, ist daher bloss eine imaginäre Erweiterung der Erfahrung. Ihr verschiedengestaltetes Unbedingtes oder Absolutes ist ebenso sehr ein empirischer Gegenstand, wie die Chimären und die Harpyen der alten Mythologie, und entspricht zugleich auch der Wirklichkeit ebenso wenig wie diese. Es sind eben beiderseits phantastische Zusammenstellungen eines in der Erfahrung aufgelesenen Inhalts. Der Weg der kritischen Philosophie dagegen geht

 

 


 

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zwar von dem wahren Begriffe des Unbedingten aus, führt aber zu dem Ergebniss, dass das Unbedingte mit keinem empirischen Gegenstand irgend eine Aehnlichkeit hat und nicht den zureichenden Grund des Bedingten enthalten, nicht die Bedingung desselben sein kann.