DENKEN
UND
WIRKLICHKEIT.
VERSUCH EINER ERNEUERUNG DER KRITISCHEN PHILOSOPHIE,
AFRIKAN SPI R.
ERSTER BAND.
DAS UNBEDINGTE.
ZWEITE, UMGEARBEITETE AUFLAGE .
LEIPZIG.
J.G.FINDEL
1877. 


VIERTES KAPITEL.
VON DER ERKENNTNISS EINER AEUSSEREN WELT.
1. Kurze Uebersicht der Theorien.

Schon im 1. Kapitel habe ich die Gründe angegeben, welche mir eine Untersuchung über den Ursprung unserer Erkenntniss einer Körperwelt an dieser Stelle des Werkes als nöthig erscheinen lassen. Daher darf ich jetzt ohne Weiteres an die Sache selbst gehen.
Ueber die äussere Welt selbst und über die Erkenntniss derselben gibt es eine Menge verschiedener und widerstreitender Ansichten. Eine Zusammenstellung mehrerer derselben hat Hamilton gegeben und diese wurde auch von Stuart MM in das 10. Kapitel seines Werkes` über die Philosophie Hamilton's aufgenommen. Einen kurzen Abriss dieser Zusammenstellung will auch ich hier anführen; denn sie kann dazu beitragen, eine Einsicht in den Stand und die Schwierigkeiten der Forschung über diesen Gegenstand zu eröffnen.
Der grösste und fundamentalste Gegensatz besteht zwischen den Denkern, welche das Dasein eines von dem Gegebenen unterschiedenen und unabhängigen Substrats der Wirklichkeit (nach Kant's Ausdrucksweise eines »Dinges an sich« oder eines »Noumenon«) überhaupt annehmen, und denjenigen, welche behaupten, dass es ausser den Gefühlen, Empfindungen und Gedanken der erkennenden Subjecte gar nichts Wirkliches gebe, wenigstens nichts, was in irgend einer Beziehung zu uns stände und von uns in Betracht gezogen


Die Erkenntniss der äusseren Welt.  111

werden müsste. Die Ersteren nennt Hamilton - Realisten oder Substantialisten, die Letzteren heisst er Nihilisten; man weiss nur freilich nicht mit welchem Recht, da ja die Wirklichkeit, welche dieselben als die einzige existirende zugeben, doch in keinem Falle für ein Nichts gehalten werden kann. Hier sehen wir wieder die Verwechselung eines realen Objects mit einer Substanz.
Die Lehren der Realisten zerfallen in viele Abtheilungen und Unterabtheilungen. Der erste Unterschied ist zwischen den Denkern, welche ein gleichartiges Substrat der Wirklichkeit (»Ding an sich«) und denen, welche ein dem Wesen nach zweifaches Substrat annehmen. Die Ersteren heissen bei Hamilton Unitarier oder Monisten, die Letzteren - Dualisten.*)
Die Lehre der Unitari er oder Monisten zerfällt wiederum in drei Unterabtheilungen : 1) Diejenige, welche dem Ich allein ein reales Substrat zuerkennt und das Nicht-Ich (wird gemeint: die äusseren Dinge) aus dem Ich ableitet. Diese nennt Hamilton -Idealismus. 2) Diejenige, welche umgekehrt das Nicht-Ich (die äussere Welt) für allein ursprünglich existirend hält und das Ich aus demselben ableitet. Das ist der Materialismus. 3) Diejenige, welche einen ursprünglichen Gegensatz von Ich und Nicht-Ich nicht zugibt, sondern beide für »phänomenale Modificationen« einer gemeinsamen Substanz
_________
*) Es wird hier stillschweigend vorausgesetzt , dass der Begriff der Substanz (z. B. der körperlichen Substanz) identisch ist mit dem Begriffe des „Dinges an sich" oder des „Noumenon". In der That vermögen aber nur Wenige diesen Gedanken festzuhalten; den Meisten scheinen immer wieder die Begriffe der Substanz und des „Dinges an sich" himmelweit von einander verschieden zu sein, obgleich niemand im Stande ist, zu sagen, worin der Unterschied dieser Begriffe besteht. Einige Denker sind nieht einmal mit dieser Unterscheidung zufrieden, sondern bei ihnen er-weist sich das „Ding an sich" wiederum als von dem „Absoluten" verschieden. Da dies in Wirklichkeit überall ein und derselbe Begriff ist, so kann man sich denken , welche Masse von Missverständnissen aus diesen Unterscheidungen entsteht, wenn noch anderweit die Verwechselung einer Substanz mit einem realen Object überhaupt hinzukommt.


112 Erstes Buch. Viertes Kapitel.

hält. Das ist die Lehre der absoluten Identität, zu welcher sich Schelling, Hegel und Cousin bekannten.
Die Dualisten zerfallen ihrerseits in diejenigen, welche die Erkenntniss des Ich und der äusseren Welt für eine intuitive halten, für eine unmittelbare Wahrnehmung beider und ihres Unterschiedes, und diejenigen, welche eine unmittelbare Erkenntniss nur von dem, was im Subjecte selbst liegt, zulassen. Die Ersteren nannte Hamilton -- Natürliche Dualisten und theilte selbst ihre Ansicht, wiewohl freilich nicht ohne sich selber darin vielfach zu widersprechen. Die Anderen nannte er Hypothetische Dualisten oder auch Kosmothetische Idealisten.
Die Letzteren unterscheiden sich wiederum durch die Art, wie sie das Zustandekommen jener mittelbaren Erkenntniss der äusseren Welt erklären. Einige unter den Alten z. B. glaubten, dass von den Gegenständen sich Bilder ablösen und, überall herumflatternd, in das Subject gelangen, welches dann mittelst derselben die Gegenstände erkennt. Unter den Neueren glaubten Beid und Brown, dass mit dem Inhalte der Wahrnehmung ein ursprüngliches, angeborenes Gesetz des Geistes verbunden sei, das Dasein eines äusseren Gegenstandes als Ursache der Wahrnehmung zu glauben. Sie hielten dafür, dass es natürliche Zeichen oder Merkmale gebe in dem Sinne, dass, wenn ich z. B. eine Kugel in die Hand nehme, die dabei entstehenden Empfindungen der Glätte, der Härte u. s. w. mir unmittelbar, durch ein angeborenes Gesetz, das Dasein eines runden und harten äusseren Gegenstandes suggeriren, obgleich diese Empfindungen mit den Eigenschaften des äusseren Gegenstandes selbst keine Aehnlichkeit haben mögen. Nicht weit von dieser entfernt war die Ansicht Schopenhauers, nach welchem ein apriorischer Begriff der Causalität die Erkenntniss der äusseren Dinge, als Ursachen unserer Empfindungen, bewirke; nur glaubte Schopenhauer an das wirkliche Dasein dieser Ursachen nicht. Endlich meinen auch Einige, dass es kein solches angeborenes Gesetz


Die Erkenntniss der äusseren Welt. 113

und keinen angeborenen Glauben gebe, sondern dass wir auf bloss empirischem Wege, d. h. auf dem Wege der Induction aus den in uns gelegenen Daten der Wahrnehmung die richtige Erkenntniss der äusseren Welt erschliessen können.
Um Missverständnisse zu vermeiden und in die Frage einen klaren Einblick zu gewinnen, ist es vor allen Dingen nöthig, den wirklichen Thatbestand, das unmittelbar Gegebene und Gewisse rein von allen Zuthaten abzusondern und dafür zu sorgen, dass auch nicht von ferne irgend eine Erklärung einer Thatsache mit dieser Thatsache selbst verwechselt werde. In diesem Sinne sind für die Theorie unserer Erkenntniss der Körperwelt die folgenden Facta ganz maassgebend
1) Dasjenige, was wir als Körper erkennen, ist factisch nichts Anderes, als unsere eignen Empfindungen des Gesichts, des Gehörs, des Geruchs, des Tast - und Muskelsinns u. ähnl.
2) Die Körper sind ihrem Begriffe nach Substanzen, unbedingte Wesen.
3) Ein Nicht-Ich ist nicht gleichbedeutend mit einer äusseren Welt.
Eine wahre Theorie unserer Erkenntniss der Körperwelt ist ohne die Constatirung dieser drei Facta ebensowenig möglich, wie eine wahre Geometrie ohne die Aufstellung richtiger Definitionen. Wir müssen also die Erörterung derselben mit der möglichsten Gründlichkeit vornehmen, obgleich sie nur die Einleitung zu weiteren Untersuchungen bildet.
2. Dasjenige, was wir als Körper erkennen, ist nichts Anderes, als unsere Sinnesempfindungen.
Diese Thatsache, deren Constatirung dem Idealismus Berkeley's zu Grunde liegt, ist bis jetzt noch niemals wissenschaftlich begründet und darum meistens verkannt und missdeutet worden. Dieselbe kann aber bei näherer Betrachtung gar keinem Zweifel unterliegen. Denn sie ist eines experimentellen Beweises fähig und zwar eines doppelten, wie ich gleich zeigen werde.


114 Erstes Bach. Viertes Kapitel.

Den ersten experimentellen Beweis dafür bieten die Thatsachen des Traumes, der Hallucinationen und der Sinnestäuschungen überhaupt. In Träumen und Hallucinationen werden von uns Körper, welche nachweisbar nicht ausser uns existiren, mit derselben Lebhaftigkeit und IUeberzeugungskraft, wie im wachen und normalen Zustande wahrgenommen. Dies beweist augenscheinlich, dass dasjenige, was wir als Körper erkennen, unsere eignen Empfindungen sind. Um dieses klarer zu machen, führe ich den einfachsten Fall einer Sinnestäuschung an.
Wenn ich einen naheliegenden Gegenstand nicht scharf genug mit dem Blick fixire, so sehe ich ihn doppelt. Was bedeutet dies? Offenbar bedeutet es, dass dasjenige, was ich sehe, und zwar als etwas im Raume sehe, nicht ein wirklicher (einzelner) äusserer Gegenstand, sondern mein eigner (doppelter) Gesichtseindruck selbst ist. Desgleichen wenn ich mit gekreuzten Fingern eine kleine Kugel berühre, so fühle ich zwei Kugeln unter den Fingern. Auch hier ist es klar, dass dasjenige, was ich als zwei Kugeln wahrnehme, mein eigner doppelter Tasteindruck ist. »Bei Sinnestäuschungen ist dies wohl der Falle, wird man vielleicht sagen, »aber wir berichtigen dieselben durch unsere anderen Erfahrungen«. Allein woraus bestehen denn alle unsere Erfahrungen, auch diejenigen, durch welche wir die Sinnestäuschungen, berichtigen, wenn nicht aus denselben Elementen, aus welchen auch die Sinnestäuschungen bestehen] d. h. aus Sinneseindrücken? So erkenne ich in dem ersteren der angeführten Fälle, dass der von mir doppelt gesehene Gegenstand nicht in der That doppelt ist, daraus, dass ich bei Betastung mit der Hand ihn als einfach fühle, dass die Tastempfindungen in dem betreffenden Fall mit der Vorstellung eines einfachen, nicht mit der eines doppelten Gegenstandes übereinstimmen. So erkenne ich auch in dem zweiten angeführten Falle, dass die von mir mit gekreuzten Fingern doppelt gefühlte Kugel in der That nicht doppelt ist, daraus, dass ich nicht zwei, son-


Die Erkenntniss der äusseren Welt. 115

dern nur eine Kugel unter meinen Fingern sehe. Dieselbe erscheint auch für das Tastgefühl nicht doppelt, wenn ich sie nicht mit gekreuzten Fingern berühre. Die normal wahrgenommenen Körper, nach welchen wir unsere Sinnestäuschungen berichtigen, bestehen hier offenbar aus genau demselben Material, aus welchem auch die berichtigten Sinnestäuschungen bestehen. Sinnestäuschungen durch normale Erfahrungen berichtigen heisst: Wahrnehmungen, welche unter ausnahmsweisen, nicht in den Context einer allgemeinen Erfahrung gehörenden Umständen gemacht worden und darum nicht für alle Sinne und für alle Menschen gültig sind, durch diejenigen Wahrnehmungen berichtigen, welche für alle Sinne und alle Menschen auf übereinstimmende Weise als 'äussere Objecte erscheinen.
Obgleich also zwischen den Hallucinationen und Sinnestäuschungen einerseits und den normalen, richtigen Wahrnehmungen andrerseits ein wirklicher und wesentlicher Unterschied besteht,*) so ist doch dasjenige, was wir als Körper wahrnehmen, in beiden Fällen factisch dasselbe, nämlich unsere eignen Sinneseindrücke, unsere eignen Empfindungen. Dies ist eine Thatsache und unterliegt keinem Zweifel, mögen_ unsere Erklärungen derselben sein, welche sie wollen. Aber der angeführte experimentelle Beweis derselben ist nicht der einzige, es gibt noch einen anderen Beweis dafür, welcher physiologischer Natur ist.
Die Physiologie lehrt, dass alle Wahrnehmung erst im Gehirn zu Stande kommt und mit äusseren, d. h. in diesem Fall, ausser unserem Leib liegenden Gegenständen durch viele Zwischenvorgänge vermittelt wird. IN enn wir z. B. einen Gegenstand betrachten, so entstehen auf der Netzhaut unserer Augen verkehrte Bilder desselben. Aber diese Bilder existiren nicht für uns selbst, sie existiren nur für einen Zuschauer, der durch eine geeignete Vorrichtung unsere Netzhaut von
_______
*) Diesen Unterschied werde ich weiter unten zu beleuchten suchen.


116 Erstes Buch. Viertes Kapitel.

Aussen sehen kann. Mit unserer eignen Wahrnehmung ist die Oberfläche der Netzhaut, auf welcher jene Bilder entstehen, erst durch den Sehnerv vermittelt und also durch die ganze Länge des Nervenstrangs von ihr getrennt. Was zu unserer Wahrnehmung gelangen kann, ist weder ein äusserer Gegenstand selbst, noch ein Bild desselben, noch irgend eine andere directe Einwirkung desselben, sondern nur die Affectionen des Sehnerven selbst, welche durch dessen eigne Natur wesentlich bedingt sind. Aber worin diese Affectionen bestehen, was in dem Nerven vorgeht, wenn er durch Lichtstrahlen gereizt wird, davon wissen wir nichts, und wenn man je davon etwas wird erfahren können, so wird es auf dem Wege der äusseren, nicht auf dem der inneren Beobachtung erreicht werden. Denn das dürfen wir mit Zuversicht behaupten, dass nie ein Mensch die inneren Affectionen seiner eignen Nerven und seines Gehirns wird wahrnehmen und beobachten können, er müsste denn mit einem übernatürlichen Hellsehen begabt sein, wie es den Somnambülen und den spiritistischen Mediums zugeschrieben wird, wovon aber in der Wissenschaft nicht die Rede sein kann.
Nun betrachten wir diesem gegenüber die Thatsachen der Wahrnehmung und da zeigt sich Folgendes. Die ausser unserem Leibe liegenden Körper sehen wir unmittelbar selbst und sehen nichts ausserdem. Da steht mein Schreibzeug vor meinen Augen. Von demselben gehen, sagt man, Lichtwellen, Aetheroscillationen aus, so viele Billionen in der Secunde; diese Oscillationen pflanzen sich durch die Hornhaut, die Linse und die Flüssigkeiten meines Auges bis zur Netzhaut hindurch, reizen diese Oberfläche des Sehnerven und versetzen dadurch auch die Moleküle des letzteren in eine vibrirende oder irgend andere Bewegung, durch welche unsere Wahrnehmung zu Stande kommt. Ganz wohl, aber in dem Anblick des Gegenstandes finde ich von allem diesen keine Spur, ich sehe bloss das Schreibzeug selbst und nichts ausserdem. Man frage ein Kind, einen Bauer, eine Frau aus dem, Volke,


Die Erkenntniss der äusseren Welt. 117

ob sie etwas von Lichtwellen, von Bildern auf der Retina, von Molecularbewegungen der Sehnerven und des Gehirns wissen? Sie wissen nichts von Alledem, sehen aber die Körper selbst ebensogut oder noch besser als der gelehrteste Physiologe. Hier ist also mit Händen zu greifen, dass dasjenige, was wir als Körper sehen, unsere eignen Gesichtseindrücke sind.
Was eben für den Gesichtssinn gezeigt worden ist, kann auf gleiche Weise auch für den Tastsinn gezeigt werden. Zu diesem Behuf bitte ich das folgende einfache Experiment an-zustellen. Man fahre mit der Spitze seiner Zunge über die Oberfläche des Gaumens nach verschiedenen Riehtungen hin. Dadurch gewinnt man ein deutliches Bild von der ganzen Configuration der Gaumenoberfläche, gerade so als ob man -sie mit Augen sähe, nur die Farbe abgerechnet. Man fühlt die Festigkeit, die Glätte, alle die kleinsten Unebenheiten, sowie die grösseren Vorsprünge und Vertiefungen dieser Oberfläche, kurz die letztere wird dadurch unmittelbar wahrge-nommen. Woraus besteht nun diese Wahrnehmung? Offenbar aus unseren eignen (durch die Zunge vermittelten) Tasteindrücken, nicht allein, weil darin factisch nichts Anderes enthalten ist, sondern weil 'auch nachweisbar nichts Anderes darin angetroffen werden kann , wie es die folgende einfache Reflexion zeigt.
Das Organ zur Wahrnehmung (Betastung) des Gaumens ist die Zunge. Die Einwirkung des Gaumens auf mein Bewusstsein muss, um zu diesem zu gelangen, ihren Weg durch die Zunge nehmen. Denn solange ich den Gaumen nicht mit der Zunge berühre, nehme ich auch nichts von ihm wahr. Man frage sich nun, ob wir von dem, was dabei in der Zunge selbst vorgeht, irgend etwas bemerken? Offenbar nicht. Nicht allein ist es nicht möglich, die Molecularbewegungen zu sehen oder zu fühlen, welche in den die Zunge durchstreifenden Nerven vor sich gehen und die eigentlichen Vermittler der Wahrnehmung sind, sondern wir sehen auch, dass bei der Berührung der Zungenspitze mit anderen Gegenständen, uns



118 Erstes Buch. Viertes Kapitel.

die erstere gar nicht selbst zum Bewusstsein kommt, sondern die berührten Gegenstände, sei es der Gaumen, die Kiefern,, die Zähne oder was sie sonst noch in der Mundhöhle erreichen kann, allein uns unmittelbar gegenwärtig macht. Darin kann man die Zungenspitze mit einem durchsichtigen Glase vergleichen, welches um so weniger selbst bemerkbar ist, je klarer es andere Gegenstände durchscheinen lässt. Hier ist es folglich ebenso offenbar, wie bei dem Vorgang des Sehens, dass unsere Wahrnehmung. dieser Gegenstände gar nichts Anderes enthalten kann, als unsere eigenen Tast- und Bewegungsempfindungen.
Wenn man einen Physiologen fragt: Warum die Zunge zur Wahrnehmung anderer Gegenstände besonders geeignet ist, so wird er antworten: Weil dieselbe sehr biegsam, beweglich und an ihrer Spitze zahlreich mit Enden von Tast-nerven besetzt ist. Da wir aber von der Zunge selbst und diesen ihren Eigenschäften bei der Wahrnehmung andererGegenstände nichts unmittelbar merken, so muss man jene physiologische Erklärung erst - ins Psychologische übersetzen, um ihren wirklichen Sinn zu fassen. Die Beweglichkeit der Zunge und ihr Reichthum an Tastnerven bedeutet nun, psychologisch genommen, Reichhaltigkeit von Tast- und Bewegungsempfindungen, welche feinere Unterscheidung und mannigfaltigere Associationen derselben möglich macht. Darum sind diese Empfindungen mehr als andere geeignet, als Dinge im Raume vorgestellt, gleichsam in die Sprache der Körperwelt übersetzt zu werden, wie ich es in dem Kapitel des
Bandes Bandes über die Wahrnehmung der Körper näher zeigen werde.
Wir wollen noch den Beweis, der bis jetzt im Einzelnen geführt worden ist, in seiner allgemeinen Fassung uns vergegenwärtigen. Zu diesem Behuf müssen Wir die Thatsachen der Wahrnehmung und die Lehren der Physiologie im Allgemeinen einander gegenüberstellen.
Die Physiologie lehrt, dass alle Wahrnehmung durch die


Die Erkenntniss der äusseren Welt. 119

Sinnesorgane vermittelt wird, und dass jedes Sinnesorgan nur einer specifischen, ihm allein eignen Erregung fähig ist, welche stets dieselbe ist, mögen die auf das Organ einwirkenden Gegenstände noch so verschieden sein. Der Sehnerv z. B. gibt nur Licht-. und Farbenempfindungen , ob er gezwickt oder gestossen, durch Lichtwellen oder durch Electricität afficirt wird. Der Gehörnerv gibt gleichfalls nur Schallempfindungen bei jeder Einwirkung und so auch die übrigen. Die verschiedensten Reize, auf dasselbe Sinnesorgan wirkend, ergeben stets gleiche Eindrücke, und umgekehrt, bringt derselbe Reiz, z. B. die Electricität, auf verschiedene Sinnesorgane wirkend, verschiedene Eindrücke hervor, nämlich in jedem Sinnesorgan die ihm eigenthümlichen. Die Physiologie lehrt also, dass unsere Empfindungen von wirklichen äusseren Dingen ganz getrennt, diesen total unähnlich und mit ihnen durchaus incommensurabel sind.
Die Facta der Wahrnehmung dagegen bezeugen, dass wir die äusseren Gegenstände unmittelbar selbst percipiren, die Körper unserer Erfahrung selbst sehen und betasten, riechen und schmecken, mit denselben direct verkehren und von irgend welchen vermittelnden Vorgängen der Wahrnehmung nichts wissen. Daraus ergibt sich mit Evidenz die Thatsache, dass dasjenige, was wir als Körper erkennen, nichts Anderes als unsere eignen Sinnesempfindungen sind.
Wenn ein Realist diese Thatsache mit seiner Ansicht unvereinbar finden und sich infolge dessen gegen die Evidenz derselben verschliessen sollte, so werde ich ihm Folgendes bemerken. Die oben constatirte Thatsache steht fest, gleichviel ob es wirkliche Dinge ausser uns gibt oder nicht. Die Frage nach der Existenz von Dingen ausser uns brauchte daher bei den obigen Untersuchungen gar nicht berührt zu werden. Denn für die Erkenntnisslehre ist es vollkommen gleichgültig, ob unsere Empfindungen durch eine Vielheit äusserer Dinge oder durch irgend einen anderen Grund bewirkt werden, sobald sie die Thatsache constatirt hat, dass.


120 Erstes Buch. Viertes Kapitel.

unsere Empfindungen selbst dasjenige sind, was wir als Körper erkennen, weil an dieser rein inneren Thatsache äussere Gründe oder Ursachen keinen Antheil haben können. Wenn es wirkliche Dinge ausser uns gibt, so sind eben dieselben etwas von den Körpern durchaus Verschiedenes, die wir sehen und greifen, die wir factisch erkennen. Wirkliche äussere Dinge können nie in den Bereich unserer Erfahrung kommen und mithin auch zu keiner Erklärung der Thatsachen derselben verwendet werden. Die Frage darnach, ob es solche Dinge gibt und ob sie die Ursachen unserer Empfindungen sind, ist eine metaphysische und weder für die Erkenntnisslehre noch für die Naturwissenschaft von irgend einem Belang. Man möge daher, wo es sich, wie hier, um die Erforschung und das Verständniss factischer Verhältnisse handelt, auf dem Boden der Thatsachen stehen bleiben und sich nicht die Unbefangenheit der Betrachtung durch Vorwegnahme metaphysischer Conclusionen benehmen. Denn sonst würde man ja mit offenen Augen dem Irrthum entgegengehen.*)

3. Die Körper sind ihrem Begriffe nach, unbedingt.

Diese Thatsache ist für die Erkenntnisslehre von der höchsten Wichtigkeit und die Verkennung derselben einer der hauptsächlichsten Gründe der auf erkenntnisstheoretischem Gebiete herrschenden Verwirrung.
Den Begriff des Unbedingten werde ich in dem nächstfolgendenzweiten Buch ausführlich erörtern; hier genügt es zu bemerken, dass ich unter einem unbedingten Gegenstand
_________
*) Es wird gewiss Leser geben, welche selbst die Thatsache, dass wir unsere eignen Sinnesempfindungen als Körper erkennen, nicht capiren und durch die angeführten experimentellen Beweise derselben nicht überzeugt werden. Solche Leser sind nun - das muss ich entschieden erklären - durchaus nicht fähig , den weiteren Auseinandersetzungen in diesem Werke mit irgend einem Nutzen und Erfolg nachzugehen. Sie werden also am besten thun, das Werk nicht weiter zu lesen.



Die Erkenntniss der äusseren Welt. 121

einen solchen verstehe, der seinem Dasein und also auch seinem Wesen . nach von keinem anderen Gegenstand abhängt, an keinen innerlich gebunden ist. Ihrem Begriffe nach sind nun die Körper in diesem Sinne unbedingt.
Weil man aber den Thatbestand in diesem Punkte gründlich verkannt, so hat man auch kein Bedenken getragen, eine dreifache Abhängigkeit der Körper anzunehmen, nämlich
1) Entweder die Abhängigkeit derselben von einer ausserweltlichen Ursache, oder 2) die Abhängigkeit derselben von dem erkennenden Subject, oder 3) die Abhängigkeit derselben von einander, d. h. eine innere Verbindung derselben unter einander. Ich werde nun zeigen, dass alle diese Annahmen dem Begriffe der Körper widersprechen.
Die erste unter den drei angeführten Annahmen findet sich nur bei den Theologen oder überhaupt den theologisch denkenden Leuten. Von allen Menschen, welche nicht in theologischen Voraussetzungen befangen sind, wird es gegenwärtig zugegeben, dass in dem Begriffe der materiellen Welt kein Merkmal eines abgeleiteten Ursprungs liegt. Der scholastische Schluss von der vorausgesetzten Zufälligkeit der körperlichen Dinge auf eine Ursache derselben ist ganz unhaltbar. Denn, wie Kant richtig bemerkt hat, es gibt kein anderes Merkmal der Zufälligkeit eines Dinges, als ein Dasein desselben, vor welchem dessen Nichtsein vorhergegangen ist, und es kann nirgends, weder in der Erfahrung noch in der -Speculation ein Grund aufgetrieben werden, welcher uns auf ein vorhergegangenes Nichtsein der materiellen Welt zu schliessen berechtigte.
Doch brauchen wir zur Entscheidung dieser Frage uns gar nicht auf das Gebiet metaphysischer Speculationen zu begeben. Nachdem die Thatsache constatirt worden ist, dass dasjenige, was wir als Körper erkennen, unsere eigenen Empfindungen sind, wird es unmittelbar klar, dass der Sinn dieser Erkenntniss eben der ist, die gegebenen Gegenstände als unbedingt aufzufassen. Indem ich z. B. meine eigne Empfindung


122 Erstes Buch. Viertes Kapitel.

der Farbe als Eigenschaft eines Dinges im Raume wahrnehme, lege ich  derselben in Gedanken damit einen Träger, ein Substrat unter, welches ihr unabhängiges Dasein stützt und begründet. Welchen Sinn hätte es denn, diesem gedachten Träger wiederum einen weiteren Träger unterzulegen, der ihn seinerseits stützen und begründen soll? Nicht mehr Sinn hat es, als die bekannte Cosmologie der Inder, welcher zufolge die Erde von einem Elephanten und dieser wiederum selbst von einer Schildkröte getragen wird, welche letztere dann, man weiss nicht mehr auf welcher Unterlage ruht.' Wie es den Menschen früher schwer schien zu begreifen, dass ein Himmelskörper im Raume ohne Unterstützung bestehen kann, infolge der Gewohnheit alle nichtunterstützten Körper auf die Erde fallen zu sehen, so wird es noch gegenwärtig Vielen schwerzu begreifen, dass ein Körper überhaupt seinem Begriffe nach keiner weiteren Stütze und Begründung seines Daseins bedarf Das ist eine Folge altgewohnter Ideenassociationen. Allein mag man seine metaphysischen Ansichten gestalten, wie man will, Thatsache ist es, dass unsere Erfahrung der Körper, also, auch der Begriff derselben, wie er in deren erfahrungsmässigen Erkenntniss implicirt ist, nichts von einer Stütze oder einer Ursache der Körper enthält, und eben diese Thatsache müssen wir constatiren.
Dass ferner die Körper :ihrem Begriffe nach auch von dem ;erkennenden Subjecte unabhängig existiren, ist etwas, das selbst dem nichtreflectirenden Menschen einleuchtet, ja diesem sogar besser, als dem reflectirenden. Der nichtreflectirende Mensch ist am stärksten und vollsten davon überzeugt, dass ein Körper, um zu existiren, nicht von irgend einem Menschen oder Thiere gesehen oder sonstwie wahrgenommen zu werden braucht. Man frage einen Bauer, ob sein Acker auch dann in der Wirklichkeit bestehen bleibt, wenn kein Mensch und kein Thier sich daneben befindet, so wird er den Fragenden für verrückt halten. Denn er begreift nicht die Möglichkeit bei gesunden Sinnen daran zu zweifeln.


Die Erkenntniss der äusseren Welt.
123

Und was nun gar den grossen Erdball selbst und die unermessliche Schaar gewaltiger Himmelskörper betrifft, bei deren Vorstellung den Menschen das Bewusstsein seiner eignen Klein heit und Unbedeutendheit überfällt, so zweifelt kein natürlicher Mensch daran, dass dieselben unabhängig von allen erkennenden Subjecten existiren,
ja unermessliche Zeiträume hindurch existirt haben, ehe irgend ein lebendes und wahrnehmendes Wesen in der Welt zu athmen anfing. Es zweifeln daran nur einige Philosophen, welche mit mehr oder weniger Klarheit eingesehen haben, dass dasjenige, was wir als Körper erkennen, unsere eignen Empfindungen sind. Aber diese Philosophen dürften es eben nicht verkennen, dass der Begriff der Körper und deren Inhalt zwei verschiedene Dinge sind. Das factische Material, der gegebene Inhalt, den wir als eine Körperwelt erkennen, existirt allerdings nicht unabhängig von den wahrnehmenden Subjecten, besteht vielmehr aus deren eignen Empfindungen; aber indem wir diesen Inhalt als eine Welt von Körpern erkennen, erkennen wir ihn eben als etwas von aller Wahrnehmung und Erfahrung lebender Subjecte Unabhängiges. Diese Unabhängigkeit des Daseins liegt in dem Begriffe der Körper selbst. So lange man dies nicht einsieht, ist ein Verständniss zwischen dem gewöhnlichen und dem philosophischen Bewusstsein und eine Erklärung des ersteren durch das letztere nicht möglich.
Zuletzt müssen wir zeigen, dass die Körper ihrem Begriffe nach auch von einander unabhängig existiren. Der Ausdruck und die Gewähr dieser Unabhängigkeit ist eben der die Körper von einander trennende Raum. Die Erfahrung zeigt uns zwar die Dinge im Raume als durch gemeinsame Gesetze unter einander verbunden; aber diese Verbindung ist so weit entfernt, zu ihrem Wesen und Begriffe nothwendig zu. gehören, dass sie vielmehr demselben direct widerspricht. Das Gefühl eben dieses Widerspruchs hat bei vielen früheren Denkern das hartnäckige Verwerfen aller actio in distans veranlasst. Jetzt, wo wir mit dieser durch die Erfahrung



124 Erstes Buch. Viertes Kapitel.

vertraut geworden sind, bedarf es, wie Lange (Geschichte des Materialismus, 1. Aufl., 360) bemerkt hat, »einer besonderen Besinnung, um das Widersinnige in der Annahme zu empfinden, dass die Erde ihre Bewegungsform ändert, wenn ein anderer Himmelskörper seine Lage im Raume wechselt, ohne dass zwischen den beiden Körpern ein materielles Band waltet, welches diese Bewegungsveränderung vermittelt.« Und in der That, was durch den Raum von einander getrennt ist, das ist schlechthin getrennt. Das Dasein eines Dinges an einem Orte des Raumes implicirt nicht das Dasein anderer
Dinge an anderen Orten desselben. Wir können sehr gut alle anderen Dinge in Gedanken aufheben und das betreffende Ding als allein existirend denken. Diese Annahme enthält sicherlich keinen Widerspruch und keine Unmöglichkeit. Niemand wird behaupten wollen, dass die Cohäsion und die Gravitation der körperlichen Atome für deren Dasein selbst unentbehrlich seien. Wären aber diese aufgehoben, so könnte leicht ein körperliches Atom von allen anderen sich so weit entfernen, dass es ausser aller Beziehung mit denselben käme, und dann würde es offenbar werden, dass deren Dasein oder Nichtsein für dasselbe vollkommen gleichgültig ist. Einen bündigen Beweis dafür, dass eine innere Verbindung unter den Körpern nicht denkbar ist, werde ich übrigens noch im z. Bande, bei der Betrachtung der wissenschaftlichen Theorien der Körper führen.*)

Es steht also ausser Zweifel, dass die Körper ihrem Begriffe nach unbedingt sind, dass wir einem Gegenstand, den wir als einen Körper erkennen, eben dadurch unbedingtes Dasein und unbedingte Wesenheit zuschreiben. Man darf ja nicht glauben, dass weil unsere reflectirten, philosophischen Ansichten über die Natur der Körper verschieden sind
________
*) Ich bitte den Leser sich die Stellen, wo ich auf spätere Beweise mich berufe, genau zu notiren, um sich vergewissern zu können, dass nirgends eine Lücke in der Beweisführung vorliegt.



Die Erkenntniss der äusseren Welt.
125

und wechseln können , auch der Begriff der Körper selbst, wie er in unserer Wahrnehmung derselben implicirt ist, verschieden sein oder wechseln könne. Dieser Begriff ist vielmehr von unseren mannichfaltigen und wechselnden Meinungen ebenso unabhängig wie irgend ein äusserer Gegenstand.

4. Ein Nicht-Ich ist nicht gleichbedeutend mit einer äusseren Welt.

Da wir von Anfang unseres Lebens an gewöhnt sind, unsere Empfindungen von Farben, Tönen, Gerüchen u. ähnl. als eine Welt äusserer Gegenstände zu erkennen, so bildet sich bei uns, infolge der Association zwischen diesen Empfindungen und dem Gedanken einer äusseren Welt, der Hang und die Gewohnheit zu glauben, dass Alles, was uns fremd ist, was nicht zu unserem eignen, subjectiven, individuellen Wesen, zu unserem Ich gehört, ein äusserer Gegenstand sei oder mit solchen Gegenständen in directer Beziehung stehe. Für das Leben und die gewöhnliche, erfahrungsmässige Erkenntniss hat nun dieser Glaube allerdings . nichts Irreführendes, da er mit den Gesetzen und Bedingungen derselben in Einklang steht. Aber für die Theorie der Erkenntniss ist es unerlässlich, auch hier den Thatbestand selbst, das Gegebene in seiner Reinheit, losgelöst von allen Associationen und Erklärungen darzulegen.

Reine Thatsache ist nun bloss dieses, dass wir in unseren Empfindungen der Farben und Töne, des Geruchs und des Geschmacks, in unseren Tast- und Muskelgefühlen u. ähnl., soweit dieselben nicht von Lust oder Unlust begleitet sind, gar nichts von uns selbst, von den Eigenschaften oder den inneren Zuständen unserer eignen Persönlichkeit erfahren, sondern eine von uns selbst verschiedene Welt äusserer Gegenstände erkennen. Dies beweist aber factisch, dass die besagten Empfindungen unserem subjectiven Wesen fremd sind, nicht zu unserem Ich gehören, mithin als "ein wahres Nicht-



126 Erstes Buch. Viertes Kapitel.

Ich betrachtet werden müssen. Man kann darüber streiten, ob diese Empfindungen von wirklichen äusseren Gegenständen herrühren oder nicht, aber dieser Streit bewegt sich auf metaphysischem Gebiete und hat keinen Einfluss auf die Constatirung der Thatsache, dass die Empfindungen, deren Inhalt wir als eine Aussenwelt erkennen, unserem subjectiven Wesen fremd sind. Gesetzt, unsere Empfindungen seien, wie man es gewöhnlich annimmt, durch äussere Dinge bewirkt, so sind diese nicht die Körper unserer Erfahrung, - denn letztere sind, wie oben bewiesen worden, selbst nichts Anderes als Empfindungen - es sind Dinge, welche ausserhalb aller Erfahrung liegen und die Thatsachen derselben mithin nicht alteriren. Ueber das Dasein und das Verhalten solcher Dinge zu entscheiden, ist darum Sache der Metaphysik, nicht der Erkenntnisslehre. Gesetzt umgekehrt, auch die Empfindungen der Farben, Töne und dergleichen, in welchen wir eine äussere Welt erkennen, stammen, wie einige philosophische Denker behauptet haben, selbst aus dem- eignen Fond und Wesen des Ich, so ist dieses letztere nicht das Ich unserer Erfahrung, nicht der Complex gegebener Erscheinungen, den wir verstehen, wenn wir von uns selbst, von unserem eignen Ich reden. Von unserem empirischen Ich steht fest, dass dasselbe weder farbig noch tönend, weder hart noch weich, weder süss noch sauer ist, kurz dass ihm der Inhalt aller objectiven Sinnesempfindungen fremd ist, obgleich dieselben nicht ausserhalb der individuellen erkennenden Subjecte auftreten. Ob unser Ich jenseit der Erfahrung einen mit dem Inhalt dieser Empfindungen gemeinsamen Ursprung habe oder nicht, dies zu entscheiden ist Sache der Metaphysik, nicht der Erkenntnisslehre. Letztere hat die Aufgabe, unbekümmert um alle metaphysische Voraussetzungen, die Thatsache zu constatiren, dass der Inhalt der Sinnesempfindungen unserem Ich fremd ist, was dadurch factisch bewiesen wird, dass wir in diesem Inhalt nichts von uns selbst erkennen können.

Dagegen hat die Erkenntnisslehre die Frage zu beant-



Die Erkenntniss der äusseren Welt.
127
Worten , ob wir den Inhalt unserer Sinnesempfindungen von Anfang an als etwas uns Fremdes erkennen oder erst im Verlaufe der Erfahrung dahin gelangen, denselben von unserer eignen Individualität, von unserem Ich zu unterscheiden ? Diese Frage werde ich in einem besonderen Kapitel des z. Bandes zu beantworten suchen, hier muss ich mich mit der Bemerkung begnügen, dass die obige Unterscheidung nothwendig von Anfang an in uns vollzogen gewesen sein muss, weil der Unterschied des uns Eignen von dem uns Fremden aus keiner Erfahrung geschöpft sein kann. Wenn wir die Sinnesempfindungen ursprünglich in derselben Weise wie die Gefühle der Lust und Unlust als' unsere eignen Zustände erkannt , wenn wir uns ursprünglich selbst als farbig und tönend, als warm oder kalt, als süss oder sauer gefühlt hätten , in derselben Weise, wie wir uns selbst als freudig oder betrübt fühlen, so würde es uns durchaus nicht möglich sein, in unserer Erfahrung auf irgend einen Grund zu stossen, der uns veranlassen könnte, die Sinnesempfindungen von uns selbst zu unterscheiden und als eine Welt äusserer Gegenstände zu erkennen. Dieselben würden uns dann vielmehr als ein integrirender Bestandtheil unserer selbst erscheinen.

Einstweilen dürfen wir also die folgenden Punkte als feststehend betrachten:

1) Ein Nicht-Ich ist nicht gleichbedeutend mit einem äusseren Gegenstand. Wir haben es vielmehr als Thatsache constatirt, 'dass in uns selbst ein Inhalt angetroffen wird, der unserem subjectiven Wesen, unserem Ich fremd ist, also ein wirkliches Nicht-Ich repräsentirt, ohne dass wir behaupten dürften, derselbe sei von Aussen in uns hereingekommen. Wäre das Ich, das erkennende Subject etwas von aller Ewigkeit her Existirendes, dann würde es allerdings schwer sein, zu begreifen, wie im Subjecte etwas ihm an sich Fremdes sich einfinden könnte, ohne von Aussen hereingekommen zu sein. Aber unser Ich ist, wie wir wissen, entstanden; es konnte also sehr wohl aus irgend einem Grunde sich in sein



128 Erstes Buch. Viertes Kapitel.
Wesen etwas ihm Fremdes einmischen und sein Leben lang mit ihm zusammenbestehen, ja vielleicht eine unumgängliche Bedingung seiner Existenz sein und dennoch selbst keine gegenwärtigen äusseren Ursachen oder Gründe voraussetzen. Jedenfalls ist es, wie gezeigt worden, nicht Sache der Erkenntnisslehre, in letzter Instanz zu ermitteln, woher und wie dieser uns fremde Inhalt sich in uns einfindet.

2) Ein solches Nicht-Ich ist der Inhalt sämmtlicher Empfindungen, die wir durch die Sinne des Gesichts, des Gehörs, des Geschmacks u. ähnl. empfangen, da wir in diesem Inhalt nichts von uns selbst zu erkennen vermögen. Diese nennen wir daher die objectiven Empfindungen, im Unterschiede von den Gefühlen der Lust und Unlust, welche ihrer Natur nach rein subjectiv sind.

3) Das Subject muss in sich selber die ursprüngliche Fähigkeit oder Disposition trgen, das ihm Eigene und das ihm Fremde in sich zu unterscheiden, weil diese Unterscheidung nie aus Erfahrung gewonnen werden kann.
Somit sind die factischen Grundlagen für eine rationelle; richtige Theorie der Körpererkenntniss, wie ich glaube, hinreichend ins Licht gesetzt, und wir können zur Prüfung einiger früher aufgestellten Theorien übergehen, die den Zweck hat, das Denkgesetz durchblicken zu lassen, welches unserer Erkenntniss der Körper zu Grunde liegt.