VIERTES KAPITEL.

BEWEIS DES OBERSTEN DENKGESETZES:

II) AUS DER NATUR DER VERAENDERUNG.

 

1. Ueber das Wesen der Veränderung.

 

Die Veränderung ist ihrem ganzen Wesen nach so räthselhaft und im Grunde so unbegreiflich, dass sie seit dem ersten Erwachen des selbstbewussten Lebens in der Menschheit nachdenkenden Leuten Verwunderung eingeflösst hat. Sogar manche ganz dem Practischen zugewandte Männer konnten oft bei der Betrachtung der Unbeständigkeit alles Daseienden, des Untergangs selbst der mächtigsten Schöpfungen der Natur und des menschlichen Geistes den Anwandlungen dieser speculativen Perplexität sich nicht entziehen. »Alles ist eitel, Alles ist nichtig« war die beständige Folgerung, welche aus diesen Betrachtungen hervorging. Wenn wir den Untergang eines Gegenstandes voraussehen, so können wir nicht umhin, sein künftiges Nichtsein in Gedanken schon in sein gegenwärtiges Dasein zu verlegen und den Gegenstand selbst als etwas zwischen Sein und Nichtsein Schwebendes anzusehen. Aber wie die Erfahrung aller Zeiten – mit Ausnahme etwa von Heraclit und Hegel – lehrt, widerstrebt es dem menschlichen Geiste ganz, zu glauben, dass das Nichtsein, die Negation irgend einen Antheil an dem wahren, eigenen Wesen der Dinge habe. Nur das Beständige, Beharrliche ist wahrhaft und wirklich, das ist so sehr die

 


 

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innere Ueberzeugung der Menschen, dass Einige sogar Beharrlichkeit und Existenz als gleichbedeutend fassen.*) Das Beständige ist gleichsam der Polarstern, auf welchen alle Bestrebungen des Geistes gerichtet sind. In diesem allein ist Ruhe, Wahrheit, Befriedigung. Was untergeht, verschwindet oder sich ändert, spricht sich selber das Urtheil, verkündet selbst, dass es nicht wahrhaft das war, was es zu sein schien, nämlich etwas Wirkliches und Bestimmtes. Was gestern von ihm wahr gewesen, ist heute schon unwahr geworden, es bleibt sich selber nicht gleich und treu, es ist weder dies noch das, es ist nichts. Daher war von jeher im Bewusstsein der Menschen der Wechsel ein Merkmal und fast ein Synonym der Unwahrheit.

 

Eine erstaunliche Energie hat dieses Bewusstsein bei manchen Denkern des Alterthums bewiesen, z. B. bei den Verfassern der Vedischen Upanischads und bei den Metaphysikern des Buddhismus in Indien, sowie in Griechenland bei den Eleaten. Alle diese erklärten geradezu die ganze veränderliche Welt für einen blossen Schein oder eine irrthümliche Meinung. In neuerer Zeit hat man sich nie so hoch verstiegen, denn die Erfahrung spricht jetzt mit zu mächtiger Stimme und fordert ihr Recht, – und die Erfahrung zeigt uns überall Wechsel und Veränderung. Aber es hat sich im vorigen Jahrhundert eine Lehre producirt, welche jener alten Leugnung alles Geschehens ziemlich nahe kommt; ich meine nämlich Kant’s Lehre von der sogenannten Idealität der Zeit, bei welcher ich vor aller weiteren Erörterung des Gegenstandes ein wenig verweilen muss.

 

Kant’s Lehre von der Idealität der Zeit besteht, wie man weiss, in der Behauptung, dass es in der Wirklichkeit gar keine Succession und Veränderung gebe, dass alle Suc-

 

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*) So z. B. Herbert Spencer in der Stelle seiner First Principles, welche mit den Worten anfängt: „By reality we mean persistence in consciousness“ (p. 226.)

 

 


 

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cession bloss eine Art sei, wie dem erkennenden Subjecte der Inhalt seiner Wahrnehmungen erscheint, wie das Subject seiner eigenen Natur zufolge das Gegebene vorstellen muss. Zeit und Succession ist nach Kant eine dem Subjecte allein angehörende und anhängende Form der Anschauung, oder der Receptivität, oder auch des »inneren Sinnes«. Ein anders organisirter Geist als der unsrige würde nach Kant’s Ansicht in demselben Stoffe, welcher uns successiv zu sein scheint, gar keine Succession bemerken.

 

Diese Lehre Kant’s hat weder Wahrheit noch Consequenz. Es ist nicht zulässig, die Wirklichkeit des wahrgenommenen Inhalts zuzugeben und zugleich seine Veränderungen zu leugnen. Entweder muss man, wie jene alten Denker, beides leugnen, oder aber beides anerkennen, denn beides ist von einander unzertrennlich. Ebenso unmittelbar wie der wahrgenommene Inhalt selbst gegeben ist, sind auch Successionen in demselben gegeben.

 

Kant war zu der richtigen Einsicht von der Idealität oder der Subjectivität der Raumvorstellung gekommen; seine Liebe zur Symmetrie liess ihn aber dabei nicht ruhen, sondern er musste auch die Zeitvorstellung in denselben Säckel hineinzwängen. Was von dem Raume gilt, musste unbedingt auch von der Zeit gelten, da sie ja beide manches gemeinsame oder übereinstimmende Merkmal haben. Es fiel Kant nicht ein, dieses Uebereinstimmende könnte möglicherweise daher kommen, dass die eine Vorstellung auf irgend eine Weise an dem Zustandekommen der anderen betheiligt ist. Merkwürdig ist es, dass man Kant noch vor dem Erscheinen seiner Kritik der reinen Vernunft ganz verständige Einwendungen gegen dieses Zusammenwerfen von Raum und Zeit gemacht hat. Man machte ihn auf den Umstand aufmerksam, dass, was sonst auch zweifelhaft sei die Realität unserer Vorstellungen selbst nicht bezweifelt werden könne, und diese sind offenbar selbst successiv, folgen unstreitig in Wirklichkeit aufeinander. Aber Kant wollte durchaus nicht den

 

 


 

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Nerv dieser Einwendung fassen. Man sehe darüber die in seiner K. d.r. V. unter [section] 7 eingerückte »Erläuterung«. Dort behauptet er, dass die Succession der Vorstellungen in keiner Weise unterschieden sei von unserer Vorstellung der Succession. »Ich kann zwar sagen: meine Vorstellungen folgen einander: aber das heisst nur, wir sind uns ihrer als in einer Zeitfolge, d. h. nach der Form des inneren Sinnes bewusst. Die Zeit ist darum nicht etwas an sich selbst, auch keine den Dingen objectiv anhängende Bestimmung« (Eb. S. 86).

 

Nun ist es aber erstens klar, dass ich von einer Succession als solcher nichts wissen kann, wenn ich die aufeinanderfolgenden Glieder derselben nicht zugleich in meinem Bewusstsein habe (vgl. oben S. 52). Die Vorstellung einer Succession ist also selbst gar nicht successiv, folglich auch von der Succession unserer Vorstellungen durchaus verschieden. Zweitens implicirt die Annahme Kant’s so offenbare Absurditäten, dass es Einen Wuncier nimmt, wie er sie unbeachtet lassen konnte. Cäsar und Sokrates sind nach dieser Annahme nicht wirklich todt, sie leben noch ebensogut wie vor zweitausend Jahren und scheinen bloss todt zu sein infolge einer Einrichtung meines »inneren Sinnes*) Künftige Menschen leben jetzt schon, und wenn sie jetzt noch nicht als lebend hervortreten, so ist daran ebenfalls jene Einrichtung des »inneren Sinnes« schuld. Hier fragt es sich vor allen Dingen: Wie kann der Anfang und das Ende des bewussten Lebens selbst, mitsammt allen seinen inneren und äusseren Sinnen bloss in der Auffassung des inneren Sinnes existiren? Thatsache ist eben, dass man die Realität der Veränderung durchaus nicht ableugnen kann. Wird sie zum Fenster hinausgewiesen, so schlüpft sie durch das Schlüsselloch wieder herein. Man sage: »Es scheint

 

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*) Wenn Sokrates einmal wirklich gelebt hat und darauf wirklich gestorben ist, so ist das offenbar eine objective, von meiner Anschauung und meinem „innern Sinn“ vollkommen unabhängige Veränderung oder Succession.

 

 


 

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mir bloss, dass Zustände und Vorstellungen wechseln«, – so ist doch dieser Schein selbst etwas objectiv Vorhandenes und in ihm hat die Succession unzweifelhaft objective Realität, es folgt darin etwas wirklich aufeinander.*)

 

Die Lehre Kant’s von der Idealität der Zeit hatte zwar

 

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*) Schon in der Einleitung habe ich erwähnt, dass Kant dieser seiner Lehre von der Succession nicht treu blieb. So sagt er in der Kr. d. r. Vft. (S. 47), dass „Veränderung ein Begriff ist, der nur aus der Erfahrung gezogen werden kann“, und dann weiter in dem sog. „Beweis“ der ersten Analogie der Erfahrung (S. 202), dass in den Erscheinungen ein „Substrat“ müsse angetroffen werden, „welches die Zeit überhaupt vorstellt, und an dem aller Wechsel oder Zugleichsein durch das Verhältniss der Erscheinungen zu demselben in der Apprehension wahrgenommen werden kann“. Auf dieser Voraussetzung, dass Successionen ohne die Wahrnehmung von etwas Beharrlichem nicht wahrgenommen werden können, gründet sich auch seine vermeintliche „Widerlegung des Idealismns“ (S. 236). Auch auf Seite 247 kommt die Aeusserung vor, dass „alle Veränderung etwas Beharrliches in der Anschauung voraussetzt, um auch selbst nur als Veränderung wahrgenommen zu werden.“ Ist dem aber so, ist die Erkenntniss der Veränderung durch die Wahrnehmung von etwas Beharrlichem vermittelt, so bedeutet dies eben, dass Veränderungen oder Successionen nicht unmittelbar als solche wahrgenommen, sondern nur erschlossen werden können. Nach Kant’s „transc. Aesthetik“ dagegen soll die Veränderung oder Succession nicht bloss unmittelbar in der Anschauung erkennbar sein, sondern ausserhalb der Anschauung überhaupt gar nicht existiren.

 

Ausserdem muss man bemerken, dass die ganze Kritik der Vernunft ja nur unter der Voraussetzung Grund und Recht haben kann, dass uns unsere Vorstellungen selbst so erscheinen, wie sie sind. Denn wenn auch die Vorstellungen uns anders erschienen, als sie wirklich sind, so würde man auch über diese keine gültige Behauptung aufstellen, also keine Erkenntnisstheorie und keine „transcendentale“ Untersuchung von objectiver Gültigkeit zu Stande bringen können. Nun steht es aber ausser Zweifel, dass uns unsere Vorstellungen selbst als successiv erscheinen. Wenn Kant die Zeit nicht für etwas Wirkliches gelten lassen wollte, so hatte er vollständig Recht. Denn die Zeit ist eine blosse Abstraction aus den realen Successionen und kann ohne dieselben (d. h. als leere Zeit) gar oicht vorgestellt werden. Aber die Realität der gegebenen Successionen selbst zu bestreiten, war ein gar wunderliches Unternehmen.

 

 


 

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einen Grund, den man aber bei ihm am allerwenigsten erwartet hätte. Man sollte nämlich glauben, dass Kant, der ein solches Gewicht auf die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung legte, sich auch klar machen werde, was er unter einer Erscheinung meine und welche Realität er der Welt der Erscheinungen zugestehe. Allein dieses gerade war nicht der Fall. Erscheinungen erklärte er überall für blosse Vorstellungen, aber er unterschied nicht diese zwei ganz heterogene Dinge: »Eine Vorstellung sein« und »bloss vorgestellt werden« oder »nur in der blossen Vorstellung existiren Er unterschied nicht die Vorstellung selbst, als einen objectiven Vorgang oder Gegenstand, von demjenigen, was in ihr abgebildet oder vorgestellt wird. Er nahm daher bloss zweierlei Arten von Gegenständen an: 1) Dinge an sich, welche ganz unabhängig von der Vorstellung existiren, und 2) Gegenstände, welche nur in der Vorstellung existiren, und also kein objectives Dasein haben. Er besann sich nicht darauf, dass ausser den Dingen an sich und den Dingen für uns, welche in der blossen Vorstellung existiren, es noch eine dritte Art von Gegenständen gibt, welche weder das Eine noch das Andere sind, welche wirklich existiren und doch nicht als »Dinge an sich«, – namentlich wenigstens wir, die erkennenden Subjecte, selbst und unsere Vorstellungen. Wie diese Verwechselung zu seiner Lehre von der Idealität der Zeit geführt hat, ist klar. Da die Zeit oder die Succession nicht als eine Bestimmung der »Dinge an sich« gefasst werden durfte, so musste sie infolge jenes Missverständnisses als etwas bloss Vorgestelltes und gar nicht objectiv Daseiendes behauptet werden.

 

Die Realität der gegebenen Successionen oder Veränderungen zu leugnen, kann uns nicht mehr beifallen, weder im Sinne der erwähnten alten Philosophen noch im Sinne Kant’s. Denn was dürften wir für wirklich halten, wenn die Thatsachen selbst es nicht wären? Aber der Umstand, dass Veränderung von denkenden Menschen geleugnet worden ist, hat eine tiefe             

 

 


 

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Bedeutung. Darin spricht sich das innige Bewusstsein der Menschheit aus, dass Veränderung, Wechsel, Succession nicht zu dem eignen, wahren Wesen der Dinge gehören kann. Und dieses Bewusstsein ist die Folge des fundamentalen Gesetzes unseres Denkens, wie aus dem Nachstehenden erhellt.

 

Der positive Ausdruck unseres Denkgesetzes lautet bekanntlich so:

 

In seinem eigenen Wesen ist ein jeder Gegenstand mit sich selbst identisch.

 

Aber Veränderung ist, das Gegentheil von Identität mit sich. Was sich ändert, das ist sich selbst nicht gleich. Wo Identität mit sich besteht, da kann keine Veränderung sich ereignen und nicht einmal irgend ein Keim oder Anlass zu einer Veränderung liegen. Dem Grundgesetze unseres Denkens zufolge ist also alle Veränderung dem Wesen der Dinge an sich fremd.

 

Dies ist eine höchst wichtige Einsicht und wir wollen dieselbe daher noch auf einem anderen Wege zu erhärten suchen.

 

2. Beweis, dass die Veränderung nicht zu dem eigenen Wesen der Dinge gehört.

 

Die zu entscheidende Frage lautet, mit Herbart’s Worten ausgedrückt, so: Ob ein »absolutes Werden« denkbar sei? Ob »der Wechsel selbst als die Qualität dessen anzusehen sei, was ihm unterworfen ist

 

Nehmen wir versuchsweise an, dies sei der Fall, um zu sehen, welche Forderungen diese Annahme implicirt. Zuerst will ich Herbart das Wort lassen, der diese Frage in seinem Lehrbuch zur Einleitung, § 108 behandelt hat. Nach seiner Ansicht enthält die Voraussetzung des »absoluten Werdens« folgende Bestimmungen:

 

»Zuvörderst, dass es (das Wirkliche) nicht einmal sich ändere, ein andermal beharre, sondern dass der Wechsel be-

 

 


 

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ständig fortgehe, aus aller Vergangenheit in alle Zukunft, ohne Anfang, ohne Absatz, ohne Ende. Ferner, dass er mit gleicher Geschwindigkeit continuirlich anhalte; also dass in gleichen Zeiten allemal ein gleiches Quantum der Umwandlung vollbracht werde. Endlich dass die Richtung der Veränderung stets die gleiche sei und bleibe, wodurch das Rückwärts- und wieder Vorwärtsgehen, das Wiederholen früherer Zustände gänzlich ausgeschlossen ist.« (Eb. S. 146.)

 

Herbart hat hier leider den eigentlichen Nerv der Sache ganz verfehlt. Eine Gleichförmigkeit der Richtung und der Geschwindigkeit ist weit entfernt, von dem Begriffe des »absoluten Werdens« gefordert zu werden, sie widerspricht vielmehr demselben, weil sie einen Zusammenhang des Successiven voraussetzt. Was will man denn aber eigentlich sagen, wenn man behauptet, der Wechsel, die Succession, die Veränderung sei die eigene, unbedingte Beschaffenheit der Dinge oder der Wirklichkeit? Vor allem Anderen offenbar dieses: Dass die Dinge nicht bloss zum Schein, sondern wirklich, d. h. aus dem Nichts entstehen und wirklich vergehen, d. h. in das Nichts schwinden, also auch keinen Zusammenhang unter einander haben. Denn wäre dies nicht der Fall, so wäre eben Alles in der That zugleich vorhanden; das Wirkliche würde also eine von dem Wechsel an sich gar nicht berührte Beschaffenheit haben. Alle Veränderung würde dann eine blosse Bewegung seiner Theile gegen einander bedeuten oder ein Anfeinanderfolgen bloss in der Auffassung eines Zuschauers, ähnlich dem Vorübergehen der Bilder in einem Panorama. Dann würde aber der Wechsel, die Veränderung nicht die eigene Qualität des Wirklichen ausmachen.

 

Aber wir müssen die Sache in ihrer ganzen Allgemeinheit fassen. Allgemein gefasst ist nun ein absolutes Werden oder Geschehen nichts mehr noch weniger, als eine Veränderung ohne Ursache. In keiner Hinsicht und Acception kann der Ausdruck »absolutes Werden« einen anderen denkbaren Sinn haben Denn »Werden« und »Veränderung« sind

 

 


 

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gleichbedeutend, und »absolut« ist eine Veränderung eben nur dann, wenn sie ohne Ursache geschieht. Hätten die berühmten Denker Herbart und Hegel dieses einfache Factum vor Augen gehabt, so hätten sie sich sehr viele irrthümliche Auseinandersetzungen über das absolute Werden ersparen können. Hegel hätte dann freilich sein ganzes System fallen lassen müssen, welches ja auf der Voraussetzung eines absoluten Werdens beruht. Denn dass kein Werden, d. h. keine Veränderung absolut ist, dies beweist eben die allgemeine Herrschaft des Gesetzes der Causalität.

 

Im Grunde kann man jedoch unter dem absoluten Werden nichts Anderes, als ein Entstehen aus Nichts denken, und zwar aus folgendem Grunde:

 

Wenn ein Gegenstand A von selbst, ohne Ursache sich veränderte, in eine neue Qualität, oder Beschaffenheit B einginge, so würden allerdings von vornherein zwei Fälle denkbar sein. Entweder nämlich müsste man annehmen, dass die Qualität B schon ursprünglich in A gelegen hat, zu dessen eigenen Wesen gehört, oder aber, dass sie demselben fremd und neu ist. Allein im ersten Fall würde eine Veränderung factisch unmöglich sein. Denn wenn A ursprünglich, an sich schon B wäre, so könnte es nicht erst zu B werden, das Vorhandensein von B in ihm würde keine vorhergehende Veränderung seines Wesens impliciren. Es bleibt also bloss die andere Voraussetzung übrig, dass die Qualität B dem Gegenstande A fremd ist. Dann würde die Annahme »A ist ohne Ursache zu B geworden« gleichbedeutend sein mit der Annahme »B ist in A aus Nichts entstanden«. Denn die Qualität B würde dann keinen realen Grund, weder in A selbst noch in einer Ursache ausser demselben, haben.

 

Die äusserste Annäherung an die Behauptung oder Auffassung des Wechsels als der eigenen, unbedingten Qualität der Dinge ist also die Voraussetzung, dass der Inhalt des Wirklichen selbst (nicht die blossen Formen desselben) aus dem Nichts entstehe und wirklich vernichtet, werde. Ein

 

 


 

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solches Entstehen und Vergehen würde natürlich an keine Ursachen und keine Gesetze gebunden sein. Denn wie das Nichts selbst keine Beziehung auf etwas Daseiendes haben kann, ebensowenig kann auch das aus ihm Entstehende eine solche enthalten. Das wäre also in der That ein unbedingtes Geschehen, ein »absolutes Werden«. Ob nun der Gedanke eines solchen Geschehens irgend einen verständlichen Sinn habe oder nicht, davon wird weiter unten die Rede sein; hier mache ich vorerst auf Folgendes aufmerksam.

 

Selbst ein solches Geschehen angenommen, ist es doch nicht möglich, Inhalt und Form des Wechsels mit einander zu identificiren, den Wechsel selbst als die eigene Beschaffenheit des Wechselnden (des in der Wirklichkeit Aufeinanderfolgenden) zu denken. Denn wenn das Reale aus dem Nichts entsteht und ins Nichts verschwindet, so ist also der eigentliche, beharrliche Repräsentant und Kern der Realität nicht dasjenige, was entsteht und vergeht, sondern bloss die Form des Wechsels, der Veränderung. Allein für diese Form ist es eben gleichgültig, was da entsteht und vergeht, wenn nur Verschiedenes aufeinanderfogt. Man hat hier also nur die Wahl zwischen zwei Annahmen: Man muss entweder behaupten, dass die Form des Wechsels oder der Veränderung dem Realen, welches in ihr gegeben ist, an sich fremd und zufällig sei; oder umgekehrt, dass diese Form selbst das eigentliche Reale und der wechselnde Inhalt ein blosses Accidens derselben sei. Aber Inhalt und Form des Wechsels in einem untheilbaren Begriffe zu vereinigen, ist schlechterdings nicht möglich. Denn der Wechsel, die Succession ist in Wahrheit gar nicht selbst eine besondere Form des Wirklichen, sondern bedeutet vielmehr umgekehrt die sich thatsächlich bewährende Zufälligkeit der Formen, in welchen das Wirkliche gegeben, ist d. h. die Nichtzugehörigkeit dieser Formen zu dem eigenen, ursprünglichen Wesen desselben.

 

Nur auf eine einzige Weise kann die Succession selbst als eine dem successiven oder aufeinanderfolgenden Inhalte

 

 


 

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wesentliche Bestimmung sich erweisen, nämlich nur dann, wenn das Successive unter einander zusammenhängt. Durch den Zusammenhang erhält jedes Element in der Succession seinen festen bestimmten Platz und wird mithin zu einem integrirenden Bestandtheil derselben. Aber wenn Verschiedenes unter einander in Gemeinschaft steht, so ist es nothwendig an sich zugleich vorhanden, sein Entstehen und Vergehen mithin blosse Erscheinung. Denn wenn alle die verschiedenen Dinge wirklich, d. h. aus dem Nichts entstünden, so würde eben das einzige Gemeinschaftliche unter denselben das Nichts sein, was mit anderen Worten bedeutet, dass sie nichts Gemeinsames miteinander haben würden.

 

Allein die Annahme des Entstehens eines realen Inhalts aus Nichts ist in der That widersprechend, ja sie ist sinnlos. Denn damit wird behauptet, dass das Nichts sich verändere, zu einem Etwas werde, was eine offenbare Verwirrung der Begriffe anzeigt. Eine vernünftige Veranlassung und Berechtigung von einem Entstehen aus Nichts zu sprechen, würden wir nur dann haben, wenn uns die Erfahrung darauf hingewiesen hätte. Aber dieses gerade ist ganz und gar nicht möglich. Denn um aus Erfahrung zu wissen, dass etwas aus Nichts entstanden sei, müssten wir ja die Erfahrung des Nichts selber haben, was eine offenbare Unmöglichkeit ist. Wenn wir nicht wissen, woher etwas Entstandenes gekommen ist, so dürfen wir eben auch nichts weiter behaupten, als dass wir es nicnt wissen. Dasselbe könnte aus einem Gebiete des Daseins gekommen sein, welches für uns unzugänglich und von dem Bereich unserer Erfahrung verschieden ist. Das ist wenigstens die einzige vernünftige, zulässige Voraussetzung, zumal wenn wir uns erinnern, dass alles in der Erfahrung Gegebene nach Gesetzen zusammenhängt, was jede Berufung auf das Nichts von vornherein ausschliesst

 

Das Gerede von einem Entstehen aus Nichts hat keinen anderen Grund, als die Neigung der Menschen, dasjenige, was durch ein besonderes Wort bezeichnet wird, auch für ein

 

 


 

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besonderes Ding zu halten. Man vergisst dabei, dass wir auch für blosse Negationen Worte haben, welche also gar nicht dazu bestimmt sind, etwas Wirkliches, sondern nur die Abwesenheit desselben zu bezeichnen. Und das Nichts ist eben nichts Anderes, als die reine Negation, welche ausser dem Denken nirgends existirt. Es thut mir wirklich leid, erwähnen zu müssen, dass auch ein Denker wie Stuart Mill dem Entstehen aus Nichts das Wort redet.*) Er will dasselbe nicht etwa als eine Thatsache und eine Wahrheit anerkannt wissen, aber er hält die Denkbarkeit desselben den Anhängern apriorischer Einsichten entgegen. Allein es bedarf zu der Verwerfung eines Entstehens aus Nichts nicht einmal apriorischer Einsichten, da die Behauptung desselben offenbar bloss auf einem Missbrauch der Worte beruht.

 

Wenn nun sogar die Annahme eines Entstehens des Inhalts selbst der Welt aus Nichts nicht hinreicht, um den Wechsel als die eigene Beschaffenheit desselben erkennen zu lassen, so kann jede andere Auffassung noch weniger dazu ausreichen. Denn bei jeder anderen Auffassung wird der Inhalt oder Stoff der Wirklichkeit als in aller Ewigkeit zugleich existirend angenommen, und der Wechsel betrifft dann also die blosse Form, die Art der Zusammensetzung und des gegenseitigen Verhältnisses der realen Elemente oder aber ihres Verhältnisses zu einem erkennenden Subjecte.

 

Hier sind nun bloss zwei Annahmen möglich: 1) Entweder ist das wirkliche unter einander nach Gesetzen verbunden, oder 2) dasselbe enthält gar keine gegenseitige Beziehung auf einander, ist eine Welt von vollständig isolirten Monaden, deren jede unbedingt und von anderen unabhängig existirt.

 

Was die erste Annahme betrifft, so ist schon im vorigen

 

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*) Siehe „System der Logik“, 2. Bd. S. 336 [p. 319]. In seinen Anmerkungen zu dem Werke seines Vaters, Analysis of the Phenomena etc. II. p. 105, sagt Stuart Mill: „Nothing is a name of the state of our consciousness when we are not aware of any object or of any sensation.“

 

 


 

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Kapitel nachgewiesen worden, dass alle Verbindung des Verschiedenen nach Gesetzen bedingt, d. h. dem eigenen, ursprünglichen Wesen der Dinge fremd ist. Wäre Verschiedenes an sich, seinem eigenen Wesen nach eins, so wäre es nothwendigerweise auch unmittelbar, als Verschiedenes, eins und könnte also nicht von einander gesondert auftreten. Aber in aller Succession kommt das Verschiedene getrennt zum Vorschein. Denn wenn das eine Glied einer Succession vorhanden ist, so sind eben die übrigen Glieder entweder noch nicht ins Dasein gekommen, oder sie sind schon vergangen, abgetreten. Wenn also das Verschiedene in der Succession unter einander zusammenhängt, so ist es nicht unbedingt, seine successive Beschaffenheit gehört nicht zu dem ursprünglichen Wesen der Dinge.

 

In ebendemselben Falle würde das Wirkliche offenbar auch stehen, wenn die Veränderung, die Succession des Gegebenen bloss in seinem Verhältnisse zu einem erkennenden Subjecte sich realisirte. Denn durch dieses gemeinsame Verhältniss schon würde das Verschiedene der gegebenen Welt unter einander verbunden sein und würde auch durch dasselbe, sowohl im Ganzen wie im Einzelnen, besonders was das Element des Wechsels oder der Veränderung in ihm betrifft, bedingt sein, wie es ja die Voraussetzung selbst implicirt. Wenn eine Veränderung des Gegebenen bloss in seinem Verhältnisse zu einem erkennenden Subjecte zu Stande kommen kann, so ist sie selbstverständlich durch dieses Verhältniss bedingt, kann unabhängig von demselben, in dem wahren Ansich des gegebenen Inhalts sich nicht ereignen, ist vielmehr diesem ganz fremd.

 

Bleibt mithin noch die Annahme einer Welt von isolirten einfachen Monaden übrig, da alle Vereinigung des Verschiedenen sich als bedingt erwiesen hat. Aber in einer solchen Welt dürfte von einer Veränderung vollends gar nicht mehr die Rede sein. Eine Veränderung in einer einfachen Monade würde, wie Herbart richtig gezeigt hat, einen offenbaren

 

 


 

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Widerspruch ausmachen.*) Man kann dabei höchstens von einer blossen Bewegung der Monaden sprechen, d. i. einer Veränderung ihrer gegenseitigen Lage im Raume, welche ihre innere Beschaffenheit ganz unberührt liesse. Allein hier kommen wir auf ein Gebiet, welches eigentlich in unsere gegenwärtige Untersuchung noch nicht einschlägt, nämlich zu der Frage, ob bei wirklichen (nicht bloss erscheinenden) Dingen oder Substanzen eine Bewegung überhaupt denkbar und möglich sei. Nimmt man eine ursprüngliche, unbedingte, gleichsam angeborene Tendenz der Dinge zur Bewegung an, so müsste sie jedenfalls eine bestimmte Richtung haben. Denn da eine Bewegung nicht möglich ist, welche in keiner Richtung erfolgte, so müsste eine Prädisposition zur Bewegung auch eine Vorherbestimmung ihrer Richtung mit einbegreifen. Aber eine bestimmte Richtung setzt offenbar eine Beziehung nach aussen voraus, und die Annahme einer solchen angeborenen äusseren Beziehung widerspricht augenscheinlich dem Begriffe beziehungsloser, unbedingter Substanzen. Nimmt man dagegen an, dass die Dinge von aller Ewigkeit her in einer zufälligen Bewegung sich befinden, welche in ihrem Wesen nicht begründet und prädisponirt ist, so sagt man eben damit, dass die Bewegung dem ursprünglichen, eigenen Wesen der Dinge fremd ist.

 

Nach welcher Seite wir uns also auch hinwenden mögen, überall tritt uns dasselbe Resultat entgegen. Wechsel und Veränderung gehören nicht zu der eigenen, wahren, unbedingten Beschaffenheit der Dinge. Unsere Untersuchung hat bloss dasjenige bestätigt, was die Intuition aller nachdenkenden Menschen von jeher begriffen und ausgesagt hat. Das Wechselnde, Veränderliche ist nicht das Wahre und Ursprüngliche; es verleugnet sich selbst, flieht sich, gibt sich selber auf. Der Untergang ist eben die einzige Art, wie das Wirkliche, Daseiende selbst, thatsächlich seine Unwahrheit bezeugen kann.

 

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*) Man vergleiche darüber den § 227 seiner Allgemeinen Metaphysik..

 

 


 

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Der Wechsel, welcher in der Welt der Erfahrung herrscht, ist also gleichsam das spontane, selbsteigene Zeugniss der Erfahrung dafür, dass sie das Wirkliche nicht so darstellt, wie es an sich, seinem eigenen Wesen nach beschaffen ist, dass sie Elemente enthält, welche der Natur der Dinge an sich fremd sind.

 

Die vorhergehenden speculativen Erörterungen darf man zwar nicht als den eigentlichen factischen Beweis aus der Natur der Veränderung für die Gültigkeit unseres Denkgesetzes betrachten. Der eigentliche factische Beweis liegt in etwas Anderem, nämlich in dem Gesetze der Causalität, welches erfahrungsmässig alle Veränderungen ohne Ausnahme beherrscht und dessen logisches Verhältniss zu dem Grundgesetz unseres Denkens in einem besonderen Kapitel ausführlicher dargelegt wird. Aber jene Erörterungen werden dazu dienen, die Einsicht in den Zusammenhang anzubahnen, welcher zwischen der Herrschaft des Gesetzes der Causalität und dem Umstande, dass jede Veränderung dem Wesen der Dinge an sich fremd ist, – was wir unserem Denkgesetze gemäss folgern müssen – besteht. Diesen Zusammenhang zu begreifen, ist wichtig. Denn in demselben ist der Zusammenhang zwischen der wahren Speculation und der Erfahrung in deren wissenschaftlichen Form gegeben. Die anderen Zeugnisse der Erfahrung für die Gültigkeit unseres Denkgesetzes haben, wenn sie auch ebenso überzeugend sind, doch nicht die exact wissenschaftliche Form, welche dem Gesetze der Causalität eigen ist.

 

Die speculativen Erörterungen des gegenwärtigen Kapitels bieten jedoch einen selbständigen Beweis unseres Denkgesetzes aus der Natur der Veränderung und durften zumal in der gegenwärtigen Zeit, wo der Geist philosophischer Speculation selbst aus Deutschland, ihrer alten Heimath verschwunden zu sein scheint, in keinem Fall unterlassen werden.